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Savinsky kam vor sechs Uhr heim. Er war müde und traurig. Er ließ sich Tee bringen, streckte sich auf dem Divan aus und gab sich regungslos seinen Gedanken hin. Sie führten ihn in eine Welt, in der die Luft schwer und schwerer wurde, so daß die geringste Bewegung schon schmerzende Qualen begleitete; man war von einem unausgesetzten Angstgefühl bedrückt, es lastete wie ein körperlicher Schmerz auf der Brust, es gab kein Entrinnen vor dem Unbekannten, das von allen Seiten eindrang – es war tausendmal schlimmer, als einer wirklichen Gefahr, wie groß sie auch sein mochte, offen zu begegnen. Man hatte das quälende Gefühl, einer Katastrophe immer näher zu kommen; der enge Weg, den er schreiten mußte, war auf beiden Seiten von dichten, hohen Hecken begrenzt, die weder nach vorne, noch nach der Seite einen Ausblick ließen und die nach jedem Schritt, den er vorwärts tat, auch rückwärts zusammenwuchsen . . . Eine unwiderstehliche, verborgen drohende Kraft, zwang ihn täglich einen Schritt weiter auf diesem Pfad, täglich einen Schritt näher zu dem Abgrund, der sich am Ende öffnen mußte. – Der Gedanke an das unabänderliche Schicksal, das dunkel über ihm, wie über ganz Rußland hing, überwältigte heute Savinsky. Er hatte solche Augenblicke, in denen er zusammenbrach, in denen er ganz den Dämonen der Finsternis verfiel. Auch jetzt befand er sich in einer solchen Krise. Ein Besuch, den ihm Semeonow gemacht, hatte viel dazu beigetragen, ihn in diesen jämmerlichen Zustand zu versetzen. Er war gekommen, um mit Savinsky über dessen Unterredungen mit dem alten Lamshof zu sprechen, aber er hatte es verstanden, im Laufe des Gesprächs, als von der konterrevolutionären Armee am Don die Rede war, ganz unerwartet den Namen Spaßki fallen zu lassen und wörtlich zu sagen: »Wir wissen, daß er hier Helfer hat.« Er war übrigens gleich davon abgeschweift, aber der Hieb hatte gesessen und wie ein ins Wasser geschleuderter Stein immer größere Kreise zieht, so hatte sich in Savinsky die Anspielung Semeonows nach und nach tiefer eingegraben und schließlich an Stellen seines innersten Wesens gerührt, die bis dahin nicht erregt worden waren. – Von heut' auf morgen konnte er als Komplize der gegenrevolutionären Bestrebungen Spaßkis verhaftet werden! Sein Schicksal hing nur von einem Zufall, einem Verrat ab. Einen der Mitwisser brauchten nur einen Augenblick seine Nerven im Stich zu lassen und er verkaufte ihn den Bolschewiki, um sein eigenes Leben zu retten! Mit den Gebietern im Smolny war nicht zu spaßen! Die Wälle von Peter-Paul, die Gräben von Kronstadt und selbst der Hof der Präfektur in der Gorokhowaja wußten davon zu erzählen! Zum erstenmal seit langem waren wieder energische Männer an der Herrschaft. Würden die Leute vom Don, jene willenlosen Offiziere, jene streitenden Generäle sie denn je vertreiben können? Savinsky hatte in seiner augenblicklichen Stimmung nicht mehr die geringste Hoffnung. »Ja, aber,« sprach er zu sich, »dann bin ich doch verrückt, meine Freiheit und vielleicht sogar mein Leben für eine Sache zu wagen, die wohl sicher gerecht ist, aber an deren Mißlingen ich ebensowenig zweifle, wie an meiner Anwesenheit hier im Zimmer. – Daß man sich aufopfert, wenn man an einen Erfolg glaubt, das geht an, aber wenn man sicher ist, zu scheitern – das tun doch nur Besessene, Mystiker, Träumer! Bin ich ein Mystiker oder Träumer? Ich bin Geschäftsmann; warum habe ich mich in dieses Abenteuer eingelassen? Eigentlich, wenn ich die Wahrheit eingestehen will, nur, weil Spaßki ein lieber Bursch ist und ich ihn gut leiden kann; aber diese Sympathie kann mich teuer zu stehen kommen!« Und dabei fühlte Savinsky, daß er niemals die Kraft hätte, mit Spaßki zu brechen und diese Feststellung steigerte nur seine üble Laune. »Der Teufel soll ihn holen!« brummte er, sich erhebend.
Er nahm eine Zigarette und blickte auf die Uhr. Fast halb sieben. Warum telephonierte Lydia nicht? Lydia! Was war er ihr denn! Niemals würde sie mehr in ihm sehen, als den guten, alten Freund. Auch hier war keine Hoffnung . . . Er würde leiden und doch seine tragische Nebenrolle zu Ende spielen, zu Ende, bis sie am Arm irgendeines jungen Burschen davonginge. Und auch hier wußte er, daß er niemals den Wunsch und noch weniger die Kraft haben werde, sich von ihr zu trennen. Er sah die Leiden voraus, aber Leiden, die von Lydia kamen, waren ihm köstlicher, als alle Freuden, die andere ihm geben konnten. »Ach, all dies ist Unsinn und ich fasle nur,« seufzte er. »Aber so ist's halt und ich würde es gar nicht anders haben wollen.«
Die Bedienerin trat ein. Der Ersatz jenes Dieners, der es klüger gefunden hatte, Petersburg zu verlassen, war ein nicht mehr junges Weib mit gutmütigen, stillen Zügen. Savinsky hatte sich an Anjuschka gewöhnt und überließ sich gern ihrem fürsorglichen Eifer. Oft sprach sie mit ihm von seinen Kindern, die sie, ebenso wie seine Frau, nur von der Photographie kannte, die auf seinem Tisch stand. – Sie blickte auf ihren Herrn, der schlaff am Divan saß.
»Sie sind heute müde, Barin. Soll ich früher anrichten?«
Savinsky zuckte die Achseln.
»Wie Sie wollen, Anjuschka. Ich habe keinen Hunger.«
»Es ist nicht gut in diesen Zeiten, so allein zu leben, Barin,« sprach sie sanft. »Also ich bring' gleich das Essen. Das wird Ihnen wohl tun.«
Sie befühlte noch den Ofen.
»Sie werden heut' nicht kalt haben,« sagte sie und ging in ihrem behäbigen Schritt hinaus. –
In diesem Augenblick hörte Savinsky die Glocke der Wohnungstüre schwach ertönen. Seine Nerven waren schon so empfindlich, daß er bei dem Klang allein erzitterte. Was kam wohl wieder für ein Ärger? Er wollte noch rasch der alten Dienerin zurufen, daß er für niemand zu Hause sei, aber sie war wohl schon an der Türe. Es war zu spät. Mags kommen . . .
Er wartete ergeben, mit gesenktem Kopf. Ein Geräusch leichter Schritte im Vorzimmer, Knarren der Türe; er sah auf: Lydia stand vor ihm. –
Sie hatte ihren Pelz anbehalten. Sie hielt sich sehr steif, hatte den Kopf ein wenig nach rückwärts gelegt und blickte aus ihren blauen Augen unbeweglich auf Savinsky, der sie in solcher Erregung anstarrte, daß er gar nicht die Befangenheit merkte, die sie zu bekämpfen hatte. Früher als er, hatte sie sich wieder in der Gewalt und sprach ohne Zittern in der Stimme zu Savinsky, der sie noch immer wie eine Erscheinung regungslos, ungläubig anblickte:
»Nun, Nikolaus Wladimirowitsch, so empfangen Sie Ihre Gäste? Ist das eine Art, mich bei meinem ersten Besuch, den ich Ihnen mache, zu begrüßen?«
»Lydia Sergijewna, verzeihen Sie . . . ich weiß nicht, träume ich . . . ich war in schreckliche trübe Gedanken versunken – und Sie kommen« –
Er war aufgesprungen, hatte ihre beiden Hände ergriffen und stand ganz nahe bei ihr. Ein Duft von Jugend erfüllte jetzt das Zimmer, in dem er eben noch mit seinen düsteren Ahnungen allein gewesen. Alles Dunkle war verweht; Jugend, Kraft, Licht und Wärme waren zu ihm gekommen.
»Sie sind es wirklich,« sprach er weiter, »und hier bei mir! – Und ich lasse Sie da stehen, ich biete Ihnen nichts an, nicht einmal einen Stuhl . . . Aber ich hoffe, Sie bleiben eine Weile . . . Ich begleite Sie dann . . . Legen Sie doch ab, Lydia Sergijewna, Sie verkühlen sich sonst beim Fortgehen. – Wie Sie sehen, ist meine Wohnung ganz klein, aber warm ist's hier, wie in den allerbesten Zeiten des Zaren.«
Er half ihr aus dem Pelz und war überrascht, sie in großer Toilette zu sehen, wie er sie von den Abenden bei Natalie kannte.
»Sind Sie eingeladen? Gewiß bei unserer Nachbarin?«
Ein wenig verwirrt erwiderte Lydia, ohne daß sie wagte, ihn anzusehen: »Ich hatte gemeint, Nikolaus Wladimirowitsch, daß Sie mich heute einladen könnten, hier mit Ihnen zu speisen . . . Wenn es Ihnen nichts macht, natürlich. Vielleicht wollten Sie arbeiten? – Sagen Sie's ungeniert, ich gehe dann gleich wieder . . .«
Sie schien alles Selbstvertrauen verloren zu haben; ein ganz kleines Mädchen war wieder aus ihr geworden und Savinsky sah, wie rot sie wurde.
»Ach,« rief er, »welche Fee sind Sie, daß Sie mir ein solches Geschenk machen? – Und ob ich Sie einlade! – Was denken Sie bloß.«
Er verzehrte sich vor Verlangen, sie in seine Arme zu nehmen, um sie aufzurichten, um sie das Glück fühlen zu lassen, das sie ihm brachte. Aber die Verwirrung seiner Gedanken war so groß, daß er sich nicht zu rühren wagte. Er wußte nicht, was er tun, wie er sich verhalten solle. Unvermittelt trat er von ihr zurück.
»Ich muß meine alte Anjuschka vorbereiten. Es gibt ein gutes Diner, wie sie mir sagte.«
Er lief bis in die Küche. Als er zurückkehrte, fand er Lydia unverändert in ihrer Stellung, aber sie war jetzt schon vollkommen unbefangen und lächelte ihn an.
»Ihre Wohnung gefällt mir,« meinte sie.
»Ursprünglich wohnte hier die Prinzessin Dolly R . . .,« erzählte Savinsky, »ich glaube, sie war's, die diese alten Kretons so liebte, die so lebhafte Farben haben. Wie Sie wohl gesehen haben, grenzt das Haus an die Kaserne und meine unmittelbaren Nachbarn sind jene Paulisten, deren Regiment den übelsten Ruf von allen hat. Was sie eigentlich hindert, hier hereinzukommen, sich an meinen Tisch zu setzen oder sich in mein Bett zu legen, das weiß ich wirklich nicht! Ich finde es sehr liebenswürdig von ihnen, daß sie es bisher nicht taten, aber wenn sie einmal doch Lust bekämen, hier einzuziehen, könnte ich ihnen nur ohne Widerrede meine ganze Wohnung überlassen. Nicht einmal Semeonow hätte Macht über sie.«
Lydia hatte sich erhoben und ging im Zimmer umher. Sie musterte auch den Nebenraum, das Schlafzimmer Savinskys, das nur durch eine Portiere vom Wohnzimmer getrennt war. Ein breites Bett stand dort, das rechte Bett einer mondänen Frau, mit einem Überwurf von Spitzen und Seide.
Lydia kehrte zurück. Sie warf einen Blick auf den Schreibtisch, auf dem in goldenem Rahmen die Photographie Sonjas, von ihren Kindern umgeben, stand. Lange betrachtete sie das Bild.
»Ihre Frau ist schön.«
»Ja, kennen Sie sie denn nicht?« Savinsky war ganz erstaunt.
»Ich habe sie niemals gesehen. Ist es ein altes Bild? Ihre Frau sieht noch so jung aus.«
»Sonja? Wie alt mag sie sein? Zweiunddreißig Jahre, glaube ich. Sie hat mit achtzehn geheiratet.«
»Das ist mein Alter.« Ihre Stimme war wieder herb.
Einen Augenblick stand sie schweigend. Auch Savinsky sprach nicht. Wieder hatte er die Empfindung, daß sich etwas Geheimnisvolles zwischen ihn und sie geschoben habe, aber er verweilte nicht dabei, der Ursache nachzuforschen. Die Freude an Lydias Gegenwart verdrängte alle Gedanken und erfüllte ihn mit einem Rausch, der nichts anderes bestehen ließ. – Sie war da, überwältigend in ihrer strahlenden Jugend; schon die unmerklich schwingende Bewegung ihrer Hüften, wenn sie ging, die Art, wie sie ihre jugendliche Gestalt straffte und ihre noch schmächtigen Schultern einzog, das leise Atmen ihrer Brüste, das Öffnen und Schließen ihres Kindermundes, die strahlende Tiefe ihrer blauen Augen, dieses Blau eines orientalischen Himmels und vor allem die blonde Krone ihrer weichen goldenen Haare, die alles Licht, das auf sie fiel, in tausendfältigem Glanz zurückzustrahlen schien – das war ein Bild, von dem er sich nicht losreißen konnte. Es war nicht nötig zu sprechen. Wozu auch? Sie war hier, lebend, atmend, ihm so nahe! Was verlangte er noch mehr? –
Die alte Anjuschka trat ein. Sie blickte erstaunt auf ihren Herrn, der ihr Kommen nicht bemerkt hatte. Sie hatte doch eben einen müden Mann hier verlassen, fast einen Greis und jetzt sah sie einen starken, blühenden Menschen, dessen strahlende Miene, dessen glänzende Augen Seligkeit verrieten. Er schien um Jahre verjüngt. Ihre Stimme war voll zarter Güte, als sie jetzt sprach: »Barin, es ist aufgetragen.«
Bei Tisch rückte sie dem jungen Mädchen den Stuhl zurecht und erwies ihr durch kleine Aufmerksamkeiten eine besondere Ehrerbietung. Als Lydia ihr dankte, verneigte sie sich bis zum Boden. Nachdem sie die Suppe und die »Piroschky« gereicht hatte, ging sie hinaus.
»Ihre Dienerin ist sehr nett,« meinte Lydia.
»Ja, es ist ein gutes Weib. Sie ist voll Aufmerksamkeit für mich.«
»Ich glaube, ich werde sie sehr gern haben.« Lydia blickte träumerisch vor sich hin.
Savinsky fuhr zusammen. Hatte er recht gehört? Was wollte sie damit sagen? – Nachdem diese Worte gefallen waren, fühlte Savinsky, wie er mehr und mehr seine Beherrschung verlor. Nur noch für kurze Augenblicke vermochte er in Ruhe diese Lage zu überdenken. – Lydia hatte die Laune gehabt, seine Wohnung ansehen zu wollen und sich zum Abendessen einzuladen – zu anderen Zeiten eine Unmöglichkeit, jetzt aber, da doch alles auf den Kopf gestellt war, eine ganz harmlose Sache. Und die freundschaftlichen vertrauten Beziehungen, die zwischen ihnen bestanden, erklärten wohl überdies diesen nur dem Schein nach gewagten Schritt. Und brauchte man dieses junge Mädchen, das ihm da gegenübersaß, nicht bloß zu betrachten, um sofort seine ganze Natürlichkeit und Unschuld zu begreifen? »Sie hat ein großes, reines Herz, meine Tochter . . . « hatte der alte Fürst gesagt . . . Und so war es, alles durfte nur von diesem Gesichtspunkte aus beurteilt werden.
Aber dann kamen wieder Augenblicke, in denen diese klugen Betrachtungen von einem Ansturm tobender Gefühle verdrängt wurden. Es gab doch nur eine Wahrheit: das Weib, das er anbetete, war zu ihm gekommen, hier saß sie in seinem Zimmer, seiner Hand erreichbar! Sie wußte, welche Gefühle in ihm lebten – sie konnten ihr ja nicht unbekannt geblieben sein – und wie sehr sie die Grenzen der Freundschaft schon überschritten hatten . . . Er wird sie an sich ziehen . . . sich über die halberschlossene Blüte ihres Mundes neigen und ihren Duft mit seinen Lippen trinken . . .
Während er zwischen diesen beiden Stimmungen schwankte – bald von leidenschaftlichen Träumen entführt, die Lydias Gegenwart entfachte, bald in Ruhe diese so unerwartete Situation überdenkend, die in all ihren kleinsten Reizen ausgekostet werden mußte, denn dieser Besuch würde ja so kurz sein und sich kaum wiederholen – floß ihre Unterhaltung nur langsam dahin. Noch hatten sie den rechten Ton nicht gefunden. Sie sprachen von nichts Ernstem. Nur ganz allmählich gab der Reiz dieses Alleinseins und der prickelnde Champagner, von dem sie ein Glas getrunken hatte, Lydia wieder ihre ganze unbefangene Laune zurück, befreite sie von all dem lastenden Grübeln der letzten Tage, nahm die Unsicherheit von ihr, deren Spuren auf ihrer reinen Stirne Savinsky noch vor Tisch betrübt hatten.
Savinsky war von der entzückenden Natürlichkeit, mit der sie sich jetzt in ihre ungewohnte Lage fand, hingerissen. Sie hielt sich mit ihrem angeborenen Feingefühl gleich weit von Schüchternheit, wie auch von allzu großer Intimität entfernt. Das kleine Mädchen, das so oft aus ihr gesprochen hatte, war ganz verschwunden. Eine junge Dame saß an seinem Tisch, die offensichtlich die Lage beherrschte. Fast schien sie nicht ein Gast, sondern die Hausfrau zu sein, und als Savinsky, viel erregter als sie, die Speisen vernachlässigte, war sie es, die ihm zuredete und auch vorlegte. Aber er aß nicht nur wenig, er trank noch viel weniger. Er fühlte sich in einem so gefährdeten Gleichgewicht, daß er fürchtete, die geringfügigste Störung könnte ihn den Kopf verlieren lassen. Er trank kaum ein Glas Champagner. Die Nähe Lydias berauschte ihn sicherer, als jeder Wein, und im stillen schwor er sich unausgesetzt, daß er seine Kaltblütigkeit bewahren wolle. Denn hier vor ihm saß ja keine Frau, der das Spiel der Leidenschaften geläufig war, die an Huldigungen und auch an ungestümes Begehren der Männer gewohnt war und die auch die Gefahren hätte beurteilen können, die ein solcher Besuch bei einem alleinstehenden Manne heraufbeschwor. – Nein, es war ja ein junges, reines Mädchen, in der Morgenröte ihres Lebens, ein Mädchen, dessen Atem ebenso frisch war, wie der Wind vor Sonnenaufgang, eine Freundin, die ihn mit dem kostbaren Geschenk begnadete, eine Stunde seines einsamen Lebens mit ihm zu teilen; ein Freundschaftsbeweis, den nur seine verzerrte Einbildungskraft anders sehen konnte.
So rang er mit sich selbst und fühlte sich durch die Kämpfe in seinem Innern unfrei und gequält.
Diese Pein wuchs, als sie wieder in sein Wohnzimmer zurückkehrten. Bei Tisch waren Haltung und Benehmen doch noch durch die Grenzen eines festumschriebenen Rahmens gesichert, durch Tradition und Sitte bestimmt. Im Salon aber gewannen sie wieder alle Ungebundenheit zurück, und Savinsky wußte mit dieser Freiheit nichts anzufangen. Lydia bewahrte – wenigstens äußerlich – besser ihre Natürlichkeit. Sie nistete sich am Divan ein, lehnte sich behaglich in die zusammengerafften Kissen und brannte eine Zigarette an. Sie folgte durch den Rauch, in den sie sich langsam hüllte, mit belustigten Blicken Savinsky, der ruhelos umherirrte. Zuerst hatte er sich wohl neben ihr niedergelassen, dann aber war er plötzlich, wie von Teufeln gehetzt, aufgesprungen, um unter dem Verwand, Zündhölzer zu suchen, das ganze Zimmer zu durchqueren, obgleich sie auf einem Rauchtischchen neben ihm standen. Dann ließ er sich in ein Fauteuil fallen, und wie er da zu ihr sprach, mit welcher Zartheit! Denn jetzt, vielleicht ohne sich selbst darüber klar zu sein, wollte er ihr gefallen, jetzt wollte er sie bezaubern, sie gewinnen, sie erobern. Seine Augen schienen ihre geheimsten Gedanken lesen zu wollen, und unter dem Bann seines werbenden Blickes, verlor auch Lydia langsam ihre bisher bewahrte Fassung, ihre Gedanken entflatterten ihr, wie Blätter von einem sturmgepeitschten Baum, sie lebte nur noch in ihren Empfindungen, in einem leichten, köstlichen Taumel. Selbst ein unvermittelter, heftiger Ausruf ihres Freundes konnte sie nicht mehr ernüchtern. Er hatte nämlich ohne ersichtlichen Grund wieder seine rastlose Wanderung durchs Zimmer begonnen, rauchte in nervösen Zügen seine Zigarette und stieß plötzlich mitten in einem langen Schweigen ein Wort heraus, das wohl zu dem Selbstgespräch gehörte, in das er heftig mit sich selbst tobend, ganz versunken war. »Unmöglich!« – Dieser Schrei widerhallte in dem stillen Zimmer und ließ Savinsky selbst erschrocken zusammenfahren.
Er blieb stehen, drehte sich krampfhaft lächelnd zu Lydia um und sprach:
»Verzeihen Sie, ich glaube, ich habe ganz den Kopf verloren . . .«
Aber er hielt ein und sein Lächeln erstarrte, so sehr traf ihn der Ausdruck, den Lydias Züge jetzt zeigten. Sie war bleich und ihre starren Augen hingen groß an ihm. Er sah nichts außer diesen düsteren Augen, die dunkler als der Schatten ringsum ihn bannten; er vermochte sich nicht abzuwenden. Sie riefen, diese Augen, sie schrien – aber galt es denn ihm? Schien sie nicht eher in einen Traum hundert Meilen weit entrückt. Selbst sein Ausruf: »Unmöglich,« der im Zimmer gedröhnt hatte, war nicht in ihr Bewußtsein gelangt. Nur immer gleich starrten diese glimmenden Augen wie von einem inneren Feuer genährt. Er ging zögernd zu ihr hin, und während er noch verwirrt nach Worten suchte, hörte er sie sprechen, ganz einfach, still:
»Sind Sie vom Herumlaufen noch nicht müde, Nikolaus Wladimirowitsch? Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich . . . Es sieht ja fast so aus, als hätten Sie heute abend Furcht vor mir . . .«
Sie streckte ihm die Hand zu, die er nahm und nicht wieder losließ, um sie, nun neben ihr sitzend, an die durstenden Lippen zu führen. Er küßte diese kleine, weiche, jetzt so kalte Hand andächtig, er trank den Duft jedes einzelnen Fingers, und seine Küsse stiegen berauscht bis zum Handgelenk, gingen stockend weiter, erreichten zuckend den bloßen Arm und taumelten ihn hinauf und rasten ihn hinunter. Es war für ihn ein zugleich quälendes und beseeligendes Empfinden, und er frug sich, wie lange er es ungestraft werde ausdehnen können. Mit einemmale fühlte er den freigebliebenen Arm Lydias um seinen Nacken geschlungen und seinen Kopf zu ihr hingezogen. Als er ganz nahe war, sank sie geschlossenen Auges an seine Brust, und ein schwerer Atemzug stahl sich aus ihrem halbgeöffneten Mund. Er hielt ihre Gestalt umfaßt, beugte sich zu ihr, und sie verloren sich in der Vereinigung ihrer Lippen. Es schien Savinsky, als lebte er nur noch in diesem Kuß. Minuten? – Jahrzehnte . . .?
Noch einmal hatte er einen Augenblick der Klarheit. »Wie spät ist's? Sie muß ja nach Hause . . . Und doch – nein, nein, das ist unmöglich . . . Der alte Fürst . . . Ein junges Mädchen . . .« Seine Gedanken verwirrten sich, er riß sich von Lydia los und sprang auf. Er durchmaß das Zimmer, er schien wieder seiner Unruhe verfallen und nur noch einem einzigen Gedanken nachzuhängen. Er blickte auf die Uhr. Schon zehn . . . Die Straßen schon ausgestorben . . . Er lief zu Lydia, die noch wie schlafend in den Kissen lehnte, mit dem glücklich leuchtenden Antlitz eines Kindes, das heimgefunden hat zur Ruhe, zu heiterem Frieden . . . Er kniete vor ihr nieder, streichelte sie, sprudelte tausend unzusammenhängende, dumme, zärtliche Worte heraus und suchte sie dann in die Gegenwart zurückzurufen:
»Ich werde Sie jetzt nach Hause bringen, Lydia Lydotschka; es ist spät, man wird besorgt sein, man wird Sie suchen . . . Wo glaubt man denn, daß Sie sind?«
»Bei meiner Freundin Helene, in der Mokhowaja,« gab Lydia zurück, und fügte langsam, jedes Wort abwägend, hinzu:
»Dort meint man auch, daß ich heute übernachte, denn Sie wissen, daß es nicht angenehm ist, nachts durch die Straßen Petersburgs zu laufen. – Dorthin also müßten Sie mich begleiten, wenn Sie sich wirklich nicht entschließen können, mich hier bei sich zu behalten . . .«
Spät, sehr spät, gegen zwei Uhr morgens. Noch brannte das Licht über dem großen Bett, in dem beide lagen. Da richtete Lydia sich, ihre Müdigkeit bezwingend, noch einmal auf, neigte sich über ihren Freund, blickte ihm tief und zärtlich in die Augen und flüsterte:
»Oh du, der du jetzt mein bist, jetzt wirst du nicht mehr nach Finnland gehen! Jetzt darfst du mich nie mehr verlassen!«
Sie schmiegte sich in seine Arme und überließ sich seligen Träumen.
Dunkel, Ruhe, zwei Schlummernde in der Stille der Nacht. Wäre nicht ihr leichtes Atmen zu vernehmen, könnte man meinen, diesen beiden ausgestreckten Körpern sei alles Leben entflohen, so tief ist ihr Schlaf. Finsternis umhüllt sie und wiegt sie wie Kinder mütterlich ein. Sie schlafen Seite an Seite . . .
Plötzlich fühlt Savinsky einen seltsamen Druck auf den Augen, es stört, es schmerzt; er blinzelt aus halbgeöffneten Lidern, schließt sie rasch wieder und öffnet sie nochmals . . . Das Zimmer ist von Licht überflutet. Die Lampen im großen Lüster blenden. An seinem Bett steht die alte Anjuschka und berührt seine Schulter.
»Barin, eine Hausdurchsuchung bei uns«, flüstert sie ihm ins Ohr.
Wie beim Strahl eines Blitzes sah Savinsky sofort das Unabwendliche vor sich: den Abgrund! Eine Durchsuchung, ein Haftbefehl, Lydia mit verwickelt, vielleicht selbst verhaftet, mit ihm ins Gefängnis geschleppt – dieses Kind in der schrecklichen Gesellschaft eines Bolschewistenkerkers! Und dann der furchtbare Skandal, der von allen Seiten widerhallt . . ., beim alten Fürsten und noch weiter, in Finnland, bei Sonja, die auf ihn wartete . . .
»Ich komme«, flüsterte er zurück.
Lydia schlief noch. Ihren Kinderschlaf vermochte nichts zu stören. Da lag sie, den rechten Arm unter dem Kopf gebeugt, die wirre Fülle der gelösten Haare rings um sie. Die schmächtige Schulter war aus dem Hemd getreten, die weiße Haut der kindlichen Brust schimmerte hervor. – Savinsky betrachtete sie, während er hastig seine Kleider überwarf. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu . . . Schon für ihn allein war die Sache gefährlich genug, aber noch dieses Kind hineinziehen . . . Sollte er sie wecken? – War's zu verhindern, daß man sie verhaftete? – Aber unbedingt würde doch der Kommissar, der die Hausdurchsuchung vornahm, in dieses Zimmer kommen . . . Er ging zu ihr hin, neigte sich über das Bett, nahm sie in seine Arme und küßte sie auf Stirne und Mund. Sie erwiderte seine Küsse im Halbschlaf und flüsterte, ohne die Augen zu offnen: »Oh, du Geliebter!« Dann wollte sie sich umdrehen, um weiter zu schlafen.
»Lydia«, flüsterte Savinsky, »Lydia, mein Liebling, du mußt erwachen.«
Ihr Kopf fiel auf das Kissen zurück, sie kam zu sich und frug noch halb im Schlafe:
»Was gibts? Ist es schon so spät?«
Sie blickte auf und nach den dunklen Fenstern.
»Aber es ist ja noch Nacht. Man soll mich doch schlafen lassen.«
»Mein armes Liebes, eine Hausdurchsuchung ist hier bei mir. Du mußt aufstehen . . . Ich hoffe, daß alles rasch vorüber ist . . . Keinesfalls bist du in Gefahr . . . Kleide dich an, ich muß hinüber . . . Ich komme bald wieder . . .«
Er drückte sie an sich. Sie legte die Arme um seinen Hals, als wollte sie ihn nicht fort lassen. Er löste sie zart und eilte hinaus. Während er durch das Wohnzimmer ging, sah er auf die Uhr. Sie zeigte vier Uhr . . .
Er war jetzt vollkommen gefaßt und kaltblütig. »Der Teufel soll die Leute holen, die sich eine solche Stunde für eine Hausdurchsuchung wählen,« dachte er. Er trat in das Speisezimmer. Es war voll von Rotgardisten mit aufgepflanztem Bajonett, nur zwei Zivilisten waren unter ihnen. In dem einen, mit seinem spärlichen Schnurrbart und der kranken Hautfarbe, erkannte er einen Architekt, den Obmann des Hauskomitees. Der zweite Mann ohne Uniform löste sich von der Gruppe los, kam auf Savinsky zu und stellte sich sehr höflich vor: Alexander Iwanowitsch Zubow, Kommissar des Departements für Erhebungen der Gegenrevolution. Gleichzeitig überreichte er Savinsky ein gelbes, bedrucktes Papier, das von vielen Stempeln bedeckt war. Savinsky überflog es mit einem raschen Blick. »Befehl . . . Hausdurchsuchung . . . verhaften . . .«, er las mit stockendem Atem nochmals: »ihn, sowie sämtliche Personen, die in seiner Wohnung betroffen werden, zu verhaften.« Er dachte an Lydia, und seine Knie zitterten; nur mit Aufbietung aller Kräfte vermochte er seine ruhige Miene beizubehalten. Er stützte sich gegen den Tisch.
»Ich nehme an, daß dieser Befehl authentisch ist. Vielleicht aber liegt ein Irrtum vor? . . . Könnte ich an Leo Borissowitsch Semeonow telephonieren?«
Der Kommissar verneigte sich und sprach in sehr unterwürfigem Ton:
»Ich fürchte, Nikolaus Wladimirowitsch, daß dies zwecklos wäre, Sie werden zweifellos noch heute in der Gorokhovaja verhört, und dann kann Leo Borissowitsch, wenn es nötig ist, intervenieren. Wir aber unterstehen ihm nicht.«
Der Kommissar hatte die Manieren eines wohlerzogenen Mannes. Wahrscheinlich war er ein ehemaliger Beamter der Geheimpolizei des Zaren. Er war frisch rasiert, trug auf seiner ein wenig vollen Lippe einen kurz gestutzten Schnurrbart und drückte sich in gewählten Worten aus. Er war kaum dreißig Jahre alt. Savinskys Blicke betasteten ihn forschend, und er gewann den Eindruck, daß es vielleicht nicht unmöglich wäre, Lydias Angelegenheit mit ihm zu ordnen. Er würde für diese Situation zweifellos Verständnis haben und vielleicht nicht abgeneigt sein, sich einen Mann wie Savinsky zu verpflichten.
»Ich möchte eine ziemlich heikle Sache eine Minute mit Ihnen allein besprechen.«
»Ich stehe zur Verfügung,« und der Kommissar folgte Savinsky durch die Tür ins Wohnzimmer.
In diesem Augenblick löste sich eine zweite Person, diese in Uniform, aus der Gruppe der Soldaten und kam heran. Der Kommissar stellte, ohne die geringste Verlegenheit zu zeigen, vor:
»Leutnant Iwanow.«
Savinsky, gewohnt mit Menschen umzugehen und sie rasch zu beurteilen, warf einen prüfenden Blick auf ihn. – Gut gekleidet, stramme Haltung, ebenso jung wie der Kommissar . . . »Offizier der alten Armee«, taxierte er. »Noch kann es gelingen.«
»Meine Herren,« sagte er verbindlich lächelnd, »es handelt sich um eine ganz persönliche Sache, Sie werden es sofort begreifen . . . Nicht an die Beauftragten der Regierung, die hier nur ihre Pflicht erfüllen . . .«
»Eine sehr, sehr peinliche Pflicht, versichere ich Sie, Nikolaus Wladimirowitsch«, warf der Zivilkommissar mit einer leichten Verneigung ein.
Savinsky dankte ihm mit einem Blick und fuhr mit größerer Sicherheit fort:
»Ja, – sondern an Sie, als Gentlemen wende ich mich, von Mann zu Mann . . . Ich bin heut abend hier in einer ganz . . . besonderen Situation . . . Das kann jedem von uns passieren, Ihnen genau so, wie mir . . . Ich habe eine Dame hier – ein ganz junges Wesen – die mich besuchen kam und die ich über Nacht hier behielt, weil die Straßen ja nicht sehr sicher sind, wie Sie wissen . . . Sie weiß nicht das Geringste von Politik, sie ist noch das reinste Kind . . . Kaum zwanzig, wissen Sie . . . Nun, ich kann Ihnen mein Ehrenwort geben, daß sie in keiner Weise über meine Handlungen unterrichtet ist, daß sie überhaupt . . ., daß es wirklich das erstemal ist, daß sie meine Wohnung betreten hat . . . Meine Dienerin, wenn Sie sie befragen wollen, wird Ihnen die Richtigkeit meiner Worte bestätigen . . . So steht die Sache, und ich beschwöre Sie, meine Herren, lassen Sie sie frei . . . Sie verstehen doch gewiß, ohne daß ich Ihnen mehr sagen muß, um was es sich hier handelt. – Und Sie können sicher sein, daß ich Ihnen diesen Dienst, den Sie mir leisten, niemals vergessen werde.« –
Je länger er sprach, desto mehr wurde ihm bewußt, was alles von der Antwort abhing, und er verlor nach und nach seine Ruhe. Zum Schluß bebte seine Stimme schon vor Erregung.
Die beiden Kommissare schienen seine Aufregung zu verstehen, Zubow noch mehr als der Leutnant. Während der Zivilkommissar zustimmend mit dem Kopf nickte, zeigte der Offizier nur ein halbes Lächeln, womit er zu verstehen geben wollte, daß er sich in derartige Situationen wohl hineindenken könne, daß auch ihn schon oft Frauen beglückt hätten, und daß in solchen Dingen ein Mann wie er, der das Leben kennt, wohl ein Auge zuzudrücken vermöchte.
Als jedoch Savinsky seinen Wunsch ausgesprochen hatte, wurden beide Gesichter ernst, und als er seine Rede beendete, zeigten sie große Verlegenheit. Sie gingen zur Seite und begannen flüsternd zu beraten. Ihre Unterhaltung dauerte ziemlich lange und es schien offenbar, daß die Beiden über eine Schwierigkeit nicht hinwegkamen. Endlich wandten sie sich wieder an Savinsky, der sie atemlos beobachtet hatte.
»Könnten Sie uns vielleicht den Namen der Betreffenden sagen?« frug der Zivilkommissar, und man sah ihm an, wie peinlich ihm selbst diese Frage war.
»Ich würde es vorziehen, ihn zu verschweigen . . . Es handelt sich ja um die Ehre einer Dame . . . Begreifen Sie doch . . .«
»Ich begreife, ich begreife«, beeilte sich der Offizier zu versichern, »indessen . . .«
»Jedenfalls können wir ja Ihre Bedienerin vernehmen,« vermittelte Zubow, der sehr darauf bedacht schien, seinen guten Willen zu zeigen.
Anjuschka wurde geholt. Die beiden Kommissare stellten viele Fragen an sie. Sie antwortete ruhig und bestimmt. Sie hatte die Dame, die zum Abendessen hier war, nie vorher gesehen. – Ja, sie, Anjuschka, öffne immer die Türe. – Diese Frau sei noch niemals in der Wohnung gewesen. – Diese Aussage schien auf die Kommissare Eindruck zu machen. Indessen begannen sie nochmals ihre geheime Beratung, doch Savinsky hatte in diesem Augenblick die Überzeugung, daß die Sache so gut wie geordnet sei. Er atmete auf. Was mit ihm selbst geschehen werde, darum sorgte er nicht; nur Lydia mußte gerettet werden! Die Kommissare kamen wieder zu ihm zurück. Diesmal war es der Leutnant, der das Wort führte.
»Die Sache scheint uns wirklich sehr heikel, Nikolaus Wladimirowitsch. Unser Befehl aber ist eindeutig . . . Wir übernehmen eine große Verantwortung, wenn wir ihn nicht wörtlich ausführen . . . Vielleicht aber, um Ihnen gefällig zu sein . . . Unter diesen außergewöhnlichen Umständen . . . Aber, nicht wahr, es ist doch selbstverständlich, daß es ein strenges Geheimnis bleibt, nur unter uns dreien . . . Kein Mensch darf etwas erfahren, selbst die Soldaten nicht, die hier sind . . .«
Man sah die Soldaten durch die offengebliebene Türe im Speisezimmer, und Savinsky wagte, trotz seines innerlichen Jubels, nicht, den Kommissaren die Hand zu drücken. Doch ehe er noch auf die letzten Worte des Offiziers zu erwidern vermochte, trat ein neues Ereignis ein, das die Situation von Grund auf veränderte: Lydia kam ins Zimmer gestürzt! Sie hatte angstvoll auf die Rückkehr Savinskys gewartet, und seit einer Viertelstunde, seitdem sie angekleidet war, quälte sie die Sorge, was aus ihm geworden sei. Eine endlose Zeit schien ihr dies untätige Warten zu dauern. Sie vermochte es einfach nicht länger zu ertragen, und so entschloß sie sich, selbst nach ihm zu sehen.
»Was geschieht hier? Was will man von dir?« Ihre Fragen überstürzten sich, ehe noch Savinsky sie aufzuhalten vermochte.
Er war völlig niedergeschmettert. Er meinte, daß der Boden sich unter ihm öffne. –
Auch alle anderen hatte das plötzliche Erscheinen dieses jungen Mädchens ebenso verblüfft. Die beiden Kommissare betrachteten sie sprachlos. Lydias Schönheit, das Leuchten ihrer Augen, die vollkommen Gleichgültigkeit, die sie gegen all die fremden Leute im Zimmer zeigte, die Sorge um das Schicksal Savinskys, die sie einzig und allein erfüllte und die sie nicht im geringsten zu bemänteln suchte, ließen die beiden vor Bewunderung erstarren. Selbst die Soldaten hatten ihre Unterhaltung unterbrochen und glotzten, in der Türe des Wohnzimmers zusammengedrängt, aus großen, erstaunten Augen herein.
»Sehr peinlich,« murmelte Zubow, als er sich wieder gefaßt hatte, »wirklich sehr peinlich . . . Ich fürchte,« flüsterte er Savinsky zu, der schwer gegen den Tisch lehnte und Lydias Hand nicht losließ, »daß wir den Befehl jetzt doch in vollem Umfang ausführen müssen.«
Savinsky erwiderte nichts. Er fühlte den Druck von Lydias Hand in der seinen. Diese Vereinigung konnte nichts und niemand lösen; er hatte das Gefühl, daß er mit ihr gemeinsam auch in den Tod gehen könnte.
Die Durchsuchung begann. Der Schreibtisch wurde durchwühlt; man fand nichts. Darüber war auch Savinsky vollkommen beruhigt, denn er hatte nicht ein kompromittierendes Papier. Überhaupt war er, seit Lydia bei ihm stand, wieder ganz ruhig geworden. Er sah zu, als wenn ihn dies alles gar nicht beträfe. Seine Nerven waren nach so vielen Aufregungen jetzt ganz stumpf geworden. Neugierig folgte sein Blick der Arbeit der beiden Kommissare. Sie stellten sich übrigens sehr ungeschickt an. »Die können ihr Handwerk nicht,« dachte Savinsky. »Früher einmal hat die Polizei besser gearbeitet.« Nicht einmal eine bedeutende Summe in Banknoten, die Savinsky unter einem losgelösten Eck des Teppichs versteckt hatte, fanden sie. Es waren über hundert gute, alte Tausendrubelnoten. Aber bei genauerem Beobachten schien ihm diese Ungeschicklichkeit absichtlich. Ja, zweifellos verhielt es sich so; sie markierten eifriges Suchen, um von den roten Garden nicht denunziert zu werden, aber sie wollten verhüten, daß Savinsky ihr Opfer werde.
Dieses Spiel unterhielt ihn eine Weile.
Plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke. Vielleicht war es noch immer möglich, Lydia, die eng an ihn geschmiegt stand und deren Atem seine Wange streifte, zu retten?
»Meine Herren,« sagte er, »meinen Sie, daß zu dieser Stunde in der Gorokhowaja einer von den verantwortlichen Führern anwesend ist, mit dem man in Verbindung treten könnte?«
»Sicherlich, Nikolaus Wladimirowitsch,« antwortete Zubow, »unser Chef, Genosse Uritzki, muß noch in der Präfektur sein . . . Unser Dienst spielt sich ja hauptsächlich in der Nacht ab . . .«
»Das ist ja sehr gut. Würden Sie wohl so liebenswürdig sein, ihm den besonderen Fall, der hier vorliegt, telephonisch auseinanderzusetzen? Vielleicht könnte die Sache auf diese Weise geordnet werden, ich würde Ihnen für Ihre Unterstützung sehr dankbar sein . . .«
Die Kommissare stimmten zu, aber der Offizier wies darauf hin, daß es erforderlich sein dürfte, den Namen der Dame anzugeben.
Lydia hatte schweigend zugehört und begriff nicht, um was es sich handle. Es schien hier ein Geheimnis zu sein, hinter das sie kommen mußte.
»Meinen Namen?« mischte sie sich ein. »Hier auf meiner Legitimation . . .« Sie reichte dem Kommissar das amtliche Papier, auf dem Name, Alter, Wohnung bestätigt waren.
Zubow ging an den Apparat und hatte in wenigen Sekunden die Verbindung mit der Präfektur in der Gorokhowaja hergestellt. Er begann den Wunsch Savinskys auseinanderzusetzen . . . Als Lydia nach seinen ersten Worten verstanden hatte, um was es sich handle, drehte sie sich hastig zu ihrem Freund herum, faßte ihn heftig am Arm und flüsterte in größter Aufregung:
»Wie, Nikolaus Wladimirowitsch, man verhaftet dich? – Ich dachte, es handle sich nur um eine Hausdurchsuchung . . . Bist du in Gefahr? Was soll mit dir geschehen?«
»Ach, um mich handelt sich's nicht,« entgegnete Savinsky. »Gott, man wird mich ein bissel einsperren, das passiert heute vielen anständigen Leuten und nach zwei, drei Tagen gibt man mich wieder frei. Das ist ganz belanglos; aber deinetwegen bin ich in Sorge. Der Befehl ist so dumm abgefaßt, daß sämtliche Personen, die man hier in der Wohnung antrifft, mit verhaftet werden sollen. Und wenn man dich auch sofort wieder entläßt, – ich möchte dir doch dieses gräßliche Gefängnis ersparen.«
Er hatte kaum geendet, als Lydia schon aufbrauste: »Wenn du ins Gefängnis gehst, dann gehe ich mit!«
Savinsky wollte sie beruhigen; er suchte sie zu überzeugen, daß sie ihm draußen viel mehr nützen könne, als wenn sie mit ihm ginge. Lydia aber verbohrte sich in den Gedanken, sich nicht von ihm zu trennen. In ihre leise geführte Debatte klangen Bruchstücke von Zubows Telephongespräch.
»Jawohl, Genosse Uritzki . . . Verstehe . . . Achtzehn Jahre . . . Ja, ja . . . reizend . . . Deswegen erlaube ich mir . . . Gewiß . . .«
Das Gespräch war zu Ende. Er hing den Hörer auf und wandte sich mit verlegenem Lächeln zu Savinsky. Er kratzte sich am Kopf und sprach:
»Nichts zu machen. – Alle müssen in die Gorokhovaja. – Ich hätte es Ihnen gern erspart, Lydia Sergijewna, aber es geht leider nicht.«
Er war höchst erstaunt, daß die Züge des jungen Mädchens nur die größte Befriedigung ausdrückten.
Die Untersuchung wurde jetzt in den übrigen Zimmern fortgesetzt. Die Soldaten hatten sich, des Herumstehens müde, in die Küche zurückgezogen. Auch Savinsky und Lydia fühlten langsam eine Schlaffheit, die sie überkam, sie sprachen nicht. Savinsky war wieder in trübe Betrachtungen versunken; Lydia in ihrer Jugend dachte vorläufig an nichts anderes, als daran, den Schlaf, der sie übermannen wollte, zu bekämpfen. Die alte Anjuschka bemerkte dies; sie hatte Mitleid mit ihr und kam heran.
»Ich will Ihnen ein Frühstück kochen. Dort werden Sie wohl nicht viel zu essen bekommen. Ich habe im Herd Feuer gemacht, der Kaffee wird in einem Augenblick bereit sein.«
Sie streichelte Lydias Arm, und ging zu ihrer Arbeit zurück. Bald kam sie wieder und brachte heißen Kaffee mit Brot und Butter. Savinsky forderte die beiden Kommissare auf, mit ihnen zu frühstücken, und so improvisierte man ein morgendliches Mahl. Lydia stürzte sich sofort auf die Butterbrote und trank in gierigen Zügen zwei große Tassen Kaffee. Sie war mit einemmale, ohne daß sie dafür einen Grund hätte angeben können, so glücklich, daß ihre gute Laune ansteckte und selbst Savinsky aus seinem Grübeln riß. Die beiden Kommissare aber strahlten geradezu. Niemals noch hatten sie es bei Ausübung ihres Dienstes so gut getroffen. Die Unterhaltung wurde immer lebhafter, dafür sorgte schon Lydia. Es gab keine Jäger mehr und Beute, weder Bolschewiki noch Bourgeois; nur noch junge Menschen, die der Zufall des Lebens hier an den Tisch zusammengewürfelt hatte und die es nach einer durchwachten Nacht wundervoll fanden, sich zu erholen und zu stärken.
Schließlich aber mußte man aufbrechen, es war schon sechs Uhr geworden. Bevor er das Haus verließ, gab Savinsky seiner Dienerin den Auftrag, sobald als möglich, Semeonow anzurufen und ihm mitzuteilen, daß er, Savinsky, im Gefängnis sei. »Sie werden aber nur von mir sprechen!« fügte er hinzu.
Sie gingen. Zwei Soldaten wurden zum größten Verdruß Anjuschkas, die Diebstähle fürchtete, in der Wohnung gelassen.
Ein Automobil wartete auf der Straße. Es war noch vollkommen finster, als sie vor das Haus traten, und ein eisiger Wind blies ihnen entgegen. Die beiden Kommissare überließen Lydia und Savinsky sehr höflich den Fond und nahmen selbst auf den Rücksitzen Platz.
Der Motor sprang an, sie knatterten durch die tote Stadt und langten nach wenigen Minuten vor der Gorokhovaja an.
Die Vorhalle der Präfektur war voll Soldaten. Savinsky und Lydia wurden in ein großes Zimmer im ersten Stock geführt. Lydia hatte, da sie nun mit Savinsky zusammen war, für den Augenblick keinerlei Kummer. Das vorzügliche Frühstück hatte sogar die Müdigkeit verscheucht. Sie fühlte jetzt nur noch Neugier.
Sie kamen in einen geräumigen Saal, der zu den Empfangsräumen des Präfekten gehört haben mochte. Aus jener Zeit stammten wohl noch einige Fauteuils und Sessel, mit blaßblauer Seide überzogen und ein großer Knüpfteppich, dessen Farben verblaßt waren. In der Ecke des Raumes arbeiteten hinter halbkreisförmig aufgestellten Tischen, die gleichzeitig eine Art Barrière gegen den Parteiraum bildeten, zwei Angestellte. Vor ihnen stand eben ein gerade auch eingebrachter Häftling. Er war, nach allem zu schließen, das, was man damals einen »Bourgeois« nannte, und was genügte, um verdächtigt und verhaftet zu werden. Die Angestellten füllten umständlich Formulare und Protokolle aus und blätterten in Registern. Diese bureaukratische Arbeitsweise überraschte Lydia, der sie ganz und gar nicht zu dem Bild passen wollte, das sie sich von einem Terrorregime gemacht hatte, wie es von Lenin und Trotzki dekretiert worden war. Und auch die Ruhe in diesem Saal, sein vornehm reiches Aussehen, das Fehlen alles Tragischen! Halblaut teilte sie Savinsky ihre Eindrücke mit.
Er zuckte die Achseln und lächelte.
»Der Amtsschimmel wird bei uns nie fehlen. Auch Lenin wird vergeblich gegen ihn kämpfen. Sogar die ungesetzlichsten Akte werden streng nach Vorschriften verfaßt.«
Er versuchte unbesorgt zu scheinen, die gewohnte lächelnde Überlegenheit zu zeigen, um das junge Mädchen nicht zu beunruhigen, und die Mühe, die er sich damit gab, übte schließlich die günstigste Wirkung auf seine Stimmung.
Die Reihe kam nun an sie, vor den Beamten in der Ecke hinzutreten. Die Abfassung des Protokolles schien kein Ende nehmen zu wollen. Schließlich wurde noch die Brieftasche abverlangt; der Beamte gab über ihren Inhalt eine Quittung. Aber Savinsky, der genau zugesehen hatte, was mit den früheren »Bourgeois« geschehen war, hatte vorsichtshalber schon vorher einige Hundertrubelnoten in seine Rocktasche gleiten lassen.
Zwei Soldaten erwarteten sie an der Türe; zwei lange, dürre Letten. Sie erstiegen eine Wendeltreppe, die an einigen Stellen Ausblicke in die Eingangshalle bot, und bei jeder solchen Stelle war ein Maschinengewehr montiert, das gegen die Eingangstüre gerichtet war und von einem Soldaten bewacht wurde. »Was für eine Furcht vor einem Handstreich!« dachte Savinsky. »Sie scheinen sich nicht sehr sicher zu fühlen.«
Vor einem kleinen, verqualmten Vorzimmer, gedrängt voll von Soldaten, hielten sie an. Ihre Eskorte wechselte mit dem Kommandanten dieser Wache ein paar Worte.
»Bei uns ist's ausverkauft,« lachte der gut gelaunt.
Im dritten Stock war es ebenso.
Im letzten Stockwerk endlich wurden sie in das Vorzimmer eingelassen. Fünf oder sechs Soldaten saßen rauchend auf Bänken. An einem Tisch schrieb ein ganz junger, kaum zwanzigjähriger Bursch mit grimmiger, wichtigtuender Miene. Vor ihm lag ein Register, in das er die Namen seiner »Gäste« eintrug. Er nahm zuerst Lydia vor und frug nach dem Grund ihrer Einlieferung. Lydia, die ihn neugierig betrachtete, antwortete mit ihrer hellen Stimme, ohne die geringste Verwirrung:
»Ich habe keine Ahnung. Wenn Sie mir ihn sagen wollten, wäre ich Ihnen sehr verbunden.«
Die Soldaten, die sich neugierig erhoben hatten und jetzt im Kreise um sie herumstanden, schmunzelten, aber der Jüngling beim Tisch runzelte die Brauen.
»Vermutlich aus politischen Gründen,« sagte er würdevoll. »Ich werde also ›Gegenrevolutionärin‹ eintragen.«
Einer der Soldaten, ein riesiger, ungeschlachter Kerl, der dieses so schöne Kind nicht aus den Augen ließ, lachte jetzt laut heraus.
»Durchsuchen Sie die Gefangenen!« befahl der junge Bursche mit rauher Stimme zu einem der Soldaten.
Savinsky zuckte zusammen und trat an Lydia heran. Sie wandte sich rasch zu ihm und beschwor ihn durch einen Blick, sich nicht einzumengen. Der Soldat zögerte, blickte Lydia an, trat von einem Fuß auf den anderen, zuckte die Schultern und meinte schließlich: »Aber Leo Davidowitsch, das ist doch überflüssig. Sie sehen doch, sie ist ein Kind.«
Alle übrigen Soldaten zeigten deutlich, daß sie ihrem Kameraden beipflichteten. Der kleine Beamte erbleichte vor Wut, aber er traute sich nicht, seinen Befehl zu wiederholen. Er murmelte einige Worte, die unverständlich blieben und fügte dann lauter hinzu: »Die Vorschrift verlangt es ausdrücklich. Ich selbst werde es tun.«
Er erhob sich, trat an Lydia heran, begnügte sich jedoch, scheinbar, bloß um die Formalität doch erfüllt zu haben, ihren Pelz in der Gegend der Hüften zu betasten.
Als auch Savinsky die ihm gestellten Fragen beantwortet und man sich vergewissert hatte, daß er keinen Revolver bei sich trug, stieß einer der Soldaten eine Glastüre auf und die beiden betraten den Raum, der zu ihrem Aufenthalt bestimmt war.
Es war ein großes, sehr niedriges, quadratisches Zimmer, das durch eine in der Mitte an einem einfachen langen Draht herabhängende Glühlampe spärlich beleuchtet wurde. Durch das einzige, auf den Hof gehende Fenster drang ein matter Schimmer, der das verspätete Aufgehen einer kraftlosen Wintersonne ankündete. Eine säuerlich beißende, warme, betäubende Luft schlug Lydia und Savinsky entgegen und ließ sie auf der Türschwelle erstarrt stehen bleiben. Es war der Geruch eines nie gelüfteten Raumes, in dem sich der Atem vieler Menschen mit der Ausdünstung von Schweiß, vom Leder ihrer Stiefel, moderndem Stroh ihrer Schlafstätten, halbverfaulten Brettern des Fußbodens und schalem Zigarettenrauch mengte. Schon dieser Eindruck war eine weit härtere Prüfung, als selbst Savinsky gefürchtet hatte. Er fühlte den bebenden Druck von Lydias plötzlich schwer auf ihm lastenden Arm, aber sie sprach kein Wort. Unterdessen gewöhnten sich ihre Augen an das herrschende Halbdunkel und der Anblick, der sich ihnen bot, ließ sie erst recht erschauern. Hart aneinander gepreßte Pritschen füllten den Raum und ließen bloß einen ganz engen Gang in der Mitte frei. Auf einem Tisch schlief eine Gestalt, die bis über den Kopf mit einem Militärmantel bedeckt war, aus dem nur die Stiefel herausragten. Auf den Pritschen schliefen Männer in einem schrecklichen Durcheinander, oft drei auf zwei Pritschen liegend. Die meisten hatten einen gequälten, unruhigen Schlaf, sie seufzten und stöhnten, nervöse Zuckungen liefen durch die Körper, warfen sie auf dem harten engen Lager herum. Gekrampfte Arme drohten in die Luft, fieberhafte Hände kratzten den von Ungeziefer geplagten Körper. Andere schnarchten mit offenem Mund auf dem Rücken liegend. In einem Winkel glimmte das rote Ende einer Zigarette, wie ein Glühwürmchen, das sich in einen Teufelsgarten verirrt hat. Ein kleiner Buckliger, mit irrem, verstörtem Ausdruck sprang plötzlich von seinem Lager auf, lief bis unter die Lampe, zog ein Notizbuch aus der Tasche und kritzelte fieberhaft . . . Dann eilte er, mißtrauisch nach den beiden Neuangekommenen spähend, wieder zu seinem Platz zurück.
Savinsky entdeckte schließlich auf einer Bank beim Tisch ein wenig Platz. Er führte Lydia dorthin, setzte sich nieder und nahm das Mädchen auf seine Knie. Sie schlang ihren Arm um seinen Kopf und küßte ihn sanft, ohne zu sprechen. Eine lähmende Müdigkeit senkte sich auf sie, sie schlief sofort ein. Als sie eine Stunde später erwachte, war es schon Tag; ein trüber, grauer Morgen, ein rechter Petersburger Wintertag, so bleich, so freudlos, daß man das Scheiden der Nacht beklagt. Sie öffnete die Augen und sah sich in den Armen Savinskys. Was bedeutete ihr das Gefängnis mit seinen Schrecken? Sie lächelte ihren Liebsten zärtlich an und auch sein ernstes, müdes Gesicht leuchtete da auf. Liebevoll streichelte er die Hand des jungen Mädchens, die an seiner Brust lag.
Schon belebte sich der große Saal. Die Gefangenen erwachten. Sie schienen müde und zerschlagen und streckten stöhnend ihre Glieder. Viele zündeten sofort Zigaretten an.
Lydia war nach der einen Stunde Schlaf wieder frisch. Sie hatte ihre Gemütsruhe vollkommen wieder gefunden und überließ sich gutgelaunt, dem, was ihr bloß ein Abenteuer schien.
»Jetzt weiß ich doch wenigstens etwas von der Revolution,« meinte sie scherzend zu Savinsky, »nämlich, daß es schlecht riecht.«
Die Anwesenheit Lydias machte Sensation; Leute kamen heran, eine Unterhaltung begann. Lydia hatte ihren Pelz, wegen der Wärme, die im Saal war, ein wenig geöffnet, so daß ihr schlanker Hals und das leichte Dekollete sichtbar waren. Es war, als hätte man frische, duftende Blumen in die stickige Luft einer Krankenstube gebracht. – Savinsky erkundigte sich nach den Einzelheiten des Gefängnislebens. Am wichtigsten war es ihm zu erfahren, wann man sie vernehmen werde, denn Lydia mußte ja Mittag rechtzeitig zu Hause sein, damit niemand Verdacht schöpfe. Aber die Auskünfte über diesen Punkt waren entmutigend. Mehr als ein Dutzend der Häftlinge erzählten, daß sie seit drei, vier, sogar fünf Tagen hier seien, ohne Uritzki gesehen zu haben und ohne den Grund ihrer Einlieferung zu kennen. Mit Lydia unterhielt sich ein Offizier. Ein junger Mann, der viel lachte und scherzte; er schien sich ganz leicht mit dem Leben im Gefängnis abgefunden zu haben. Doch plötzlich bemerkte sie, daß seine Hände, wie bei einem Fieberkranken zitterten. »Was für Angst er hat!« dachte sie. Diese Beobachtung störte sie ein wenig, aber sie trug eine solche Fülle von Glück in sich, daß jede andere Empfindung ihr nur ein vorübergehender, äußerer Eindruck blieb. Selbst an die Möglichkeit einer längeren Haft Savinskys dachte sie nicht. Wie viele waren nicht schon verhaftet und nach wenigen Tagen wieder freigelassen worden! Denn selbst die gewaltigen Petersburger Gefängnisse konnten nicht genügen, um alle die Eingelieferten unterzubringen. Für den Augenblick war sie von liebenswürdigen Leuten umringt, die ihr zu gefallen suchten, ihr Liebster war bei ihr, – sie wollte nicht weiter denken.
Es gab in dem Raum das unglaublichste Durcheinander von Menschen aller Stände, Gegenrevolutionäre, Offiziere aller Grade, einige angesehene Bürger, Spekulanten, vier Personen, die in kühner Weise alles Platin aufgekauft hatten, dann gemeine Verbrecher, Taschendiebe, Einbrecher, Betrüger, wie man sie auf der Straße aufgegriffen hatte. Die Aristokratie dieser Gruppe bildete eine Gesellschaft von Banknotenfälschern, die in geschickter Weise einige tausend falsche Kerenski-Rubel in Umlauf gebracht hatten. Sie zeigten eine außerordentlich überlegene Miene und selbstbewußte Haltung. Ein Drittel aller Häftlinge waren Bolschewiki, die sich Unterschlagungen hatten zuschulden kommen lassen. Ein Mann, der mit Hilfe einer Weingeistlampe Tee gekocht hatte, brachte Lydia ein Glas. Sie nahm es erfreut an und als sie zu trinken beginnen wollte, zog er triumphierend ein Stück Zucker aus seiner schmutzigen Hosentasche und verkündete:
»Das letzte Stück!«
Lydia wagte nicht, es zurückzuweisen. Sie erfuhr von einem der Umstehenden, daß dieser Mann mit dem Zucker ein bolschewistischer Kommissar gewesen war, der, mit einer großen Geldsumme zu den sibirischen Truppen geschickt, vorgegeben hatte, unterwegs beraubt worden zu sein.
Auch der »Stubenkommandant« kam herbei, um Lydia und Savinsky zu begrüßen. Seine Aufgabe war es, die Beziehungen der Gefangenen untereinander zu regeln, die einzelnen nötigen Arbeiten zu verteilen, die Reihenfolge bei Benützung der Waschstellen festzusetzen, Gruppen zu bilden, die die wenigen Suppentöpfe gemeinsam erhielten und auch Einkäufe durch rote Soldaten draußen besorgen zu lassen. Diese wichtige Persönlichkeit war ein kaum dreißigjähriger, sicher auftretender Mann, mit energischen, angenehmen Zügen und roten Haaren. Er hatte einen höheren Posten im Generalstab der roten Armee bekleidet und war verhaftet worden, als eines Tages vierhunderttausend Rubel aus seinem Amt gestohlen worden waren. Er führte Lydia und Savinsky, da im Saal ausgekehrt wurde, in einen kleinen Nebenraum, in dem zwölf Pritschen aneinander standen. Auf einer davon saß eine Frau, die ein etwa sechsjähriges, im Schlafe wimmerndes Mädchen in ihren Armen hielt. Aus den müden, abgezehrten Mienen der Frau sah man, daß dieses Kind ihre einzige Sorge sei; ein bleiches, mageres, armes Kind, wie tausende, die im feuchten Petersburg zu Grunde gehen. Lydia sprach leise mit der Mutter. Sie, mit ihrem Kind, waren als Geißel verhaftet worden, da ihr Mann, gegenrevolutionärer Umtriebe wegen verdächtigt, geflohen war. So lange er nicht zurückkehrt und sich selbst stellt, muß sie mit dem Kind hier bleiben. Sie schien vor Schmerz und Kummer halb wahnsinnig.
»Kommt er zurück, erschießen sie ihn . . . Kommt er nicht, – was soll aus meiner Kleinen werden? Lang' kann sie's hier nicht mehr machen. Schaun Sie nur, wie mager sie schon ist!«
Sie hob eine Decke. Lydia sah die dünnen Beine so erbärmlich abgezehrt, wie bei einer Holzpuppe; Knie und Knöchel bildeten dicke, vorstehende Knollen.
Ihr Führer sagte zu Savinsky: »Hier werden Sie heute nacht schlafen, das ist die vornehme Abteilung.«
Savinsky ließ sich auf eines der Betten fallen. Er war völlig erschöpft und niedergedrückt. Seit zwei Stunden, seitdem die Gefangenen wach waren, hatte er kein einziges unbelauschtes Wort mit Lydia wechseln können. Die Zeit verrann, es war bald elf Uhr und er hatte ihr so viel zu sagen. Er fürchtete jetzt das Schlimmste, eine lange Trennung von ihr. Die Bolschewiki würden ihn nicht freilassen. Es lag zweifellos eine Unvorsichtigkeit von Seiten Spaßkis vor. Dahin also hatte ihn seine Sympathie für diesen Phantasten, an dessen Erfolg er nie glaubte, geführt! Er verwünschte seinen Leichtsinn, mit dem er sich da in ein Abenteuer hatte verstricken lassen, das jetzt tragisch enden mußte. Es war unverzeihlich, daß er, ein Geschäftsmann, gewohnt, alles rein materiell zu beurteilen, in diesem Fall ohne Sinn und Zweck nur seinen Gefühlen für diesen Spaßki nachgegangen war! Und zu Lydia durfte er von all diesen Sorgen nichts sagen! Er wollte sie nur darauf vorbereiten, daß sie ihn in kurzer Zeit werde verlassen müssen. Die Sache war nicht leicht, das junge Mädchen wollte einfach nichts davon hören.
»Wo du sein wirst,« sagte sie, »dort bleibe auch ich . . . Ich habe nur dich auf der ganzen Welt, und, vergiß es nicht, auch du hast jetzt nur noch mich.«
Es brauchte langer Überredungskünste, ehe Savinsky sie zur Einsicht gebracht hatte, daß sie ihm, freigelassen, tausendmal nützlicher wäre, als hier im Gefängnis. Wer sollte ihm jeden Tag sein Essen hereinschicken, wer die nötigen Schritte für seine Befreiung unternehmen? Endlich fügte sie sich, aber das arme Kind hatte die Augen voll Tränen, als sie ihm sagte: »Wie du mich quälst! Aber, ach, ich sehe ja, daß ich dir nachgeben muß.«
Eben als sie diese Worte sprach, wurde an der Saaltüre mit lauter Stimme ihr Name gerufen. Ein Soldat schwenkte dort ein Papier. Sie erhob sich.
»Folgen Sie mir,« sagte er, »Sie sollen zum Verhör kommen.«
Eine allgemeine Aufregung entstand im Saal. Die Leute liefen zusammen, Stimmen tönten durcheinander. »Noch niemand wurde so bald verhört!« »Ein unerhörter Fall!« »Wir wußten, daß Sie nicht lang' bei uns bleiben.«
Es galt Abschied nehmen. Lydia fiel Savinsky um den Hals und küßte ihn leidenschaftlich, ohne der Gefangenen zu achten, die herumstanden und zusahen. Sie wollte ihn gar nicht loslassen; als wäre es die letzte Minute ihres Lebens. Auch die Ordonanz, die sie holen gekommen war, wurde durch die allgemeine Sympathie für sie mitgerissen. Ganz mechanisch nur wiederholte er mehrmals, aber mit einer weichen, fast zärtlichen Stimme: »Beeilen Sie sich doch!«
Plötzlich kam Lydia ein neuer Gedanke.
»Ich will dich unbedingt nochmals sehen, selbst wenn man mich freiläßt.«
Rasch schlüpfte sie aus ihrem Pelz, den sie bis dahin anbehalten hatte und ließ ihn Savinsky am Arm. Und so schritt sie hochaufgerichtet, mit zurückgelehntem Kopf in ihrem dekolletierten Ballkleid durch die Reihen der sprachlos, mit angehaltenem Atem auf sie blickenden Gefangenen. Sie strahlte in Jugend und Schönheit, wie eine Traumvision und alle blickten ihr noch sehnsüchtig nach, als die Türe sich schon lange hinter ihr geschlossen hatte. Als hätte der letzte Hoffnungsstrahl, der letzte Gruß aus einer besseren Welt, mit ihr den Raum verlassen, so stumm und gedrückt blieben alle zurück. Savinsky war auf seine Bank zurückgesunken und saß unbeweglich, den Kopf in die Hände gestützt, das Gesicht verdeckt. Er war ohne Gedanken und ohne Gefühle . . .
Eine Viertelstunde mochte vergangen sein. Da entstand eine neue Aufregung. Lydia war wieder erschienen! Sie lief zu ihm hin.
»Ich bin frei! Ein sehr höflicher Mann . . . Er hat sich sehr liebenswürdig wegen des höchst bedauerlichen Irrtums entschuldigt. Er wird dich auch gleich verhören. Du gehst gleich mit mir hinunter. Und ich fühle es, hörst du, ganz sicher fühle ich's, daß er auch dich freiläßt.«
Jubel klang aus ihren Worten und als jetzt Savinskys Namen ausgerufen wurde, gingen sie beide den Weg, den Lydia schon kannte.
Zuerst wurden sie wieder in jenen Saal gewiesen, den sie bei ihrer Ankunft vor sechs Stunden schon betreten hatten. Hier erwartete Lydia eine große Enttäuschung, sie durfte nicht mit Savinsky zum Verhör gehen, sondern mußte das Gefängnis ohne Verzug verlassen. Nur ihr fester Glaube, ihn nach wenigen Augenblicken wiederzusehen, gab ihr die Kraft, sich ruhig und unbesorgt von ihm zu trennen.
Einige Sekunden später stand Savinsky dem gefürchteten Uritzki gegenüber, Uritzki, vor dem damals schon ganz Petersburg zitterte. Bei Savinskys Eintritt erhob er sich hinter einem großen Tisch, bei dem er, in das Studium von Akten vertieft, gesessen hatte und kam heran, um ihm die Hand zu reichen. Er war mager, mittelgroß, hatte ein sauber rasiertes, intelligentes Gesicht und seine Bewegungen waren hastig, nervös. Alles in allem ein überarbeiteter, überreizter Fanatiker von jenem Typus, der nicht unelegant wirkenden Intellektuellen. Er sah todmüde aus.
Er bot Savinsky einen Stuhl an, ließ sich selbst wieder hinter dem Tisch nieder und blätterte schweigend in den Akten, die vor ihm lagen. Diese Minuten schienen Savinsky endlos. Er konnte die Angst der Ungewißheit kaum mehr ertragen. Was hatte man gegen ihn für Material? – Alles wäre besser, als dieses Warten . . . Lieber wollte er gleich alles eingestehen . . . Er machte krampfhafte Anstrengungen, seine Nerven in der Gewalt zu behalten und kühle Überlegung zu bewahren . . . Diese Spannung in ihm war qualvoll aufreibend und er fühlte, er konnte sie nicht mehr lange aushalten . . .
Endlich nahm Uritzki einen Stoß Papiere, legte ein Gummiband herum und reichte ihn Savinsky.
»Hier sind Ihre Papiere,« sprach er mit klanglos müder, schleppender Stimme. »Ich gebe sie Ihnen zurück . . . Ich werde Sie in Freiheit setzen. (Savinsky senkte den Blick, damit das Aufleuchten seiner Augen ihn nicht verrate.) Aber, wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen vorher für das Protokoll einige Fragen stellen, die Sie freundlichst eigenhändig mit den Antworten hier niederschreiben wollen . . .«
Das Telephon läutete und er unterbrach sich. Mit müder schwerer Hand nahm er von einem der vier hinter ihm an der Wand angebrachten Apparate die Muschel, hörte eine Weile zu und gab dann einen kurzen Befehl in den Apparat.
Jetzt wandte er sich wieder an Savinsky: »Sie kennen Spaßki?«
»Ja.«
»Schreiben Sie das, bitte, nieder.«
»Standen Sie seit 7. November 1917 mit ihm in Verbindung? Brieflich, durch Mittelspersonen oder direkt?«
»Nein.«
»Schreiben Sie, bitte.«
»Kennen Sie seine jetzige Adresse?«
»Nein.«
»Bitte aufschreiben.«
Die gleichen Fragen wurden bezüglich der kommandierenden Generäle der Donarmee von Savinsky verneinend beantwortet. Plötzlich blieb Uritzki, der während der letzten Minuten mit nervösen Schritten im Zimmer auf- und abgerannt war, knapp vor Savinsky stehen, fixierte ihn scharf und frug rasch, sich ganz nahe vor sein Gesicht herabbeugend: »Kennen Sie Ingenieur Muschin?«
Savinsky faßte sich schon nach dem Bruchteil einer Sekunde und sein »Nein« klang sicher.
Uritzki nahm nun das Protokoll und las es laut vor.
»Wollen Sie unterschreiben? – Sie sind frei.«
Savinsky erhob sich, grüßte und schritt zur Türe. Eben als seine Hand die Klinke berührte, erklang nochmals die matte Stimme des Kommissars hinter ihm: »Es wäre unklug von Ihnen, Nikolaus Wladimirowitsch, Spaßki nochmals zu sehen oder weiterhin Beziehungen welcher Art immer mit ihm oder dem Ingenieur Muschin zu unterhalten. – Ich gebe Ihnen diesen Rat . . . Auf Wiedersehen.«
Savinsky trat aus der Türe, aber während der Entlassungsformalitäten klangen die Worte Uritzkis noch unaufhörlich in ihm nach und es überlief ihn eiskalt. »Welche Unverschämtheit, so zu mir zu sprechen!« dachte er. »Konnte er mir noch deutlicher zu verstehen geben, daß er meinen Aussagen nicht den geringsten Glauben schenke? . . . Dieser Mann spielt mit mir. Die Geschichte ist noch nicht aus.« Seine Freude war verflogen.
Erst als er vor der Präfektur auf der Straße stand, ließ die Angst nach, die ihn neuerlich überkommen hatte. Es war zwölf Uhr. Ein klarer Wintertag; der Schnee in den Admiralitätsgärten glänzte in der Sonne. Nach dem stinkenden Kerker atmete er in tiefen Zügen die kalte, trockene Luft. Zum erstenmal in seinem Leben schien er die Schönheit so eines hellen, kalten Tages empfinden zu können. »O, wie gut! Oh, wie schön ist das!« wiederholte er, unbeweglich vor dem Tore des Gefängnisses stehend.
In diesem Augenblick löste sich eine weibliche Gestalt aus dem Schatten eines gegenüberliegenden Haustores und kam auf ihn zu. Es war Lydia.
Er umarmte sie stürmisch.
»Ich bin glücklich,« rief er. »Wie liebe ich dich!«
Zu Fuß gingen sie heim. Sie meinten einen schweren Traum hinter sich zu haben. Die einzige Wirklichkeit war die strahlende Morgenröte ihrer Liebe. Einige Minuten später verließen sie einander vor dem Palais des Fürsten Volynski. Nachmittags würden sie wieder zusammentreffen . . . Wo? Noch wußten sie es nicht. Ob die Wohnung Savinskys immer noch von den Soldaten besetzt war? – Und selbst, wenn dies nicht mehr der Fall, wäre es nicht unvorsichtig, dort zusammenzukommen? . . . Ach, sie wird anrufen, alles wird sich finden . . .; sie werden einander sehen . . . Alles andere war nebensächlich!
Die alte Anjuschka bereitete ihrem Herrn einen rührenden Empfang. Die Freude, die sie bei seiner Wiederkehr zeigte, bewies, welche Sorge sie um ihn gehabt hatte. Die Soldaten hatten nach einem telephonischen Befehl eben die Wohnung verlassen. Nur noch der hartnäckige Ledergeruch ihrer Stiefel war zurückgeblieben. Während der Koch das Mittagessen richtete, bereitete sie ein Bad, zog ihrem Herrn eigenhändig die Schuhe aus und brachte ihm einen bequemen Hausanzug.
»Gott sei Dank, Barin, Sie sind in Sicherheit und hoffentlich jenes schöne Fräulein auch.«
»Ja, Gottlob, sie ist gerettet,« sagte Savinsky mit Tränen in den Augen.
Nach Tisch warf ihn seine unwiderstehliche Müdigkeit auf den Divan. Er schlief lange und tief und schreckliche Träume lasteten auf ihm. – Er sah ein kleines Mädchen wieder, mit dünnen Beinen und riesigen Knieen; sie lag in den Armen ihrer Mutter und schluchzte ohne aufzuhören . . . Dann kam ein riesiger Mann mit gebogener Nase, der sprang in teuflischem Tanz rings um ihn . . . Und plötzlich blieb er mit einem Ruck vor ihm stehen, starrte ihm in die Augen und frug mit Grabesstimme: »Wollen Sie mir die Adresse von Spaßki geben?« Und während er sprach, schrillten unaufhörlich die Glocken von vier Telephonen . . . Der gellende Lärm wollte gar nicht aufhören. Savinsky, den die starren Augen jenes Mannes unbeweglich auf seinem Platz gebannt hielten, schmerzten die Ohren . . . Und plötzlich wachte er auf, das Telephon auf seinem Tisch hatte ihn geweckt, es läutete unaufhörlich. Er lief zum Apparat. Es war eine Nachricht Semeonows, der ihn bitten ließ, um vier Uhr zu ihm ins Volkskommissariat zu kommen . . . Ein Frösteln überlief ihn; er schüttelte die Erinnerung an den Angsttraum ab, die ihm noch in den Gliedern lag . . . Er blickte aus dem Fenster, schon wurde es dunkel. Es war dreiviertel vier. Er hatte gerade noch Zeit, zu Semeonow zu gehen. Vorher aber rief er noch Lydia an. Wo wollte sie ihn treffen? – Vor fünf Uhr konnte er kaum zu Hause sein, vielleicht sogar würde es noch später werden. Aber sie möge ihn erwarten, Anjuschka werde ihr Tee geben . . . Die helle Stimme Lydias stimmte zu.
Zwanzig Minuten später stand er vor Semeonow in dem großen, gelb und rot gehaltenen Empire-Salon, in dem er sich so oft mit Sassonow unterhalten hatte. Er war voll Groll und fühlte doch gleichzeitig auch Furcht. Die Unverschämtheit dieses Semeonow überstieg doch alle Grenzen! Ihn so mitten in der Nacht verhaften zu lassen, das war wohl das Unerhörteste. Nur das Bewußtsein, daß dieser Mann allmächtig und skrupellos sei, veranlaßte Savinsky, sich zu beherrschen. Noch hieß es Geduld haben! –
Semeonow stürzte ihm entgegen. Seine ganze eisige Zurückhaltung, in die er immer entrückt gewesen, schien er abgestreift zu haben. Er zeigte bei der Erinnerung daran, daß sein Freund Savinsky auf solche Weise verhaftet und ins Gefängnis geschleppt werden konnte, eine wahre Wut. Das war nur die Borniertheit einer selbständigen Abteilung, die ihren Eifer beweisen will und blind darauf loswirtschaftet. Sofort, als er um neun Uhr früh von Anjuschka verständigt worden war, habe er Uritzki ans Telephon gerufen, obzwar dieser nach einer durcharbeiteten Nacht noch geschlafen habe und ihm auf eigene Verantwortung den schärfsten Auftrag gegeben, Savinsky ohne Zögern freizulassen.
»Ich habe erklärt, daß ich für Sie hafte, wie für mich selbst, Nikolaus Wladimirowitsch,« setzte er mit einem erzwungenen Lächeln hinzu. »Sie wissen ja genau, was ich anstrebe. Ich habe offen zu Ihnen gesprochen. Sie sind uns unentbehrlich und eines Tages werden Sie doch mit uns arbeiten!«
Die Begegnung war nur kurz und als Savinsky ihn verließ, konnte er den Eindruck haben, daß Semeonow diesmal aufrichtig gewesen sei und er von nun ab weniger zu fürchten habe. Aber während er seiner Wohnung zuschritt, kamen ihm bald wieder Zweifel. »Ist das nicht auch wieder eine Komödie? Wußte er denn nicht alles schon vorher? Sollte nicht doch er selbst meine Verhaftung veranlaßt haben? . . . Um so einen Druck auf mich auszuüben und mir zu zeigen, wie abhängig ich von ihm bin? – Und Lydia? Muß er nicht wissen, daß sie bei mir war? – Ist es nicht ausgeschlossen, daß er nicht weiß, daß sie mit im Gefängnis war? Will er auch diese Waffe gegen mich gebrauchen?« Endlich fiel ihm auch ein, daß Semeonow über den Grund der Hausdurchsuchung und Verhaftung kein Wort verloren hatte. Keine Anspielung auf Spaßki! Das war verwunderlich und gab zu denken. Es konnte kein Zufall sein, daß er eine Sache von solcher Wichtigkeit schweigend überging. Gerade jetzt, während die Friedensverhandlungen mit den Zentralmächten in vollem Gang waren, verfolgten die Volkskommissare mit größter Aufmerksamkeit alle Vorgänge am Don. Die Stirn Savinskys umwölkte sich. Er schritt rasch mit gesenktem Kopf dahin. Als er aufblickte, war er gegenüber seiner Wohnung. Die Fenster seines Wohnzimmers waren hell. Lydia wartete . . . Alles andere versank. –
Sie lag in seinen Armen, er drückte seine Lippen auf ihren Nacken und atmete den bezaubernden Duft ihrer Jugend. Wog eine Minute, wie diese, nicht alle Schrecken der Nacht und das bittere Erlebnis des Gefängnisses reichlich auf? – Er hört ihr zu. Schon der bloße Klang ihrer Stimme verscheuchte alle Leiden. Sie erzählte von ihrer Ankunft zu Hause, von der Freude, ihr Zimmer, ihre Möbel wiederzusehen, die reine Luft zu atmen, die dort herrscht . . . Und dann das Mittagessen mit ihren Eltern; der Hunger, den sie hatte!
»Mein Vater behauptete, ich habe noch nie so gut ausgesehen. Ich war eine Weile bei ihm, nach Tisch. Ach, kannst du mir's nachfühlen, wie gerne ich ihm gesagt hätte, daß ich dein bin . . . Vielleicht ahnt er es . . . Nein, nein, das ist unmöglich; obgleich er mich manchmal so ansieht, daß ich spüre, er weiß viel mehr von mir, als er eingesteht, auch Dinge, die Geheimnisse sein sollen . . . Eigentlich glaube ich, wünscht er sich nur das Eine: daß ich glücklich sei . . . Auf welche Weise, gilt ihm gleich. Er kennt nur eine Furcht, daß die Zeit, in der wir leben, mich um das Glück bringen könnte, das mir zukommt. Aber natürlich kann er das nur denken, nicht sagen . . . So strömt das nur schweigend von ihm zu mir, Empfindungen ohne Worte . . . Nur Gedanken, die so dahinschweben, weich, zärtlich und stumm. Auch ich wagte nicht zu sprechen und überließ ihn seinen Träumen . . . Und dann schlief ich schrecklich fest, und erst du hast mich geweckt. – Und jetzt endlich bin ich hier bei dir, in deinen Armen, dort, wo ich hingehöre. – Wie liebe ich dich! – Immer schon liebte ich dich, weißt du es denn nicht? – Erinnerst du dich, damals, als ich hinfiel? Du hobst mich auf; ich war ja ganz betäubt und du hieltest mich so fest und doch so zart . . . Ich kam bald wieder zu mir, aber soll ich dir's denn gestehen? Was wirst du wohl von mir denken? – Ich tat so, als wäre ich noch bewußtlos – nur um noch einige Augenblicke von dir gehalten zu werden . . . Und dann hab ich dich so lange nicht gesehen! Wohin warst du nur verschwunden? Du Böser! – Zu Hause hattest du dich eingesperrt, bei deiner Familie . . . Oh, ich könnte dich erwürgen, glaube ich, du, du . . . Sechs Monate warst du verborgen, sechs Monate hast du mich vergessen. Sicher warst du glücklich! Ohne mich . . . Sechs Monate haben wir verloren . . . Sag', ich bitte dich, sag', daß du ohne mich nicht glücklich warst! Nicht wahr, nein? – Aber daß du überhaupt leben konntest! Ohne mich zu suchen, ohne dich um mich zu kümmern! – Der Zufall erst mußte uns wieder zusammenführen . . . Ich wußte natürlich, daß du dort sein wirst . . . Aber du, wußtest du denn überhaupt meinen Namen? Wirklich, daß du mich wenigstens noch erkannt hast! Sag', du dachtest an mich, du hattest mich nicht vergessen, sag's . . .«
»Immer fühlte ich deinen süßen, weichen Körper in meinen Armen.«
Gegen acht Uhr begleitete er sie nach Hause. Die Millionaja war ganz verlassen. Nur an der Ecke des Apothekergäßchens stand ins Dunkel gedrückt eine kleine Gruppe stumm wartender Soldaten in der eisigkalten Nacht. Eine einzige Laterne brannte und beleuchtete für einen Augenblick das lachende Gesicht des jungen Mädchens. Die Soldaten ließen das Paar wortlos vorbei. Savinsky und Lydia waren so erfüllt voneinander, daß sie die lauernden Gestalten gar nicht bemerkten. Nachdem er sich von Lydia vor ihrem Hause verabschiedet hatte, zögerte Savinsky einen Augenblick und entschloß sich dann, doch in den nahen Klub zu gehen, anstatt sofort nach Hause zurückzukehren. Er ahnte dabei nicht, daß er dadurch einer neuen bitteren Erfahrung der Revolutionszeit entgangen war, denn wäre er nochmals an den Soldaten vorbeigekommen, dann hätte er seine Brieftasche, seinen Pelz, seine Kleider und wahrscheinlich auch seine Schuhe in ihren Händen lassen müssen.
Spät schlief er ein und der Duft Lydias, den er noch zu spüren glaubte, begleitete ihn in seine Träume. Es war ein zartes, kaum wahrnehmbares Parfüm, ein Schleier, der heranschwebte und verflog, der kühl und brennend zugleich über die Nerven strich und greifbar fast ihr Bild enthüllte, das nah und näher kam und dann zerrann . . .
Am Morgen, als Anjuschka das Frühstück brachte, legte sie ihm die Zeitungen auf sein Bett und er las fettgedruckt in großen Lettern an der Spitze der Iswestja: »Die Revolution in Finnland. Die bürgerliche Regierung abgesetzt. Die Sowjets im Besitz der Macht.« –
In zitternder Hand hielt er das Blatt. Die finnischen Bolschewiki hatten mit Hilfe der Matrosen und russischen Soldaten einen Staatsstreich vollführt. Helsingfors und der ganze Süden waren in ihrer Gewalt. Die vertriebene Regierung war nach Norden entkommen! –
Savinsky war völlig vernichtet. – Sonja und die Kinder mitten in dem Aufruhr . . . Ohne ihn! Seine Phantasie malte ihm die düstersten Bilder. Soldaten, die die Villa überfluteten . . . Durchwühlen der Zimmer, Weinen der Kinder . . . Sonja, jung und schön, inmitten dieser Horden . . . Ach, hätte er nur nicht solange gezögert! Was gäbe er nicht jetzt darum, sie im ruhigen Schweden zu wissen! Was war noch zu machen? Hineilen? Das war seine Pflicht; und Lydia? Dieser Name wühlte alles in ihm auf. Nein, er konnte das Mädchen nicht verlassen, selbst nicht für einen Tag, ohne vorher mit ihr zu sprechen. Sie hatte jetzt Rechte an ihn und er fühlte, es sei unmöglich, ihr durchs Telephon zu sagen, daß er nach Finnland zu den Seinen reise . . .
Grübelnd irrte sein Blick umher. Grauer Dunst lag vor den Fenstern. Ach, diese niederdrückenden Wintermorgen Petersburgs! Wer vermag sich ihrer bleiernen Schwere zu entziehen? Die stärksten Naturen erwachen mutlos, entkräftet. Das sind die Stunden, in denen das Leben durch die Herzen der Menschen nur so dahinschleicht, ohne Kraft, ohne Wärme, so wie das trübe Licht am grauen Himmel über der Stadt, das sich müht, die allzu lange Nacht zu vergessen und nur mißmutig, zögernd das Dunkel überwindet.
Savinskys verbrauchte Nerven standen ganz im Bann dieser lähmenden Stimmung. Langsam, mühsam, in schwere Gedanken versunken, kleidete er sich an. Gegen elf Uhr ging er wie im Traum zum Platzkommando, denn man mußte jetzt für jede einzelne Reise nach Finnland ein neues Visum haben. Im Paßamt wurde ihm mitgeteilt, daß an diesem Tage keine Visa erteilt würden und daß nur dienstliche Reisen nach Finnland gestattet seien. Er möge am nächsten Tage wieder anfragen . . . Der Zwang, seine Reise zu verschieben, erleichterte fast Savinsky. Er stand vor einer physischen Unmöglichkeit, die ihm wenigstens erlaubte, im Frieden mit seinem Gewissen zu leben! Er war ja so müde, erschöpft und energielos, er wollte sich von der Strömung treiben lassen, weil er keine Kraft mehr fühlte, das Ufer zu erreichen . . .
Bald nach Tisch kam Lydia zu ihm. Sie war in fröhlichster und liebevollster Stimmung. Savinsky ließ sich in die Zauberwelt entführen, die ihre Zärtlichkeit ihm schaffte. Solange sie bei ihm war, blieb alles andere vergessen. Erst als sie wegging, erinnerte er sich daran, daß er von der Revolution in Finnland hatte sprechen wollen. »Ach, morgen ist Zeit genug, wenn ich überhaupt ein Visum bekomme,« sagte er sich aber gleich und begleitete seine Geliebte heim.
Abends sahen sie sich bei Natalie wieder. Es war das erstemal, daß sie in Gesellschaft zusammenkamen, Savinsky wünschte und fürchtete diese Probe! Würde er die Glut seiner Augen bändigen können, wenn er sie anblickte? Und sie, würde sie die Kraft haben, Gleichgültigkeit zu heucheln? Er betrat den Raum und die Erste, die er in dem Kreis erblickte, war Lydia. Sie hatte für diesen Abend das gleiche Kleid gewählt, das sie im Gefängnis getragen hatte, das er in jener Nacht mit fieberheißen Händen gelöst . . . Eine Flut von süßen Erinnerungen stieg in ihm auf; er blieb versunken stehen und erst die Stimme der Hausfrau weckte ihn aus seinen Träumen. Die Worte aber, die sie ihm zurief, ließen ihn verwirrt aufhorchen.
»Nun, Nikolaus Wladimirowitsch, berichten Sie uns schnell ihre Erlebnisse im Gefängnis!«
Bisher hatte es Savinsky für klüger gehalten, von seiner Verhaftung zu schweigen, um so mehr, da ein günstiger Zufall es gefügt hatte, daß er keinen Bekannten in der Präfektur gesehen hatte. Woher konnte es also Natalie wissen? Ein Name zog ihm sofort durch den Sinn: Semeonow. Schon seit langem argwöhnte er ein geheimes Einvernehmen zwischen den beiden . . . Was aber wußte sie wohl alles? Hatte Semeonow auch von Lydia gesprochen? Trotzdem er sich wohl zu beherrschen wußte, fühlte er doch eine aufsteigende Röte. Unwillkürlich blickte er auf das junge Mädchen, das, wie alle Gäste, die ihm peinlichen Worte gehört hatte. Sie strahlte vor Fröhlichkeit. Sicherlich hatte die Erwähnung ihres geheimen Abenteuers in der Gorokhovaja hier vor allen Menschen einen großen Reiz für sie. Ihr Ausdruck ließ vermuten, daß sie, von dem Wunsch getrieben, ein Erlebnis zu bekennen, auf das sie nur stolz war, gleich herausjubeln würde: ich war mit. Savinsky liebte sie dafür um so mehr, aber er kam ihr zuvor und schritt, nachdem er sich rasch gefaßt hatte, mit den gleichgültig hingeworfenen Worten auf Natalie zu:
»Ach, ich bitte Sie, das ist doch so unwichtig, daß ich es gar nicht der Mühe wert finde, darüber zu sprechen. Paar Stunden oder paar Tage in der Gorokhovaja, – wem ist das nicht schon passiert und wem wird es nicht passieren?«
Aber Natalie und ihre Gäste wollten alle Einzelheiten hören und so mußte er nachgeben. Über alles mußte er Auskunft geben. Nur Lydia stellte keine Fragen. Sie hörte zu, schaute Savinsky aufmerksam an und nickte hier und da mit dem Kopf, als wollte sie die Richtigkeit seiner Worte bestätigen. Erst hatte er nicht gewagt, sie anzublicken; langsam wurde er kühner und schließlich umschloß er sie mit seinen Blicken und träumte sie, wie einige Stunden früher, in seinen Armen. Das Kleid, in dem sie vor ihm saß, das nur ihre noch so kindlichen Arme und den Hals mit dem Ausschnitt an der Brust freiließ, fiel in seinen Gedanken, und Lydia war nur von zarter Wäsche bekleidet, die weich ihre schlanke Gestalt umschloß . . . Er stockte jetzt in seiner Rede, wiederholte schon Gesagtes und brach schließlich kurz ab.
Natalie zeigte lebhafte Neugier.
»Sie sind der erste aus unserem Kreis, der verhaftet wurde. Das ist eine große Ehre.«
»Ich hätte sie gerne anderen überlassen,« erwiderte Savinsky ziemlich barsch. »Ich glaube, diejenigen, die ein ähnliches Abenteuer vermeiden wollen, täten gut daran, über die Grenze zu gehen.«
Natalie lachte ihn aus. Warum heute so pessimistisch? Die gegenwärtige Lage dauere doch schon viel länger, als man jemals vermutet hätte. Wer hätte gedacht, daß sich die Bolschewiki drei volle Monate halten würden? Ihr Streich hatte damals doch nur gelingen können, weil sie die ungebildeten Leute täuschten. Aber heute? Jeder Fabrikarbeiter und der allerletzte Muschik sehen es ein, daß sie nur alles zugrunde gerichtet haben; mit einemmale werden sie weggeblasen sein, wie Kerenski . . .
»Wenn nicht vorher noch die Deutschen kommen und ihre Rechnung präsentieren,« unterbrach Iwan Schupow. »Das ist der wahrscheinlichste Fall!«
Savinsky hörte nicht weiter zu. Er bemühte sich in Lydias Nähe zu gelangen. Aber nur ein paar Worte konnte er ihr unbelauscht zuflüstern:
»Wenn du wüßtest, wie ich mich danach sehne, dich jetzt mit mir nach Haus zu nehmen . . .« –
Am nächsten Morgen, als wieder die düsteren Gedanken in ihm herrschten und die Sorgen, die ihn am Vortage bestürmt hatten, mit neuer Gewalt auf ihn einströmten, wurde er gegen zehn Uhr durch einen Brief seiner Frau freudigst überrascht. Ein Kondukteur der Finnländer Strecke brachte ihn. Sonja schrieb, daß die Revolution bei ihnen keinerlei Unruhen verursacht habe, die kleinen Sommerfrischen zwischen Wiborg und der Grenze seien völlig unberührt geblieben. Es scheine fast, als wollte die bolschewistische Zentrale Finnlands die bürgerliche Bevölkerung nicht beunruhigen, sogar die Züge verkehrten ganz wie immer. Er brauche sich daher für den Augenblick keinerlei Sorgen zu machen. Sie hoffe, daß er in absehbarer Zeit seine Angelegenheiten erledigt haben werde, damit sie alle zusammen nach Schweden reisen könnten. –
Der Brief war in jener ruhigen Art gehalten, die Sonja stets an sich hatte; herzlich, klar, aufrichtig und ohne Klagen, wie immer. Savinsky fühlte während des Lesens eine innige Rührung. Wie bewundernswert war doch diese Frau! Es schien, als wäre es ihr Lebenszweck, ihm alle Schwierigkeiten und Mühen abzunehmen. – Dieser Schicksalsschlag war also abgewendet! Gottlob, seine Familie war nicht in Gefahr, und so durfte er ohne Selbstvorwürfe in Petersburg bleiben . . . Eine Nachschrift fand er noch am Rande. »Du kannst mir durch den Überbringer eine Nachricht zukommen lassen. Er ist verläßlich. Seine Frau und seine Kinder wohnen in unserer Nähe und ich kümmere mich viel um sie.«
Savinsky ließ den Kondukteur, der gewartet hatte, hereinkommen.
»Sie können für meine Frau einen Brief mitnehmen?«
»Gewiß, Euer Gnaden. Ich fahre zurück, um elf Uhr. Wenn Euer Gnaden einen Brief vorbereiten wollen, würde ich ihn um acht Uhr abholen.«
»Ich erwarte Sie. Kommen Sie bestimmt!«
Alleingeblieben, begann Savinsky gedankenvoll in seinem Zimmer auf und ab zu wandern. Lange tat er nichts anderes und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Als er mit seinem Plan endlich im reinen war, ließ er sich bei seinem Schreibtisch nieder und begann den Brief seiner Frau zu beantworten. Er sandte ihr die Pässe, für sie, für die Kinder und die Zofe, die für Schweden und England ausgestellt waren. Er bat sie dringend, die wenigen Tage der Ruhe, die sie noch zur Verfügung hatte – das Beispiel des friedlichen Beginns der russischen Revolution warnte sie ja zur Genüge – zu benützen, um Abo zu erreichen, und von dort mittels Schlitten über das Eis nach einem Hafen der Alandsinseln zu gelangen, von wo Schiffe nach Schweden verkehren. Die Reise sei in kurzen Strecken zu machen und dann unbeschwerlich. In drei Tagen könnten sie ohne Ermüdung und ohne Gefahr in Sicherheit sein. Er sende ihr auch die nötigen Briefe an die Banken in Schweden und London, bei denen er sein Vermögen deponiert habe. So werde sie sorglos leben können. Er selbst hoffe, bei erster Gelegenheit nachzukommen, vorläufig sei zwar die Grenze gesperrt, aber das könne nicht lange andauern. Dank seinen Beziehungen im Volkskommissariat hoffe er in Kürze einen Auslandspaß zu bekommen. (Ganz in Gedanken versunken, schrieb Savinsky diese Phrase nieder, ohne die Ironie, die darin lag, zu bemerken.) Nachrichten möge sie ihm durch den schwedischen Kurier zugehen lassen; er werde den gleichen Weg benützen, um ihr Briefe zu senden. Es sei leider keine Zeit, um diesen Plan, den er reiflich erwogen habe, noch mit ihr zu beraten, und er rechne zuversichtlich damit, daß sie ohne Zeitverlust danach handeln werde. – Sein Brief war zärtlich und herzlich, aber auch sehr entschieden. Bis nach Tisch war er noch mit der Abfassung aller Vollmachten beschäftigt, die seiner Frau die freie Verfügung bei den Banken sichern sollten.
Als alles geordnet war, blieb er nachdenklich in sein Fauteuil gelehnt. Er fühlte eine Befreiung von seiner drückendsten Sorge. Es war, als atme er jetzt die reinere, leichtere Luft eines anderen Planeten. Alles ordnete sich doch immer in ganz unverhoffter Weise. Seine Frau und seine Kinder waren außer Gefahr und auch die materiellen Fragen waren bestens geregelt. Keinen einzigen Augenblick dachte er an die Gefahren, die ihn selbst in Petersburg bedrohten. Denn ihm war ja Petersburg die einzige Stadt der Welt, in der er leben konnte. Hier mußte er bleiben, um sein Geschick zu erfüllen, und ein gütiger Gott war es, der eben eine Seite in seinem Lebensbuch umgeblättert hatte . . . Und doch lag ein leiser Hauch von Wehmut, wie ein in der Ferne zitternder Geigenton, über seiner Stimmung.
Ein Glockenzeichen erklang, Lydia war gekommen.