Claude Anet
Lydia Sergijewna
Claude Anet

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Zweiter Teil

An diesem Abend, es war der 6. November, ging Nikolaus Savinsky schon vor Mitternacht nach Hause. Er hatte einige Stunden bei Natalie Schupow-Karamin verbracht. Eine besondere Unruhe hatte sich dort der Gesellschaft bemächtigt. Einige Male während des Abends hatte man alarmierende Neuigkeiten telephoniert: die Bolschewiki wären im Begriffe, einen Gewaltstreich zu unternehmen, ihre Truppen seien in Bereitschaft, sie hätten sich schon des Haupttelegraphenamtes bemächtigt, zur Verteidigung des Winterpalais habe man niemand, außer einem Frauen-Bataillon gefunden!

Diese Gerüchte, deren Überprüfung nicht möglich war, machten die Leute ganz irre und Savinsky hielt sich bei den Schupows nicht länger auf. Er machte sich sogar Vorwürfe überhaupt hingegangen zu sein. Aber der Grund war, daß er abends nicht mehr allein zu sein vermochte. Die Einsamkeit seiner Wohnung vertrieb ihn; Bücher vermochten ihn nicht mehr abzulenken, seine Gedanken schweiften ab, um immer wieder in den gleichen einförmig trüben Kreislauf zu verfallen. Der Zustand Rußlands war der Gegenstand seiner bitteren Betrachtungen; er überdachte ihn jetzt nicht mehr objektiv. »Was tue ich hier?« frug er sich unaufhörlich. »Wozu bleibe ich noch? Die Atmosphäre der Revolution ist wirklich unerträglich. Ich muß mich aufraffen und Rußland verlassen.« Und doch wußte er im Innersten, daß er dies nie tun würde. Was aber war es nur, das ihn in dieser sterbenden Stadt zurückhielt? Seine Geschäfte? Sie waren so gut geordnet, als es unter diesen beklagenswerten Umständen nur irgend möglich war. »Ich habe genug, um auch im Ausland leben zu können,« sagte er sich, »und da ich doch auch meinen Kopf mitnehme, kann ich nötigenfalls immer noch Geld verdienen, denn zu etwas anderem tauge ich doch nicht mehr. Das wäre klug und vernünftig! Und ich? Ich bleibe trotzdem hier. Ist es Neugier, die mich hier festhält, hier, wo ich schließlich noch mein Leben gefährde? Das hieße das Verlangen, die Dummheiten meiner Mitbürger mit eigenen Augen ansehen zu wollen, recht teuer bezahlen!« Wenn er es recht überlegte, sah er nur Gründe, die für die eheste Abreise sprachen. Aber obwohl sich diese immer mehr häuften und trotzdem er sie nicht zu widerlegen vermochte, fühlte er doch tief in sich einen geheimnisvollen, unbegreiflichen, aber unüberwindlichen Trieb, der ihn an dieses jämmerliche Leben in Petersburg kettete. Müde von seinen Kämpfen, seinem Grübeln, hatte er es schließlich aufgegeben, sich diese unlösbaren Fragen vorzulegen. Nach langem Widerstreben hatte er sich entschlossen der Rückkehr seiner Frau und Kinder zuzustimmen. Die Briefe Sonjas ließen eine so tiefe Traurigkeit erkennen, daß sie ihn bestimmten, ihr zu schreiben, sie möge zwischen dem zehnten und fünfzehnten November heimkehren. »Es ist gewiß ein Unsinn,« sagte er sich, »aber ich kann nicht anders. Bei dem kleinsten Alarmzeichen werden wir über die Grenze gehen. Vielleicht wird die Anwesenheit meiner Frau und meiner Kinder dazu beitragen, das gestörte Gleichgewicht meiner Nerven wieder herzustellen. In dieser großen Wohnung allein zu leben ist unerträglich.«

Die Abende verbrachte Savinsky im Klub oder bei Freunden. Oft war er bei Natalie Schupow. Dort traf er Politiker, Geschäftsleute und die elegantesten Frauen der Stadt. Doch der Kreis wurde langsam kleiner; täglich hörte man von diesem oder jenem, der plötzlich und ganz im geheimen Rußland verlassen hatte. Und noch gestern war er hier unter ihnen gewesen, hatte mit den anderen gescherzt und gelacht! Wer hätte es ahnen können, daß seine Nerven schon so weit erschöpft seien, daß er dieses Leben der Erwartung und Angst keinen einzigen Tag mehr zu ertragen vermochte? Dann pflegten die Zurückgebliebenen, trotz des Lächelns und der sorglosen Miene, die sie stets zur Schau trugen, einer den anderen prüfend zu mustern, und jeder stellte sich selbst die Frage: Wer von uns wird wohl morgen fehlen?

So waren alle Beziehungen der Menschen, die in Gesellschaft zusammenkamen, bewußt und durchschaut unaufrichtig. Die einzige Person, die ihm ehrlich und aufrichtig schien, war seine kleine Freundin Lydia, die er jeden Abend bei den Schupows traf. Eine eigenartige Freundschaft, in die sich viel Zärtlichkeit mengte, verband ihn mit ihr. Es war ein ganz neues, unbekanntes Gefühl, das einen unerklärlichen Reiz hatte. Er merkte, daß Lydia in ihm den starken, selbstbewußten Mann sah, der von jener Unentschlossenheit, in die alle anderen, die sie kannte, verfielen, frei war. Sie glaubte ihn stolz und sicher, als einen, der stets den Ereignissen überlegen sein müsse. »Auch das ist unwahr, wie alles übrige,« dachte er, »aber es ist doch angenehm, daß ein so reizendes Köpfchen so ein schmeichelhaftes Bild von mir birgt. Wenn dieses entzückende Kind aber alle die Zweifel kennen würde, die mich quälen, meine wahre Schwäche und die Unfähigkeit, allein zu sein, dann würde sie vielleicht sehr schnell ihre Meinung ändern . . . Sie glaubt, daß ich keine Furcht kenne. Welcher Irrtum! In Wirklichkeit gibt es nichts in der Zukunft, vor dem ich keine Angst hätte; ich habe die Phantasie eines richtigen Feiglings. Wenn ich jetzt noch eine anscheinend gute Haltung bewahre, so danke ich dies nur meiner kräftigen Gesundheit. Vielleicht ist es auch ein Gebrechen in mir selbst, daß ich die unmittelbare Gefahr noch nicht zu erkennen vermag . . . Ja, ich werde ihr das alles bei unserer nächsten Begegnung erklären müssen. Sie ist so klug und verständig, daß sie mich gewiß begreifen wird. – Was wird wohl aus ihr werden? Sie wird natürlich heiraten. Einen Idioten heiraten, das ist nicht zu vermeiden. Und in einigen Jahren wird sie jenes Leben führen, das schließlich all den schönen, jungen, verführerischen Frauen, die ihren Mann verachten, übrig bleibt . . . Wen wird sie wohl wählen? Paul, ihren Vetter? Der ist ein Kind. Spaßki, der ihr den Hof macht? Das wäre eine richtige Revolutionsehe. Der alte Fürst würde das nie überleben. Oder einen jener jungen Attachés, die so korrekt und vornehm sind und durch ihr Leben im Ausland jede Spur einer eigenen Persönlichkeit verloren haben? Sie wird sehr reich sein, wenn nicht in dem Sturm, der über uns kommt, alles zerschellt.« In solchen Selbstgesprächen war Savinsky über die Troitzkibrücke geschritten. Von weitem hörte er einige Gewehrschüsse. Es war nichts mehr Ungewohntes, solche Schüsse in dem nächtlichen Petersburg zu hören. Die Straßen waren nichts weniger als sicher und die Überfälle des Nachts mehrten sich. Man schenkte dem allen fast keine Aufmerksamkeit mehr. Immerhin entspannte seine rechte Hand doch den Revolver in der Tasche.

»So wären wir glücklich in jene von Stendhal so gepriesenen Zeiten der italienischen Renaissancerepubliken zurückgeworfen, als das Leben von jedem, der abends ausging, gefährdet war und man nur bis an die Zähne bewaffnet das Haus verließ. Stendhal behauptet, daß vor allem diese ununterbrochene Lebensgefahr jene starken Persönlichkeiten des damaligen Italiens erstehen ließ. Wird dies vielleicht auch für meine Zeitgenossen eine nützliche Schule sein? Bis jetzt sehe ich allerdings noch nicht, daß es wohltätig auf sie gewirkt hätte. Sie scheinen mir eher noch neurasthenischer und furchtsamer als je zuvor.«

In diesem Augenblick bemerkte Savinsky nicht weit vor sich auf der Straße einen Trupp Menschen herankommen. Als sie sich genähert hatten, erkannte er, daß es etwa sechzig marschierende Soldaten seien. Sie zogen in guter Ordnung, ohne zu sprechen, vorbei und ihre Lautlosigkeit mit dem dumpfen Klirren der Waffen hatte etwas Drohendes an sich. Fünf Minuten später begegnete Savinsky einer zweiten größeren Truppe, die ebenso schweigsam in dunkler Nacht den inneren Bezirken zumarschierte. Ihr Anblick hatte etwas Ungewohntes. Die Soldaten hielten sich stramm, sie defilierten gut ausgerichtet und ihr gleichmäßiger Tritt klang rhythmisch in der stillen Nacht. Seit dem Umsturz hatte Savinsky noch niemals so militärisch aussehende und so diszipliniert wirkende Soldaten gesehen. »Was mag das sein?« frug er sich. »Sollte die Regierung im geheimen verläßliche Truppen von der Front berufen haben und will sie heute Nacht die Bolschewiki überrumpeln? Das würde unserem teuren Alexander Feodorowitsch Kerenski gar nicht ähnlich sehen! Oder ist das Lenins Staatsstreich?«

Indessen war er bei seinem Hause angelangt, sein Geist war wohl noch von diesen rätselhaften Nachtmärschen angeregt, er suchte aber nach keiner Erklärung, legte sich nieder und schlief ein. Das letzte Bild, das vor seinen Augen stand, war Lydia, wie sie in Schupows Salon saß, zu ihren Seiten Spaßki, der mit besonderem Ernst sprach und der Hausherr, der Witze erzählte. Die Anwesenheit Schupows so nahe bei dem jungen Mädchen, empfand er besonders unangenehm. –

Als er am nächsten Morgen in sein Bureau ging, begegneten ihm wieder zahlreiche Abteilungen Soldaten und Matrosen mit geschulterten Gewehren, die in ganz kriegerischer Weise vorbeizogen. Kaum in der Bank angelangt, erfuhr er die überraschende Neuigkeit, daß die Bolschewiki während der Nacht, ohne dem geringsten Widerstand zu begegnen, die Telegraphenzentrale und andere wichtige Objekte besetzt hatten, daß die Regierung im Winterpalais belagert werde und daß Kerenski, der geschickter als seine Ministerkollegen gewesen war, geflohen sei. Also gehörte die Stadt tatsächlich den Bolschewiki.

Das Telephon auf Savinskys Tisch blieb nicht eine Minute ruhig, und er hatte den ganzen Vormittag keinen Augenblick Muße, um alles zu überdenken. Die Mitteilungen, die ihm zukamen, wurden immer erregender. Die Bolschewiki hatten sich wirklich Petersburgs, ohne einen einzigen Schuß abzufeuern, vollkommen bemächtigt. Die Nullen der Regierung hatten auch nicht einmal die bloße Geste eines Widerstandes versucht. Soldaten und Matrosen waren zu den Bolschewiki übergegangen. Bloß die Regimenter Preobraschenski und Semeonowski zögerten noch und blieben in ihren Kasernen. Man fügte hinzu, daß sie nicht sonderlich erregt seien und ihre Zeit mit Kartenspiel zubrächten. Lenin, der vor einigen Tagen im geheimen nach Petersburg zurückgekehrt sei, werde gemeinsam mit Trotzki noch an diesem Abend dem zweiten allrussischen Sowjetkongreß präsidieren und dabei den Regierungswechsel verkünden. Das Smolnyinstitut, eine Gründung von Katharina der Großen, die dort die Töchter des Adels erziehen ließ, sei der Sitz der neuen Machthaber. Gegen Mittag schon berichtete man – woher wollte man es wissen? – daß Kerenski die Kosaken des Generals Krasnow erreicht habe und an deren Spitze gegen die Hauptstadt marschiere. Savinsky hatte zehn Besucher. Alle, die zu ihm kamen, waren fassungslos vor Angst. Diesmal waren es keine bloßen Scherze mehr, jeder war davon überzeugt, daß die Herrschaft Lenins, wie kurz sie auch sei, eine fürchterlich blutige sein werde. Schupow-Karamin kam herbeigestürzt, um Geld zu beheben; sein bleiches Gesicht zeigte dunkle Flecken, als wenn der Blutlauf in seinem schweren Körper stocken würde.

»Wissen Sie schon, daß die finnische Grenze gesperrt ist?« rief er. »Wir stecken in einer Mausefalle! Es bleibt uns nichts übrig, als hinzugehen und uns vor den Smolnyleuten ehrfürchtig zu verneigen. Ich will versuchen, mein Geschäft mit der schwedischen Gruppe abzuschließen und schauen, bei der ersten Möglichkeit nach Stockholm zu entkommen.«

Er ging zu Fuß, vermied den Newski-Prospekt, indem er seinen Weg durch Seitengassen nahm und lief mit aller Geschwindigkeit, deren seine kurzen, dicken Beine fähig waren, nach Hause, um sich in seiner Wohnung einzuschließen.

Der Anblick so vieler furchtverzerrter Gesichter löste bei Savinsky eine entgegengesetzte Wirkung aus. Statt sich durch die allgemeine Panik mitreißen zu lassen, wurde er ganz ruhig und betrachtete die Situation kühl überlegend. »Es war nicht zu vermeiden!« sagte er sich. »Jetzt heißt es bloß darüber nachdenken, wie man sein Leben einrichtet, bis man einen Paß fürs Ausland erhält. Es ist wirklich nicht wahrscheinlich, daß jetzt sofort eine Ära der unbestechlichen Tugend beginnen wird. Die Macht des Rubels wird vorläufig noch in den Ämtern wirksam sein.« Er dachte mit einer wahren Erleichterung daran, daß seine Frau in Finnland in Sicherheit sei. Aber welche Angst und Sorgen wird sie bei der Nachricht von den Petersburger Ereignissen fühlen! Er mußte ihr unbedingt Nachrichten zukommen lassen. Und plötzlich fuhr er auf. Was war aus seiner kleinen Freundin Lydia geworden? Sicherlich lief sie in der Stadt herum. Er eilte ans Telephon und verlangte ihre Nummer. Man sagte ihm, sie sei ausgegangen. Kaum hatte er abgeläutet, als ein Diener ihm meldete, daß eine Dame ihn zu sprechen wünsche. Sie heiße Lydia Sergijewna Wolynskaja. Savinsky eilte zur Türe.

Ein wenig zögernd, das von Kälte und Befangenheit gerötete Gesicht in ihren Pelz vergraben, trat Lydia ein. Ihre großen, blauen, so klaren Augen verrieten keine Angst, nur schüchterne Verlegenheit, und doch schien es Savinsky, als ob ihre Unterlippe, die in der Mitte so reizend gespaltete Unterlippe, ein wenig bebe. Von einer unbewußten Regung geleitet, die er nicht zu unterdrücken dachte, umschlang er mit seinem linken Arm ihre zarte Gestalt und zog sie an sich. Er brummte gutmütig mit ihr, wie ein Vater, der seinem liebsten Kind zärtliche Vorwürfe macht.

»Aber, kleines Mädchen, was suchen Sie heute in der Stadt? Welcher Teufel treibt sie wieder neugierig herum? Jetzt werden Sie aber schnell nach Hause gehen und nicht eher wieder die Straße betreten, bevor ich es Ihnen erlaube.«

Lydia lächelte. Beim Eintreten hatte sie kaum zu denken gewagt, jetzt aber wußte sie, daß Savinsky ihr sowohl ihr Ausgehen, wie auch ihr ungebetenes Eindringen in sein Bureau verzieh. Stolz auf ihren Erfolg, sprach sie mit einem kleinen Unterton von Prahlerei.

»Aber, Nikolaus Wladimirowitsch, die Stadt war doch nie so ruhig wie heute. Es herrscht die allergrößte Ordnung, keine Zusammenrottungen, keine Versammlungen, Militärpatrouillen – ganz wie zur Zeit des Zaren . . . Übrigens,« fügte sie scherzend hinzu . . . wollte ich ja nur hören, was Sie über all die Neuigkeiten denken. Ich selbst verstehe ja nichts davon.«

»Was ich denke, ist, daß Sie jetzt zu Hause sein sollten. Oder glauben Sie, daß man Revolutionen nur veranstaltet, um den neugierigen, kleinen Mädchen von Petersburg eine Abwechslung zu bieten? Ich werde Sie zu Ihrem Vater zurückbringen. Vielleicht finden wir einen Wagen. Mein Auto haben die Bolschewiki leider aus der Garage weggenommen. Wahrscheinlich sitzt jetzt Semeonow an meiner Stelle darin.«

Er wurde durch ein Klopfen unterbrochen und ein Diener brachte ihm einen verschlossenen Brief. Savinsky erbrach ihn, las und überlegte einen Augenblick.

»Treten Sie indessen hier ein,« wandte er sich dann an Lydia und öffnete die Türe zu einem Nebenraum. »In zwei Minuten bin ich wieder frei.«

Lydia ging langsam durch die von Savinsky gehaltene Türe und dieser ließ, kaum war sie verschwunden, seinen neuen Besuch, der niemand anders als Andreas Spaßki war, eintreten.

Savinsky konnte sofort bemerken, daß Spaßki seine gewohnte Kaltblütigkeit nicht im geringsten verloren hatte. Er war ebenso ruhig, wie immer und seine Mienen verrieten keine Spur von Nervosität.

»Ich bin rechtzeitig telephonisch gewarnt worden,« erzählte er, »und habe, ohne mich eine Minute aufzuhalten, meine Wohnung verlassen. Es scheint, daß die Bolschewiki mir die Ehre erweisen, auf meinen Kopf einen Preis auszusetzen. Jetzt eben sind sie bei mir zu Hause. Aber leicht werden sie mich nicht bekommen.«

»Was wollen Sie tun?«

»Zunächst mich verstecken. Gottlob stehen mir mehrere sichere Freunde zur Verfügung und außerdem habe ich einen vorzüglichen Paß.«

Er zog ein öfter gefaltetes Blatt aus seiner Tasche und zeigte Savinsky einen mit vielen Stempeln bedeckten Paß, der auf Ingenieur Paul Pawlowitsch Muschin, achtunddreißig Jahre alt, lautete.

»Ich werde zu Krasnow gehen. Das dürfte nicht zu schwierig sein. Krasnow wird zu mir mehr Vertrauen haben als zu Kerenski, den er verachtet. Vielleicht werden wir Petersburg zurücknehmen; kämpfen tun diese Schelme ja nicht gern.«

Spaßki lächelte sorglos während er sprach.

»Aber haben Sie denn Geld?« frug Savinsky.

»Ich habe genug. – Ich gehe jetzt. Meine Anwesenheit ist kompromittierend, man darf mich nicht bei Ihnen finden. Ich werde Ihnen durch einen meiner Leute Nachrichten zukommen lassen. Er wird im Auftrage des Ingenieur Muschin kommen. Sie selbst haben, glaube ich, augenblicklich nichts zu fürchten. Semeonow fühlt, daß er Sie brauchen wird. Auch im schlimmsten Fall haben Sie immer noch einige Wochen Schonzeit. Auf Wiedersehen, Nikolaus Wladimirowitsch, denn wir werden uns wiedersehen!«

»Gott schütze Sie!« erwiderte Savinsky, ihn zur Türe geleitend.

Alleingeblieben wartete Savinsky noch einige Minuten. Er blickte durch das Fenster. Spaßki ging gemächlich, ohne sich zu eilen, den Newski hinunter, er hatte die Hände in die Taschen vergraben und hielt eine Zigarette im Mund.

Lydia war von der guten Laune überrascht, in der Savinsky sie zurückrief. Sie hatte sich also doch nicht in ihm getäuscht; er bebte nicht in kritischer Stunde, er raufte sich nicht jammernd die Haare! Und wieder fühlte sie jenes Geborgensein in seiner Nähe, wie sie es auch vor sechs Monaten, in seinen Arm gelehnt, empfunden hatte. Auch diesmal führte Savinsky sie nach Hause. Sie nahmen einen Iswostschik, der den Newski entlang trottete. Das Wetter war schön und klar, auf den Fußsteigen war das gewöhnliche Gedränge. Niemand schien sich dessen bewußt zu sein, daß ein Gewaltstreich in der Nacht gelungen war und daß die Macht den Bolschewiki gehörte, jener Partei, die Bürgerkrieg und Kommunismus auf ihr Programm gesetzt hatte! Petersburg brauchte Schüsse in den Straßen und Pulvergeruch, um sich nach sechsmonatlicher Revolution noch erregen zu können. Indessen aber war alles ruhig. Militärpatrouillen durchzogen in bester Ordnung die Stadt. Um die Tragweite der Ereignisse der letzten Stunden richtig einzuschätzen, hätte es eines großen Aufwandes an kühler Überlegung und Voraussicht bedurft, wer aber von all diesen müden und entnervten Menschen war wohl eines solchen Aufwandes noch fähig?

Der Wagen führte sie den Newskiprospekt hinunter. Bei der Morskaja angelangt, sahen Lydia und Savinsky, daß die Straße links bei der Telephonzentrale von Truppen gesperrt sei. Der Kutscher bog nach rechts ab, um durch den mächtigen Torbogen den Schloßplatz zu erreichen. Aber als sie herangekommen waren, wurden sie hier von Junkern aufgehalten. »Kein Durchgang!« Als Lydia die Uniform der Junker erkannte, ward sie bleich vor Schrecken.

»Gott sei Dank, daß mein Vetter seit gestern krank ist und nicht ausgehen kann. Wie hätte ich es ertragen können, wenn ich gewußt hätte, daß er hier dabei ist?«

Savinsky suchte sie zu beruhigen.

»Man wird nicht kämpfen. Man kämpft ja niemals. Man wird verhandeln und alles wird friedlich enden. Sie wissen doch ganz gut, wie man solche Sachen bei uns austrägt.«

Sie konnten nur durch den Kordon einen Blick auf den großen Platz vor dem Winterpalais werfen, den sie jetzt ganz verlassen sahen und waren gezwungen, wieder umzukehren und den Moikakanal entlang zu fahren. Hier begegneten sie einer Abteilung ganz junger Soldaten, kaum erwachsen, mit der Schützengrabenkappe auf dem Kopf, die eben von der Front angelangt schienen. Als der Wagen hielt, um sie vorüberziehen zu lassen, frug Savinsky einen Unteroffizier, wohin sie gingen.

Der Mann antwortete in gleichgültigem Ton: »Wir haben Befehl, das Winterpalais, in das die Regierung geflüchtet ist, zu verteidigen.«

Er hatte mit müder, tonloser Stimme gesprochen und ging dann achselzuckend weiter.

Savinsky beobachtete mit höchstem Erstaunen, daß die Truppen des revolutionären Komitees, die die kleine Brücke besetzt hielten, die Frontsoldaten ohne weiteres vorbeiließen und daß diese, ohne auch nur angehalten zu werden, über den leeren Platz zogen und schließlich im Hauptportal des Winterpalais verschwanden.

Er wandte sich wieder zu Lydia, die jetzt lächelte.

»Sie haben recht,« sagte sie, »würde man nicht meinen, daß es sich hier nur um einen Umzug, eine Zirkusparade handelt? . . . Man kann dies alles wirklich nicht ernst nehmen. Hier, diese Buben, mit ihren Kappen, schlampig und ohne Disziplin, dort die Matrosen, die sie vorbeiziehen lassen, als wäre alles im voraus abgemacht, alles das ist so ohne jede Würde, Nikolaus Wladimirowitsch . . . Oder bin ich vielleicht doch noch zu jung, um es zu verstehen?« fügte sie mit jenem aufrichtigen und ungekünstelten Ton hinzu, der so tief in ihr Wesen blicken ließ.

»O nein, mein erwachsenes Fräulein, denn das sind Sie, es ist doch keine Spielerei, wie Sie glauben. Es braucht sehr wenig, ja ein Nichts, um diese lächerliche Szene in eine tragische zu verwandeln. – Aber unter allen Umständen müssen Sie mir versprechen, was immer auch geschehen mag, heute schön vernünftig zu Hause zu bleiben. Vor dem Abendessen werde ich einen Augenblick vorbeikommen, um Ihnen zu berichten, was vorgeht, aber bis dahin müssen Sie brav sein. Suchen Sie Ihre Puppen heraus, sie werden ja nicht sehr weit sein und spielen Sie mit ihnen. Das ist heute viel gescheiter, als in den Straßen herumzulaufen.«

Lydia wurde ernst.

»Nun gut,« erwiderte sie, »aber auch Sie müssen mir versprechen, nicht unvorsichtig zu sein und sich nicht unnötig Gefahren auszusetzen. Über Paul, der krank zu Hause liegt, bin ich beruhigt. Ich möchte jetzt nicht Ihretwegen unruhig sein. Sie müssen in Ihrer Bank bleiben und sofort, wenn Unruhen sind, durch die kleinen Seitenstraßen nach Hause eilen und mich anrufen . . . Ach, ich vergesse ganz, daß Sie ja über diese schreckliche Troitzkibrücke müssen. Das ist ja die allergefährlichste Stelle. Also, wenn Straßenkämpfe sind, müssen Sie eben bei uns schlafen. Sie wissen ja, durch die Millionaja können Sie herein.«

Es war etwas Ernstes, Drängendes in ihrer klaren Stimme, das Savinsky tief berührte. Er wehrte sich gegen die Ergriffenheit, die ihn übermannen wollte und zwang sich zu scherzender Antwort:

»Sie sprechen, wie eine Großmama zu ihrem Enkelkind. Das verjüngt mich geradezu, Lydia Sergijewna. Aber seien Sie nur ganz unbesorgt, ich bin ein großer Feigling und wünsche mir gar keine Abenteuer. Bei dem geringsten Lärm lasse ich mich in eines unserer Safes einsperren und warte dort so lange, bis alles wieder ruhig ist.«

Er verließ sie vor ihrer Türe auf dem menschenleeren Schloßquai. –

Das Mittagessen bei Volynskis verlief gegen alle Erwartungen äußerst fröhlich. Der Fürst fühlte sich wohler, als an den vorhergegangenen Tagen und der Staatsstreich, von dem er vormittag Kenntnis erhalten hatte, bereitete ihm sogar eine besondere Freude. Der Gedanke, daß jene Verbrecher, die den Kaiser gestürzt hatten, nun ihrerseits vertrieben und im Winterpalais eingesperrt seien, erfüllte ihn mit lebhafter Genugtuung.

»Es gibt eben doch noch eine Gerechtigkeit, meine Teure,« sagte er zu seiner Frau, als er sich zu Tisch setzte. »Ich bedaure nur eines: daß Kerenski fliehen konnte. Man muß zugeben, daß er schlau ist. Jedesmal, wenn es brenzlig wird, verschwindet er, wie ein Geist in der Versenkung. Hat er's denn im Juli anders gemacht? – Die übrigen aber sitzen schön in der Falle! Man wird sie in die Newa werfen und wie Ratten ersäufen. Das ist der Anfang vom Ende! Das nächste Mal kommt die Reihe an Lenin und Trotzki. Dann wird die Sühne vollendet sein. Indessen aber wollen wir zur Feier dieses großen Ereignisses eine gute Flasche leeren.«

Er ließ Champagner auftragen und bestand darauf, daß Lydia ein ganzes Glas leere. Dann trank er General Wasiliew zu. Seine tiefliegenden Augen blitzten unter den hochgewölbten Brauen. Oft schüttelte ihn ein heftiger Hustenanfall, dann fühlte er in seinem kranken Beine heftige Schmerzen und fluchte einigemal, aber die freudige Erregung hielt an und er setzte seine Reden fort.

»Siehst du wohl,« wandte er sich jetzt an seine Tochter, »man soll an unserem Rußland niemals verzweifeln. Es ist ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl in der russischen Seele. Sie kann Unsittlichkeiten nie lange ertragen. Wie hätte sie zugeben können, daß diese Schufte, die das Kaiserreich zerstört haben, an der Herrschaft bleiben? Das schrie nach Rache! Kerenski im Bett des Zaren! Der Himmel mit seinen Blitzen soll ihn zerschmettern! Ich achte Lenin, er ist das Werkzeug göttlicher Rache.«

Der General benutzte einen Hustenreiz des Fürsten, um einzuwerfen: »Aber, Sergius Borissowitsch, auch uns wird man strafen, auch wir werden büßen müssen!«

»Ganz recht, mein Lieber,« setzte der Fürst mit einem sonderbar triumphierenden Ton fort. »Und wenn wir büßen müssen, so haben wir es auch nicht anders verdient. Was taten wir denn, um dem Kaiser zu helfen? – Nichts! – Wer von uns hat sein Leben für ihn geopfert? – Niemand! – Mit Recht werden wir für unsere Sünden büßen. Und Rußland wird größer und reiner denn je aus diesen Prüfungen hervorgehen . . . Trinken wir auf die Zukunft Rußlands!«

Und er leerte abermals sein Glas.

Lydia hörte nur zerstreut zu. Die Aufregungen des Vormittags, der Besuch bei Savinsky, die Fahrt im Schlitten, der getrunkene Champagner – sie fühlte sich förmlich von sich losgelöst. Sie schwebte in einem dämmerigen Traum. Mutter und Vater, General und Bediente schienen ihr wie nebelhafte Gestalten; die Revolution sah sie wieder, wie vorhin beim Winterpalais, als einen Jahrmarktszug oder noch mehr als ein Zauberspiel.

Man erhob sich vom Tisch. Sie fühlte mit einem Male eine furchtbare Müdigkeit, ging in ihr Zimmer, streckte sich auf den Divan und schlief augenblicklich ein. –

Eine Stunde später wurde sie durch Pochen an der Türe geweckt. Katja, ihre alte Kinderfrau, brachte ihr einen Brief. In der mit Bleistift geschriebenen Adresse erkannte sie die Schrift ihres Vetters. Ihr Herz begann stürmisch zu pochen. Dieser Brief, sie fühlte es, barg eine schreckliche Nachricht. Sie öffnete ihn zögernd. Er enthielt nur drei Sätze:

»Ich bin mit meinen Kameraden im Winterpalais. Wenn ich Dich nie mehr sehen sollte, sage ich Dir jetzt Adieu. Ich liebe Dich, ich habe Dich immer geliebt.

Paul.«

Sie erbleichte. »Furchtbar,« dachte sie. »Er wird sterben.« In Eile kleidete sie sich an, um auszugehen. Wohin? Was tun? Sie wußte es nicht, wußte nur, daß sie unmöglich ruhig hier bleiben konnte, ohne den Versuch, etwas zu unternehmen. Die Stille ihres Zimmers war unerträglich und vertrieb sie. Katja gab sich alle Mühe, sie zurückzuhalten und sagte schließlich: »Aber Lydotschka, Du kannst unmöglich ausgehen! Die Leute sind ja heute rein verrückt.«

Als Lydia auch jetzt nicht hinhörte, machte sie ein großes Kreuzeszeichen über ihr und küßte sie demütig auf die linke Schulter.

Auf der Treppe traf Lydia eine ihrer Freundinnen, die eben zu Besuch kam. Es war Helene Iwanowna, die auf der anderen Seite des Marsfeldes, in der Mokowaja, eine Viertelstunde entfernt, wohnte. Helene war ein großes, kräftiges Mädchen, das ohne Nerven und immer ohne Eile ihren Weg ging. Sie machte den Eindruck, als würde ihr nichts nahegehen. Sie war phlegmatisch, wortkarg und bedächtig. Lydia fühlte sich sehr zu ihr hingezogen.

»Gott schickt dich zur rechten Stunde!« rief Lydia ihr zu. »Ich brauche dich, wir gehen zusammen aus, willst du?«

»Warum nicht?« erwiderte Helene sanftmütig.

Die beiden Mädchen schritten den Schloßquai entlang, der wie früher ganz leer war.

Lydia hatte ein schnelles Tempo angeschlagen und ihre Freundin bemühte sich, Schritt zu halten. Sie waren in die Millionnaja eingebogen und kamen gerade vor der Eremitage heraus. Aber die kleine Brücke über den Kanal, die das Museum mit dem Winterpalais verbindet, war durch bewaffnete Arbeiter besetzt. Drüben auf dem anderen Ufer lag die dunkle, rote Masse des Palais. Der Platz davor war ebenso leer, wie vormittags. Die Arbeiter verweigerten den Mädchen entschieden den Übergang und alle Bitten Lydias blieben erfolglos. So kehrten sie um, gingen den Moikakanal entlang und versuchten den Kordon zu durchschreiten, den die Truppen zwischen dem Gebäude des Militärgouverneurs und dem Ministerium des Äußeren bildeten.

Auch hier hatten sie den gleichen Mißerfolg. Lydia ließ sich aber nicht entmutigen.

»Versuchen wir bei der Admiralität unser Glück,« sagte sie ihrer Freundin.

Diese stellte keinerlei Fragen. Sie folgte Lydia bei dieser abenteuerlichen Wanderung ebenso, wie wenn es sich um einen Rundgang durch die Geschäfte der Stadt gehandelt hätte.

In der Nähe des Gebäudes der Admiralität war die Menge etwas dichter und die Sperre durch die revolutionären Soldaten etwas lockerer. Die übrigens freundschaftliche Unterredung eines Unteroffiziers mit den Umstehenden ausnützend, schlüpften die beiden Freundinnen zwischen den Posten durch, ohne daß man sie anhielt. Rasch gingen sie auf das Palais zu. Doch plötzlich blieb Lydia stehen und blickte umher. Obgleich sie noch immer unter dem erregenden Schrecken stand, der sie vom Hause fortgetrieben hatte und gegen alles andere vollkommen gleichgültig war, mußte der Anblick, der sich hier bot, sie vor Staunen erstarren lassen. Alle Zugänge zu dem großen Platz waren von revolutionären Truppen besetzt. Aber auf dem Platze selbst bewegten sich die Junker vollkommen ungehindert und ohne die Revolutionäre zu beachten, unter deren Augen sie unbekümmert ihre Vorbereitungen zur Verteidigung des Palais trafen. An vielen Stellen trennten sie nur wenige Schritte von ihren Gegnern. Vor dem Haupteingang waren große Holzstämme von über sechs Fuß Länge, einer über den anderen in einer Breite von dreißig Schritt aufgeschichtet. Es war dies ein Teil der für den Winter aufgestapelten Holzvorräte. Die Junker waren damit beschäftigt, zwischen den Holzklötzen Lücken zu schaffen, in die sie Maschinengewehre stellten. Wie konnten die Bolschewiki zugeben, daß sich die Junker derartig verschanzten? Wieder drängte sich Lydia der Gedanke auf, daß all dies nur eine Spielerei sei. In diesem Augenblick marschierte aus dem Hauptportal eine Abteilung Junker heraus. Sie defilierten wie bei einer Parade; ihre langen, braunen Mäntel schlugen im Takt gegen ihre Waden. Sie hielten in zwei Gliedern vor dem Holzstoß. Ein General schritt ihre Reihen ab und hielt dann eine Ansprache. Die beiden Mädchen waren näher herangetreten. Lydia hörte kein Wort von der aufmunternden Rede des Generals, sie suchte nur Paul unter diesen zweihundert jungen Offizieren. Mit einem Male rief sie: »Dort ist er!«

Und wirklich, in der ersten Reihe, beiläufig im ersten Drittel, stand Paul Bolynski. Er hielt sich sehr stramm, den Kopf gereckt, die Brust vorgewölbt und hatte wie alle den starren Blick auf den General gerichtet. Er sah seine Kusine nicht. Sie bemerkte, daß er sehr blaß sei. »Er ist krank, der arme Bub,« dachte sie und Tränen stiegen ihr in die Augen. Nie hätte sie gedacht, daß sie so viel Zärtlichkeit für diesen großen Jungen fühle. Jetzt vernahm sie auch die Worte des Generals. Er schloß eben die Rede und rief mit seiner tiefen Stimme: »Rußland zählt auf Euch, meine Kinder!« – »Wieso kann Rußland Paul nötig haben?« frug sich Lydia, vollkommen verwirrt. »Wo ist Rußland? Dort drinnen? Ist Kerenski Rußland? Soll Paul sich für Kerenski, der geflohen ist, töten lassen? Und wer ist denn drin in diesem Palais? Sozialistische und bürgerliche Minister, die kaum jemand kennt.«

Ein Offizier rief ein Kommando, die Junker schwenkten ein und defilierten im Paradeschritt, um in das Palais zurückzukehren.

Lydia ging ganz nahe an die Abteilung heran. Paul mußte hart an ihr vorbeikommen. Jetzt sah auch er sie und lächelte freudig. Sein bleiches Gesicht strahlte. Lydia ging noch einen Schritt auf ihn zu, als wollte sie ihn ansprechen. Nun wurde es Helene klar, was hier vorging und sie faßte Lydia beim Arm. Lydia erzitterte bei dieser Berührung. Paul streifte sie fast während des Vorbeimarsches und ließ seinen Blick nicht von ihren Augen. Sie rührte sich nicht. Als die Junker unter dem blutroten Gewölbe verschwunden waren, blickte sie ihnen noch lange nach und sprach endlich nur ein Wort: »Komm.«

Sie durchschritten ohne Schwierigkeit die Linie der roten Soldaten, die ihnen derbe Scherzworte nachriefen und kamen einige Minuten später, ohne daß Lydia den Mund geöffnet hätte, zum Hause des Fürsten Volynski. Lydia ging allein hinein und verschloß sich in ihrem Zimmer. Gegen sieben Uhr ließ Nikolaus Savinsky sich bei ihr melden. Sie antwortete, daß sie Migräne habe und nicht fähig sei, ihn zu empfangen. Sie hätte es nicht ertragen, ihn jetzt zu sehen. Wütend wiederholte sie sich ihre eigenen Worte von vormittag: »Eine Zirkusparade!« Sie sah sich an der Seite ihres Freundes lächelnd im Schlitten sitzen und verachtete sich . . .

Es war Nacht geworden. Sie aß ein paar Bissen in ihrem Zimmer. Sie wollte niemand sehen. Sie war über die Ihren empört. »Und mein Vater anerkennt noch diesen Lenin! Ich glaube, er hat den Verstand verloren. Katja hat recht: Die Leute sind wirklich verrückt! Warum nur bringen sie einander um? Was hat Paul diesen Soldaten getan? Warum wollen sie aufeinander schießen? Russen sind sie doch, einer wie der andere. Es ist alles unverständlich.

Indessen gingen die Stunden dahin. Sie trat ans Fenster. Unten strömte langsam das dunkle, hochgehende Wasser der Newa. Kein Geräusch drang durch die gutschließenden Doppelfenster. Keine Seele zeigte sich auf dem Quai. Grabesstille herrschte. Es war, als lebe sie in einer toten Stadt. Der Frieden der schlafenden Häuser beruhigte sie. »Man kämpft nicht bei uns,« sagte sie sich, »Nikolaus Wladimirowitsch hatte recht.« Ein Hoffnungsstrahl erwachte in ihr und das Blut kam wieder in ihre bleichen Wangen. »Er hat immer recht,« fuhr sie fort, »aber natürlich, es ist sicher so, die Revolutionäre haben mit den Truppen im Palais verhandelt. Man verhandelt und verhandelt ohne Ende, wie immer bei uns. Niemand hat Lust sich töten zu lassen; man wird bis morgen früh verhandeln und dann werden alle ruhig wieder nach Hause gehen.«

Schon begann sie sich über ihre frühere Aufregung zu ärgern und darüber, daß sie grundlos so eine Angst gehabt. Sogar über Paul war sie ärgerlich, der die Ursache einer so sinnlosen Qual gewesen. »Wie ich mich morgen an ihm rächen werde, wenn er zu uns kommt!« dachte sie und lächelte wieder zum ersten Male.

Eben in diesem Augenblick krachte in unmittelbarer Nähe eine betäubende Schießerei los. Der Angriff auf das Winterpalais hatte begonnen! Bald hörte sie auch das anhaltende Tak-tak der Maschinengewehre. Und plötzlich erschütterte ein dumpfer, heftiger Knall die geschlossenen Fenster. Ein heller Schein beleuchtete eine Sekunde den schwarzen Himmel und ließ auf dem anderen Ufer die Peter-Pauls-Festung gespenstig aus dem Wasser aufsteigen. »Kanonen!« flüsterte sie zitternd und meinte, ihr Herz setze aus. »Was können die armen Kleinen dagegen machen?«

Das Gewehrfeuer hielt an; öfters vernahm sie auch das dumpfe Krachen von Handgranaten und von Zeit zu Zeit das schwere Grollen der Kanonenschüsse, die alles übertönten. Sie hatte das Bild vor Augen, das sie nachmittag erblickt hatte, sie sah die Junker hinter den Holzstößen versteckt . . . Sie konnte keine Gedanken mehr fassen. In langen Zwischenräumen wurde es immer auf Minuten still. Dann wieder fiel ein einzelner Gewehrschuß und danach begann von neuem, stärker als zuvor, das unregelmäßige Krachen. Das dauerte endlos. Sie hatte jeden Begriff von Zeit verloren. Erschöpft warf sie sich schließlich auf ihr Bett und vergrub den Kopf in die Polster, um nichts mehr zu hören. Und wie sie so dalag, siegte die Erschöpfung über ihre Nerven und sie versank in einen tiefen Schlaf.

Als sie erwachte, war nichts mehr zu hören. Sie sah auf ihre Uhr. Es war drei Uhr früh, sie erschauerte. »Ich habe geträumt,« sagte sie sich, »welch furchtbarer Angsttraum!« Sie hatte noch die Kraft das Licht abzudrehen und schlief wie ein Kind sofort wieder ein.

Früh brachte ihr Katja wie gewöhnlich das Frühstück. Sofort erinnerte sie sich an die Aufregungen der Nacht. Sie bebte.

»Was ist geschehen?« frug sie. »Hast du's gehört, heute Nacht . . .

Die alte Amme lächelte.

»Es ist Nachricht von deinem Vetter Paul gekommen. Er ist in Sicherheit in seiner Schule.«

Lydia fiel in ihre Kissen zurück.

»Was für ein schrecklicher Fiebertraum!« murmelte sie und zwei dicke Tränen rollten über ihre Wangen.

 

Jene drei Tage, die der Machtergreifung der Bolschewiki folgten, bildeten für die Nerven der Petersburger vielleicht die härteste Belastungsprobe. Die widersprechendsten Nachrichten flogen von Mund zu Mund und ließen auf freudigste Zuversicht immer bald wieder tiefste Verzweiflung folgen. Sobald nur ein leiser Hauch die erloschenen Hoffnungen traf und zu winziger Flamme belebte, war auch schon der Regenguß da, der sie wieder verlöschte.

Die Bolschewiki hatten in feierlicher Versammlung, Mittwoch, den 7. November, der Freude über ihren Triumph lauten Ausdruck gegeben. Seit den ersten Tagen der Revolution hatte man noch niemals so einen Taumel erlebt. Bisher hatten die jeweiligen Machthaber nur immer die gleichen Klagelieder von dem Ruin Rußlands angestimmt. Jetzt aber sah man Männer, die sich zu ihrem Sieg beglückwünschten und mit lauter Stimme eine Epoche restlosen, allgemeinen Glücks ankündigten. Diese Männer zweifelten nicht eine Sekunde an sich, und die erste Sitzung des zweiten allrussischen Sowjetkongresses, von Lenin selbst geleitet, überraschte allgemein durch die wilde, stolze Freude, die in ihr Ausdruck fand und durch die Selbstsicherheit, die alle Teilnehmer zeigten.

Aber leider stimmten die Tatsachen nicht so ganz mit den Zusicherungen der neuen Staatslenker überein. In Wahrheit standen sie ziemlich allein mit ihren paar tausend Soldaten, Matrosen und roten Garden, die ihnen zur Macht verholfen hatten. Der ganze Regierungsapparat aber war mit einem einzigen Schlage stehen geblieben. Das ganze ungeheure Heer der Beamten hatte seine Arbeit verlassen. Kein einziger Funktionär, kein Angestellter irgendeines Ministeriums wollte für die Volkskommissare tätig sein. Die Bolschewiki hatten sich wohl der Telegraphenzentrale bemächtigt, sie sandten ihre Botschaften in das weite russische Reich, aber Antwort erhielten sie keine. Das Reich lehnte eine Unterhaltung mit ihnen ab und hüllte sich in beunruhigendes Schweigen. Die wenigen Nachrichten, die man aus dem Lande erhielt, waren den Roten nicht günstig. Reisende, die aus Moskau kamen, berichteten, daß diese Stadt ein Meer von Feuer und Blut sei, daß die Junker sich gegen die revolutionären Truppen schlügen. Selbst in Petersburg waren die Sieger vorerst so schwach und sie fühlten sich so bedroht, daß sie schweigend duldeten, daß ihre Gegner, die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, sich in einem Palais der Fontanka versammelten und offen den Kampf gegen sie predigten.

Ebensowenig trauten sie sich an die Stadtverwaltung heran, die gleichfalls rührig den Widerstand gegen den Staatsstreich organisierte. Auch über die Kosaken Krasnows kamen beunruhigende Meldungen. Sie waren von Gatschina bis Zarskoje-Selo vorgerückt und standen fast in den Vorstädten Petersburgs. Und die Einwohner der Hauptstadt sahen den kleinen Kreuzer Aurora, dessen Kanonen bei der Einnahme des Winterpalais mitgewirkt hatten, bei der Schloßbrücke verankert; er stand Tag und Nacht unter Dampf und man wußte, daß er dazu bestimmt sei, den Führern der Bolschewiki die Flucht zu ermöglichen, wenn ein wechselndes Geschick sie zwingen sollte, Petersburg zu verlassen. Würde man wohl eines Morgens erwachen, um zu vernehmen, daß Lenin, Trotzki und alle ihre Anhänger mit Volldampf einem fernen Land zusteuerten? Alles in allem schien nichts so ungewiß wie die Macht dieser Männer, die eine solche Sicherheit zur Schau trugen.

Und anderseits gab es doch keinen einzigen Gewaltakt, ja nicht einmal Unordnung. Die Stadt war ruhiger, als in den letzten sechs Monaten. Überall sah man Militärpatrouillen, aber nirgends mußten sie die Waffe gebrauchen. Diebe und Einbrecher wurden verhaftet. Die Geschäfte waren alle offen. Strenge und beruhigende Weisungen hatte jedes Haus erhalten, jeder Einwohner wußte die Telephonnummer, die er im Falle von Unruhen, Diebstahl oder nächtlichen Überfällen anzurufen hatte. Man fühlte sich plötzlich gegen alle Gefahren behütet. Man atmete fast auf . . . Aber sogleich, wenn man seine Gedanken weiterschweifen ließ, als in die unmittelbare Gegenwart, die so beruhigend schien, lichtete sich die beklemmende Angst wieder als riesengroßes Gespenst auf. Die Angst bei dem Gedanken, daß man in Zukunft mit Leben und Besitz Männern ausgeliefert sei, die, keine Bedenken und keine Schwäche kennend, das Evangelium des Bürgerkrieges, des Kommunismus und der gewaltsamen Ausrottung der bisher führenden Gesellschaftsklassen verkündeten.

So standen Gegenwart und Zukunft in offenkundigem Widerspruch, allen fühlbar und allen dieselben Gedanken aufdrängend, so daß man beklemmt dem Lauf der Tage folgte. Iwan Schupow-Karamin meinte seufzend: »Nichts ist unerträglicher, als dieses Warten, diese Ungewißheit!«

Natalies Salon war abends leer, da die Leute es nicht mehr wagten, nachts über die Straße zu gehen. Ihre Empfangszeit war jetzt nachmittags, und eine sonderbare Folge der allgemeinen Angst war es, daß mehr Leute denn je zu ihr kamen.

Man konnte einfach nicht zu Hause bleiben, denn allein, vereinzelt kam jedem seine Hilflosigkeit erst recht zu Bewußtsein; so lief einer zum andern und beisammensitzend vermeinte man eine Macht zu bilden. Man vergaß seine eigene Einsamkeit und suchte sich in einem Schwall endloser Worte zu betäuben. Schließlich aber endete man noch verzweifelter, denn nichts Trübseligeres gab es in jenen Tagen, als die Gespräche. Gegen acht Uhr ging alles nach Hause und Iwan Schupow sah verzweifelt einen einsamen Abend heranbrechen. Denn dieser geschwätzige Mann konnte mit allen Leuten sprechen – nur nicht mit seiner eigenen Frau.

Natalie hatte während der letzten drei Tage nichts anderes getan als versucht, mit Semeonow in Verbindung zu treten. Aber seit dem Staatsstreich war dieser nicht in seiner Wohnung gewesen und er hatte auch keine neue Adresse hinterlassen. Zweifellos war er im Smolny. Aber wie sollte man dies erfahren? Die Zukunft der neuen Herren war noch keineswegs so gesichert, daß Natalie es gewagt hätte, sich so geradeswegs im Hauptquartier der Bolschewiki zu zeigen.

Lydia war nach jener verhängnisvollen Nacht leidend und lag zu Bett. Sie hatte Paul nicht wiedergesehen, denn die Junker blieben in ihrer Schule bewacht und konnten sich in Uniform nicht in die Stadt wagen, ohne ihr Leben zu gefährden. Erst Samstag waren zwei, die in einem abgeblendeten Auto fuhren, in der Gorokhovaja getötet worden. Das Auto war stecken geblieben, man hatte sie bemerkt und niedergeschlagen, ehe sie überhaupt an Verteidigung hätten denken können. Katja verließ an jenem Tage in der Dämmerung mit einem großen Bündel am Arm das Palais Volynski. Sie ging zu dem ehemaligen Palais Michael, in dem Paul jetzt kaserniert war, eintreten durfte sie aber nicht und so mußte sie das Paket und einen Brief beim Eingangstor abgeben. Dann versuchte Lydia auch noch telephonisch mit ihrem Vetter in Verbindung zu treten, aber die Leitung war unterbrochen. Da rief sie Nikolaus Savinsky zu sich.

Er zögerte nicht, alles liegen und stehen zu lassen, und eilte sofort zu ihr. Er fand sie blaß und verändert. Ein gewisser Ernst lag in ihrem Blick, den er bisher noch nie an ihr gesehen hatte, und sie sprach in einem Ton, in dem er jenen kindlichen Klang vergeblich suchte, den ihre Stimme doch stets gehabt hatte. Sie dankte ihm, daß er trotz seiner Arbeit so rasch gekommen war, und sprach dann weiter:

»Ich wollte wissen, was Sie von der Situation halten.« Savinsky betrachtete dieses so junge und doch schon so leidvolle Gesicht. Er zögerte einen Augenblick und zuckte dann die Achseln.

»Eigentlich gar nichts, Lydia Sergijewna.«

Und da die ernsten Augen des Mädchens weiter fragend auf ihm ruhten, fuhr er mit dumpfer Stimme fort:

»Man muß abwarten. Vorläufig sieht man noch nicht klar. Wer mag wissen, was morgen geschieht?«

Und er leierte alle jene Gerüchte herunter, die durch die Stadt schwirrten; die Unsicherheit der bolschewistischen Macht, die Möglichkeit des Vormarsches der Kosaken, die fahrbereite Aurora . . .

Lydia unterbrach ihn, indem sie ihre Hand auf seinen Arm legte und sprach, ihm forschend ins Auge blickend:

»Alles dies ist mir bekannt, Nikolaus Wladimirowitsch, unbekannt ist mir aber, was Sie selbst denken. Bitte, sagen Sie es mir. Ich habe viel in diesen drei Tagen nachgedacht, und ich glaube, daß ich nicht mehr jenes kleine Mädchen bin, das Sie kannten. Sie sind doch mein Freund, nicht wahr? Also seien Sie aufrichtig, ich habe ja außer Ihnen keine Seele, mit der ich reden kann.«

Savinsky war tief erschüttert. Er hatte die Empfindung, als suche sie bei ihm Zuflucht, Zuflucht vor ihrer Angst und ihren Sorgen, deren Ursachen er nicht ganz kannte. Was konnte er ihr sagen, der er doch selbst in völliger Ungewißheit war? Er entschloß sich schließlich, ihr die Dinge genau so zu schildern, wie er selbst sie sah, aber in einem Ton, der alles Düstere, ja Tragische, das durch ihre Worte geklungen hatte, beiseite schob.

»Lydia Sergijewna,« sprach er, »ich bin kein Prophet; wenn ich nicht recht behalte, dürfen Sie mir nicht böse sein. – Ich gestehe Ihnen, daß ich von Krasnows Kosaken nicht das geringste erwarte. Wenn sie die Stadt einnehmen wollten, dann hätten sie es schon gestern getan. Wir kennen zwar ihre Stimmung nicht, aber ich möchte wetten, daß sie unentschlossen und uneinig sind, daß man bei ihnen debattiert, statt zu handeln, und daß man endlos berät. Das ist die russische Krankheit. Bloß die Bolschewiki scheinen Ausnahmen zu bilden. Die Art und Weise, in der sie Mittwoch ihren Streich durchführten, ist wirklich bemerkenswert. Welcher Fortschritt gegen Juli! Sie haben viel zugelernt. Bisher haben wir noch niemals Männer gesehen, die aus ihren Erfahrungen gelernt hätten. Und wenn Sie daraus einen Schluß ziehen wollen . . .«

Er unterbrach sich für einen Augenblick, nahm die Hände des jungen Mädchens in die seinen und lächelte.

»Wollen Sie wirklich die Folgerungen, Lydia Sergijewna? Sie wissen doch, es gibt nichts Schwierigeres für einen Russen, als Konsequenzen zu ziehen, als zu einer entschiedenen Meinung zu gelangen. Unsere Landsleute lieben es, tausend geistvolle Gründe für und wider eine These auszusinnen. Dann aber, wenn es ihnen gelungen ist, sie durch die Üppigkeit ihrer Gedanken und die unerschöpflichen Mittel ihrer Mundfertigkeit zu verblüffen – dann empfehlen sie sich.«

Das Mädchen blieb nachdenklich und frug bloß:

»Nun, und?«

»Nun, ich glaube an den Erfolg Lenins. Aber wenn Sie mich fragen, was er mit seinem Erfolg beginnen wird, dann weiß ich darauf keine Antwort, und vermutlich weiß er selbst gegenwärtig auch noch keine . . . Ich halte ihn aber nicht bloß für einen großen Fanatiker, sondern für einen ebenso großen Politiker. Politik aber ist List, Geist und Anpassung an die Möglichkeiten. In einem Tage läßt sich eine ganz neue soziale Ordnung nicht schaffen; er wird sich zu Konzessionen, zu Übergängen bequemen müssen . . . Aber teuerste Freundin, da sind wir ja mitten in eine allzu ernste und wohl auch zwecklose Betrachtung geraten. Ehe der Kommunismus in Rußland siegt, kann Lenin ja lange wieder vertrieben sein, oder wir alle, Sie und ich, sind vielleicht schon lange in England, die Deutschen sitzen vielleicht bis dahin schon in Petersburg und heben einen schönen, funkelnagelneuen Zaren auf den Thron . . .«

Lydia erhob sich und begann im Zimmer auf- und abzuwandern. Sie hielt die Hände auf der Brust verschränkt, ihr Schritt war ruhig und entschlossen, ihr Gesicht zeigte einen ernsten, sinnenden Ausdruck. Plötzlich blieb sie vor Savinsky stehen.

»Und es ist doch keine Zirkusparade, Nikolaus Wladimirowitsch, das habe ich seither begriffen. Alles, alles wird zusammenbrechen und viel Blut wird es kosten . . .«

Sie war so ergriffen, daß sie verstummte. Dann sprach sie, ganz nahe bei Savinsky, mit flüsternder Stimme:

»Oh, wie entsetzlich!«

Ihr gesenkter Kopf, ihre hilflose Geste, der verzweifelte Ton ihrer Stimme ließen Savinsky erzittern. Er wollte sprechen, doch fand er nicht die rechten Worte.

Lange schwiegen beide. Lydia fand zuerst ihre Beherrschung wieder. Sie machte noch ein paar Schritte durchs Zimmer und sprach dann in ruhigem Ton:

»Nikolaus Wladimirowitsch, ich will Sie fragen, ob Sie mir einen Paß für einen jungen Mann besorgen könnten?«

Bei dem ruhigen Klang ihrer Stimme fühlte Savinsky den schmerzlichen Druck, der eben auf ihm gelastet hatte, weichen.

»Einen Paß?«, meinte er, »für einen Jüngling? . . . Es wird jetzt nicht leicht sein, aber trotzdem glaube ich, daß ich Ihnen das in einigen Tagen besorgen kann, Lydia Sergijewna. Ich habe glücklicherweise Verbindungen . . .«

Das Gesicht des jungen Mädchens erhellte sich zum ersten Male wieder.

»Ich will Ihnen alles sagen. – Es handelt sich um Paul, meinen Vetter. Ich liebe ihn, wie einen Bruder. Er ist noch ein Kind, wissen Sie, ein richtiges Kind. Damals, nachts, im Winterpalais, da war er dabei. – Bedenken Sie nur, Paul, der kleine Paul, der soll Gefahr laufen, von Russen getötet zu werden? Und wozu, für wen denn? Das ist doch sinnlos! – Jetzt ist er in seiner Schule eingesperrt. Sicher wird man ihn aber auch dort – Denn es ist ja keine Zirkusparade . . . Ich sehe jetzt, Nikolaus Wladimirowitsch, daß Sie ebenso denken. Da habe ich einen ganzen Plan ausgedacht, damit er fliehen kann. Ich glaube, man nennt es Desertieren, doch das ist mir gleich. Wenn die Bolschewiki die Herren sind, hat Paul das Recht zu desertieren. Ich sandte ihm durch Katja Zivilkleider. Er muß eine Möglichkeit finden, zu meiner Freundin zu gelangen. Sie kennen sie ja, Helene Iwanowna, sie wohnt in der Mokhovaja. Sie ist unbedingt verläßlich und wird ihn ein paar Tage verstecken. Niemand wird ihn dort suchen . . . Dann aber brauche ich Ihren Paß. Ich werde nicht eher ruhig sein, bevor ich nicht weiß, daß Paul in Finnland ist.«

»Aber wird er denn abreisen wollen?«

»Er wird mir blindlings gehorchen!«

»Schön. Ich bringe Ihnen Dienstag oder Mittwoch den Paß. Und dann glaube ich,« fügte er lächelnd hinzu, »werde ich bald trachten müssen, auch für Sie einen zu versorgen.«

»Ach, für mich? Was fällt Ihnen ein, Nikolaus Wladimirowitsch! Was könnte mir wohl geschehen?« Ihre Stimme war jetzt wieder lebhaft geworden und hatte den gewohnten hellen Klang. »Wenn nur Paul einmal in Sicherheit ist, mache ich mir gar keine Sorgen mehr . . . Dann bleibe ich schon noch ein gutes Weilchen hier, denn, Sie wissen ja, wie neugierig ich bin!«

Savinsky erkannte jetzt seine kindliche, heitere Lydia wieder. Jetzt sprudelte auch ihr Mund wieder lebhaft und ihre Lippen waren jeden Augenblick bereit zu lächeln.

»Ich weiß gar nicht, was unlängst in mir vorging, als ich erfuhr, daß Paul mit den andern im Winterpalais sei. Paul war doch im Krieg, aber das erschien mir damals so selbstverständlich . . . Vielleicht begriff ich es nicht so recht, der Krieg war ja so weit entfernt . . . Natürlich ist es dumm, was ich sage, aber ich glaube, Sie verstehen mich . . . Ich wußte auch, daß seit der Revolution sogar in der Stadt Leute getötet worden waren, aber es berührte mich nicht, ich kannte sie ja nicht. – So wie alle, sagte auch ich jene gedankenlosen Phrasen, die man gern gebraucht: ›Revolutionen fordern ihre Opfer‹, oder: ›Für eine große Sache wird Blut vergossen.‹ – Was bedeutete mir dieses ›vergossene Blut‹? Worte, weiter nichts als Worte! Hundertmal ging ich am Marsfeld, an dem Grab der Revolutionsopfer, vorbei; niemals aber war ich bewegt, nicht mehr bewegt, als Sie es sind, wenn Sie auf einen Friedhof kommen. – Jetzt aber, vor drei Tagen, verstand ich auf einmal, was ›vergossenes Blut‹ bedeutet! Warum, warum? Weil ich mit eigenen Augen jene Barrikade gesehen habe, die die Junker vorbereiteten? Um die gekämpft wurde? Weil Paul mir so nahe stand? Weil er gegen jene Soldaten kämpfte, mit denen ich so oft gesprochen habe und von denen ich stets meinte, daß auch sie mir so nahe ständen? Oder weil all dies nur zwei Schritte von hier sich abspielte, weil ich die Kanonade hörte und auf dem dunklen Himmel jede Granate aufblitzen sah? – Ich weiß nicht warum, Nikolaus Wladimirowitsch, aber ich konnte es nicht mehr ertragen . . . Sie werden es vielleicht lächerlich finden, daß ich mich Stimmungen so hingebe . . . Aber es hilft alles nichts, zuerst muß Paul fort, weit fort, und dann werden Sie sehen, was für eine vernünftige, erwachsene Person aus mir wird! Dann werde ich, so wie die anderen, in ruhigem, sicherem Ton von den ›Opfern der Revolution‹ und vom ›vergossenen Blut‹ sprechen!«

Lange blieb Savinsky bei dem jungen Mädchen. Als er endlich auf dem Heimweg war, ging ihm ein Vers von Puschkin durch den Sinn: »Wie ein hüpfendes Bächlein entquillt ihren Lippen der Rede Strom . . .«

 

Am nächsten Tag, Sonntag, mußte Savinsky nach Finnland reisen. Er fuhr mit der Bahn. Er hatte zwar kein Visum auf seinem alten Paß, aber niemand frug danach, und er konnte ohne Schwierigkeit die Grenze passieren. Seine Frau fand er sehr unruhig und bekümmert. Sie besprachen gemeinsam die nächste Zukunft. Von einer Rückkehr Sonjas und der Kinder nach Petersburg konnte natürlich jetzt keine Rede mehr sein. Nikolaus erklärte seiner Frau, wie seine Angelegenheiten stünden, und daß er etwa einen Monat benötige, um alles zu regeln und seinem Stellvertreter in der Bank die Geschäfte zu übergeben, daß ihm aber bis dahin keinerlei Gefahr drohe, denn ehe die Bolschewiki ernstlich an die Durchführung ihres Programms schreiten könnten, müßte ihre Macht erst wirklich gesichert sein. Im übrigen habe er auch gewisse Beziehungen und schließlich sei Petersburg so vollkommen ruhig wie seit langem nicht. Er würde also gegen Ende Dezember endgültig frei sein und dann könnten sie nach England reisen. Indessen würde er gewiß einen Paß bekommen, der ihm die Fahrt nach Finnland öfter ermöglichte. –

Während sie diese vernünftigen Pläne besprachen, konnte Savinsky aber die merkwürdige Empfindung nicht aus seinem Geiste bannen, daß ja alles dies nur unwirklich sei, daß er wohl Worte sprach, wie sie unter den gegebenen Verhältnissen kaum anders gesprochen werden konnten, aber dabei sagte er sich selbst, daß das Leben in Wahrheit wohl ganz anders bestimmen werde . . .

Seiner Frau verbarg er diese Gedanken.

Dienstag früh, als er nach Petersburg zurückkam, richtete ihm sein Dienstmädchen aus, daß man ihn bitten lasse, der Seelenmesse beizuwohnen, die am gleichen Tage zu Ehren des Fähnrichs Paul Volynski gelesen werde, der Sonntag, den 11. November, im Alter von einundzwanzig Jahren getötet worden war . . .

Savinsky hatte gerade noch Zeit zur Kirche zu eilen. Dort erfuhr er die schrecklichen Umstände, unter denen der junge Mann sein Leben gelassen hatte. Sonntag, als Savinsky in Finnland weilte, hatten die Bolschewiki Befehl gegeben, mit den Junkern Schluß zu machen, und es wurden Truppen mit Artillerie gegen ihre Kasernen geschickt. Was sich im ehemaligen Michaelspalais, in dem Paul war, eigentlich abgespielt hatte, wußte niemand genau. Erwiesen war bloß, daß man Montag früh drei oder vier Leichen von Junkern aus der Moika gezogen hatte, die offenbar dort versenkt worden waren. Der Zufall führte einen Diener des Fürsten Volynski gerade zu dieser Zeit vorüber; durch die versammelte Menge angelockt, blieb er stehen und erkannte in einer der Leichen den jungen Prinzen Paul . . . Eine Kugel saß in der Stirne und eine zweite in der Brust. Der Schuß in den Kopf war von solcher Nähe abgegeben, daß das Gesicht furchtbar entstellt war . . .

 

Die Zeit verging.

Lydia hatte sich in ihr Zimmer verschlossen und Savinsky gelang es nicht, sie zu sehen. Wohl hatte er öfter angerufen, um nach ihrem Befinden zu fragen, doch nur einmal kam sie selbst an den Apparat. Sie sei gesund, nur müde und habe vorläufig das Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein. Sie würde ihn verständigen, wenn sie wieder ganz hergestellt sei. Zum Schluß sprach sie in wärmerem Tone: »Seien Sie mir nicht böse, wir werden uns bald wieder sehen. Aber bleiben Sie bis dahin vorsichtig, mir zuliebe! Gott behüte Sie!«

Savinsky hatte ganz erfüllt von dem Unglück seiner kleinen Freundin die Beziehungen zu dem alten Fürsten wieder angeknüpft. Oft war er jetzt in dem kleinen Palais und herzliche Freundschaft verband ihn mit dem würdevollen Greis. Niemals aber begegnete er Lydia. Weder bei ihrem Vater, noch auf der Treppe, noch im Vorzimmer vermochte er sie zu treffen.

Fürst Sergius war immer noch an sein Fauteuil gefesselt und verließ sein Zimmer nur zu den Mahlzeiten. Dann trugen ihn zwei Diener in den Speisesaal und unterwegs überhäufte ihr Herr sie mit Ermahnungen und Flüchen, denn die kleinste Erschütterung weckte die Schmerzen seines kranken Schenkels. Täglich kam sein Arzt, und ein Masseur bemühte sich alle Vormittage das Leben in seinen erstarrenden Beinen aufrechtzuerhalten. Er war jetzt noch hagerer geworden, doch seine tief eingesunkenen Augen glühten immer noch in lebhaftem Feuer unter den hochgewölbten Brauen. Seine Stimmung pendelte von einem Extrem ins andere; bald hoffte er freudig auf eine rosige Zukunft, bald war er vollkommen mutlos und verzweifelt. Eines Tages fand Savinsky ihn mit hundert Reiseplänen beschäftigt. Er wollte nach Finnland, nach Europa und den Winter in Ägypten verbringen.

»Ich bin noch kräftig,« sagte er, »ich brauche nur Sonne, mein Lieber, nichts als Sonne. Die Sonne von Assuan und den heißen Sand der Wüste, wissen Sie, jenen Sand, von dem man fühlt, daß er bis drei Fuß Tiefe noch glühend ist – aber hier in dieser düsteren Stadt, ich bitte Sie, wie soll man hier gesund werden?«

Und er deutete mit klagenden Worten durch das Fenster auf die dichten Nebel, die über den schmutzigen, trägen Fluten der Newa lagen, auf die dunstigen Fensterscheiben, den trüben Novemberhimmel, die naßglänzenden Mauern und Straßen, auf die ganze sichtbare Feuchtigkeit, die über allem lag und die Luft erfüllte.

»Esel sind meine Ärzte, ich hab' gar keinen Schenkelbruch, kaum eine Sehnenzerrung. Ich bin nur lahm vor Schmerz darüber, daß ich so dumm war, in diese blödsinnige Stadt zu ziehen, die nur ein wahrer Narr hat gründen können. Aber jetzt werde ich reisen und dazu, liebster Nikolaus Wladimirowitsch, brauche ich Ihren Rat . . .«

Und er vertiefte sich in tausend finanzielle Einzelheiten seiner bevorstehenden Reise. Savinsky hörte ihm geduldig zu. Er meinte es dem Fürsten, allerdings nur unter großen Schwierigkeiten ermöglichen zu können, eine immerhin bedeutende Summe aus der Bank abzuheben und empfahl einen Teil des Schmuckes der Fürstin in einem Diplomatenkoffer nach Schweden zu versenden.

Andere Male wieder fand er Volynski vollkommen verzweifelt. Als Savinsky ihn eines Tages umzustimmen versuchte, erwiderte der Fürst, sich in seinem Fauteuil aufrichtend:

»Mit mir ist's zu Ende, Verehrtester. Ich komme hier nicht mehr lebend heraus. Eines nur tut mir leid, daß ich nicht schon vor sechs Monaten, noch unter dem Kaiser gestorben bin. Der Anblick dieser Greuel der Revolution wäre mir dann erspart geblieben. Ist es nötig zu leben, nur um einen solchen Untergang Rußlands mit anzusehen? Es gibt schon erhabene Zusammenbrüche, so großartige, daß man sich bekreuzen mag, wir aber, mein Lieber, wir enden in der Fäulnis, sie breitet sich weiter und weiter aus. Es stinkt . . . Lange, lange schon war alles angefault; man sah es nur nicht, denn die Oberfläche glänzte und verdeckte die tiefen Wunden. Wissen Sie, was dieses Rußland in Wirklichkeit war? Dieses Rußland, von dem unsere großen Männer in so wohlklingenden Worten sprechen? Wissen Sie's? Ein Topf, mit Dreck gefüllt! Den Topf hat die Revolution zerschlagen.«

Er fuchtelte mit dem langen Schürhaken durch die Luft, dann ließ sein müder Arm ihn zurücksinken.

»Glauben Sie nur nicht, daß ich etwa um mein Gerippe zittere. Was könnten mir die Bolschewiki auch tun? Ich bin ja schon halb tot. Sie werden mich nicht zum Schneeschaufeln auf die Straße holen. Wie einen Hund werden sie mich schön in meiner Ecke krepieren lassen . . . Vielleicht bin ich der einzige Mann in ganz Petersburg, der ihnen entschlüpft . . . Sie aber, Sie sind jung und gesund, passen Sie nur auf! Flüchten Sie! Denn Sie haben etwas zu retten und zu verteidigen; doch ich . . . ich bin entschlossen, mich nicht wegzurühren!«

Und einige Tage später fand Savinsky den Fürsten wieder vor einer Landkarte sitzen und rings um ihn waren Reisebücher aufgeschlagen. Nikolaus versuchte das Gespräch auf Lydia zu lenken und frug nach ihr. Aber dies schien dem Fürsten nicht zu behagen, er antwortete nur abweisend:

»Meiner Tochter geht's gut, sehr gut,« und beeilte sich von anderem zu sprechen. Savinsky kam aber immer wieder auf Lydia zurück. Endlich entschloß sich der Fürst auf dieses Thema einzugehen:

»Ja, Lydia!« seufzte er. »Sie ist meine einzige Sorge, Nikolaus Wladimirowitsch! Was soll hier aus ihr werden, aus diesem Kind? . . . Ich denke an nichts anderes. Ich kann an nichts anderes denken! Sie müßte fort. Vorige Woche schon hatte ich alles geordnet, um sie mit den Saltykows abreisen zu lassen.« – Savinsky konnte eine Bewegung der Überraschung nicht zurückhalten. – »Alles war vorbereitet, sie stand auf dem Paß Frau Saltykows . . . und im letzten Augenblick weigerte sie sich zu fahren. Sie besteht darauf, nur mit mir zusammen die Stadt zu verlassen! Das ist doch zu dumm . . . Ich war wütend; wir haben ernstlich gestritten, ich war erregt, sie auch, und dann hab' ich sie mit einemmal umarmt und vor Rührung geweint. Sie hat ein großes, reines Herz, meine Tochter . . .«

Tränen blinkten in den Augen des alten Mannes. »Ich will Ihnen etwas sagen, Nikolaus Wladimirowitsch, glauben Sie nicht, daß Lydia aus Mitleid bei mir bleibt – nicht, weil ich krank und dem Tode nahe bin. Es ist ein viel tieferer Grund: sie liebt mich. Das ist es. Und wenn ich so gesund wäre, wie Sie es sind, sie würde mich doch nicht verlassen . . . Man hält sie immer nur für ein fröhliches, oberflächliches Kind; ja, sie ist es, aber nur in einem Teil von ihr, in jenem Teil, den alle sehen. Nur ich allein weiß, wie tief sie zu lieben vermag! Sie fühlen doch, was ich meine? Mit Worten läßt sich das nicht ausdrücken . . . Das sind Dinge, die man plötzlich im tiefsten Innern erkennt, aus einem Nichts erkennt, einem Blick, der einen durchdringt, einer Bewegung, die fast unmerklich ist . . . Und das füllt einem das Herz mit wundervoller Wärme! – Jetzt sprechen wir wenig, fast gar nicht miteinander; seit dem Tode ihres Vetters durchlebt sie eine böse Krise, die arme Kleine. Zwei, dreimal täglich kommt sie zu mir, aber niemals haben wir ein Wort von Paul gesprochen. Sie ist sehr stolz, sie will nicht bedauert sein. Und dann weiß ich ja gar nicht wie sie miteinander standen, als er getötet wurde. – Die Herzen der Frauen sind unerforschlich, und auch Lydia ist schon eine Frau . . . Sie geht nicht aus, sie empfängt niemand, es steckt ein Geheimnis dahinter, mein Freund, ich kenne es nicht . . .«

Er verstummte, vor sich hinbrütend und sprach dann, Savinsky anblickend, weiter:

»Lydia liebt Sie sehr, Nikolaus Wladimirowitsch! Vielleicht wird sie Ihnen mehr darüber sagen. Vielleicht wird sie Ihnen auch gar nichts sagen . . . Sie macht mir den Eindruck, als hätte sie schwere innere Kämpfe . . . Eines Tages wird der Kampf beendet sein, dann werden wir klarer sehen. – Wie aber wird sie in dieser verfluchten Stadt leben können? Wollen Sie ihr Schutz sein, wenn ich nicht mehr bin? Meine Frau ist ja ein trefflicher Mensch, aber sie hat keine zwei klaren Gedanken im Kopf. Sie wird nie Entschlüsse fassen können, immer zwischen hundert Möglichkeiten schwanken und zum Schluß sich niemals aufraffen, wirklich etwas zu tun. Ihnen vertraue ich sie an, solange Sie hier bleiben, werden Sie sie behüten und wenn Sie zu Ihrer Familie ins Ausland gehen, soll sie mit Ihnen reisen.«

Er war erregt und seine Stimme bebte, mühsam nur gewann er seine Fassung wieder.

»Wir sprechen noch darüber,« meinte er, »wir besprechen das nochmals genau . . . Wollen Sie so gut sein, Holz nachzulegen? Das Feuer geht aus, ich friere.«

Eine Viertelstunde später war seine Stimmung wieder besser. Er hatte ein Gläschen Kognak getrunken und fühlte sich bei dem neu aufgeflackerten Feuer wieder behaglich. Als Savinsky Abschied nahm, sprach der Fürst, seine Hand drückend:

»Ich glaube, Sie kennen den spanischen Gesandten, den müssen Sie einmal zu mir bringen. – Ja, ich muß über gewisse Absichten, die ich habe, mit ihm sprechen. – Bevor ich verheiratet war, bin ich in Spanien gewesen, oh, was für herrliche Frauen gibt es in Andalusien! Ja, wie ich noch jung war! Die engen Straßen in Sevilla und der Geruch des glühenden Pflasters, wenn es bespritzt wurde! – Sie wissen gar nicht, wie oft ich an Spanien denke! Sie bringen mir den Sennor, nicht wahr?« –

Die wenigen Worte des Fürsten hatten in Savinsky eine leidenschaftliche Neugierde geweckt. Welches verborgene Drama mochte sich wohl zwischen den beiden jungen Menschen abgespielt haben, ehe Paul den Tod fand? Als wäre dieses Gebiet allen seinen forschenden Blicken verhüllt, so tappte er vollkommen im Dunkel und gestand sich die Unmöglichkeit ein, diesen Schleier, der sein Eindringen verwehrte, beiseite zu schieben. Und doch versuchte er immer wieder, ihn wenigstens zu lüften. Aber das einzige Ergebnis all seiner Bemühungen war, daß Lydias Bild seine Gedanken mehr und mehr erfüllte. In einem Augenblick der Selbsterkenntnis fiel ihm dies auf.

»Wie,« sagte er sich, »ich stehe mitten in dem unerhörtesten Chaos, in dem Wirbel einer Revolution, die die ganze bisherige Welt umstürzen will. Täglich bin ich in Gefahr; ich kann, wie so viele andere, jeden Augenblick verhaftet werden, oder an der nächsten Straßenecke eine Kugel in den Kopf bekommen. Die Banken stehen vor der Beschlagnahme. Ich bin von Frau und Kindern getrennt. Tausend geschäftliche und tausend eigene Sorgen bedrücken mich. Es wäre nur selbstverständlich, daß ich von düsteren Gedanken über all dies viele, das mich betrifft, vollkommen erfüllt wäre. Und siehe da, ich vergeude die Hälfte meiner Zeit damit, über ein Mädchen nachzudenken, das meine Tochter sein könnte. – Ich vergeude meine Zeit? Welcher Irrtum! Ich nütze die Zeit! Es war eine gütige Vorsehung, die mir Lydia gerade in dieser trostlosen Zeit zusandte. Ich denke an sie, ich sehe ihr liebliches Gesicht vor mir, ihre herrlichen, blonden Haare, die wie Wellen glänzen, ihre reinen, blauen Augen, ihren Kindermund . . . Köstliche Bilder, die mich inmitten aller Sorgen, aufatmen lassen, die mich in eine Welt der Ruhe und des Friedens versetzen, fern von allen Schrecken. – Ohne sie wäre meine einzige Beschäftigung, den politischen Möglichkeiten nachzugrübeln, ich wäre aufgeregt, wie alle meine Freunde, meine Stimmung wäre verzweifelt, meine Nerven würden versagen und ich würde so neurasthenisch wie alle anderen. Nur Lydia rettet mich davor, selbst wenn ich bloß an sie denken kann.«

So war Savinsky weit entfernt davon, Lydia aus seinen Gedanken zu verbannen und räumte ihr einen immer größeren Platz in seinem Leben ein. Wohl war er ein Mann der Tat, aber er war auch ein Träumer. Und vielleicht steckt in jedem Tatmenschen ein Stück von einem Dichter, das ihn antreibt. Übrigens war dies ein beliebter Ausspruch von Savinsky, den er oft wiederholte: ›Ein richtiger Geschäftsmann ist immer auch ein Dichter. Ohne Phantasie und hohen Gedankenflug klebt man am Boden. Man braucht Flügel, um sich aufzuschwingen. Napoleon, das größte praktische Genie seiner Zeit war auch deren größter Träumer. Und wer kann es wissen, ob er seine wunderbaren Erfolge nicht gerade seinen Träumen, seiner Phantasie verdankte? Sehen wir es nicht auch heute wieder, daß gerade die Partei der Weltfremden triumphiert. Auf einen Semeonow, der nur Zweckmäßigkeitsgründen lebt, kommen doch hundert Denker, die mit ihren blendenden Träumen in den Wolken leben.‹ Wenn er an Lydia dachte, frug er sich immer das Eine, ob sie Paul wohl geliebt habe? Er glaubte es nicht. Warum dann aber diese lange Weltflucht? Es blieb doch ein geheimnisvolles Dunkel über diesem tragischen Vorfall. Die Zeit würde es ihm gewiß erhellen, aber er brannte darauf, seine kleine Freundin wiederzusehen, um zu versuchen, in ihren Augen die Lösung jenes Rätsels zu finden, das ihr Vater gefühlt hatte, ohne es erraten zu können.

Ende November besuchte er wieder einmal Natalie Schupow-Karamin. Die Stadt war seit kurzem mit einem Male unsicher geworden und an Stelle der Gefühle des Beschütztseins, die man zu Beginn gehabt hatte, war eine richtige Panikstimmung getreten. Ein Befehl des Stadtkommandanten hatte angeordnet, daß die Portale der Häuser um sechs Uhr abends zu schließen seien und daß bei den Dienerschaftseingängen alle Hausbewohner abwechselnd zu zweit bis früh eine Wache zu stellen hätten. Ein Gong in jedem Hofe sollte die Parteien bei einer Gefahr alarmieren. Sobald er ertönte, hatten alle die Verpflichtung, einen versuchten Angriff bewaffnet abzuwehren. So war jedes friedliche Haus Petersburgs nachts in eine Festung verwandelt, bereit, Überfälle zurückzuschlagen. Die Verkündigung dieses Ediktes trug noch dazu bei, die Furcht der Bevölkerung in eine Angstpanik ausarten zu lassen, denn die Bolschewiki erklärten sich damit außerstande, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und gaben zu, daß nach Sonnenuntergang nicht sie die Herren der Stadt seien, sondern die Marodeure, die gefürchteten Kronstädter Matrosen und noch all die anderen Einbrecherbanden, die keine Uniform trugen. Und wirklich häuften sich die Überfälle in beängstigender Weise, Leute, die kühn oder leichtsinnig genug waren, ihre Häuser abends zu verlassen, hörten bald nah, bald fern Gewehrschüsse, die die Stille der Nacht unterbrachen. Oft erklangen auch die angstvollen Hilferufe Überfallener. An den Mündungen großer, leerer Plätze warteten Passanten bis ein Trupp von fünf oder sechs beisammen war, ehe sie sich trauten weiterzugehen. Es gab kein größeres Wagnis, als in den düsteren Straßen Petersburgs nach Einbruch der Nacht längere Wege zu machen.

Savinsky war sich dessen bewußt, und er empfand es bald als große Unannehmlichkeit, auf dem anderen Newaufer zu wohnen und täglich die lange Troitzkibrücke zu Fuß oder im Schlitten passieren zu müssen, um nach Hause zu gelangen. Sein Automobil war beschlagnahmt und alle Schritte, es zurückzuerhalten, die er im Smolny unternommen hatte, waren bisher erfolglos. Seine Wohnung am Kamenij-Ostrov-Prospekt war vom Stadtzentrum eine halbe Stunde entfernt, und er konnte sich doch nicht entschließen, die Abende einsam in seinen öden Zimmern zu verbringen. So verließ er sie lieber ganz und übernahm die möblierte Wohnung eines Freundes, dem es gelungen war, ins Ausland zu entkommen. Diese neue Wohnung – wohl klein, aber für einen einzelnen Mann reichlich geräumig – war in der Apotheker-Passage, die die Millionaja mit der Moika verbindet, also in unmittelbarer Nähe sowohl der Schupows wie auch der Volynskis. Sie war ebenerdig, nicht übel eingerichtet, und ihr Eingang befand sich unmittelbar in der Hauseinfahrt, die auf den Hof mündete. Savinsky bewohnte bloß zwei Zimmer, die nach der Straße zu lagen, und das Speisezimmer, von dem man den großen Hof sah, der dieses Haus mit einem anstoßenden ausgedehnten Gebäude verband, dessen Front auf dem Marsfeld war. Dieser doppelte Zugang schien Savinsky in den unruhigen Zeiten, in denen man lebte, ein besonderer Vorteil.

Er stellte sich Natalie Schupow als neuen Nachbar vor. Sie war entzückt, denn man sah jetzt wirklich nur noch Leute bei sich, die ganz in der Nähe wohnten. Und gerade in diesen gefährlichen Tagen sei es doch nötig, sich zusammenzuschließen, feste, kleine Zirkel zu bilden. Vielleicht könnte man es sogar einrichten, die Abende gemeinsam zu verbringen. Denn für Natalie bedeutete die Einsamkeit, zu der sie jetzt gezwungen war, von allen Widerwärtigkeiten, die der Bolschewismus gebracht hatte, die schrecklichste.

»Recht haben Sie,« erwiderte Savinsky, »da unsere Tage in Rußland nun doch einmal gezählt sind, wollen wir sie in Glanz verleben. Ich habe meinem Koch einen unbeschränkten Kredit eröffnet. Auch besitze ich schon ein ganzes Lager von Brennholz und kaufe noch um einige Tausend Rubel. Nach und nach werde ich auch meinen Weinkeller übersiedeln, ein paar Körbe Champagner sind mir geblieben, Rheinweine, die ich für die Hochzeit meiner Tochter aufgehoben habe, und ein Chateau Latour, wie man ihn hier nicht mehr findet. Meine Diners werde ich um sechs Uhr abends geben und für Sie wird der Heimweg nur ein Katzensprung sein. Wenn nötig, dingen wir ein paar Leute vom Preobrajenski zu unserem Schutz. Denn, wissen Sie,« fügte er halb ernsthaft, mit geheimnisvoller Miene hinzu, »die Preobrajenski hier in dieser Gasse, zwei Schritte weit von Ihnen, die sind die Hoffnung der Gegenrevolution! Diese Burschen haben die Teilnahme am Staatsstreich vom 7. November verweigert. Ihretwegen findet man im Smolny keinen Schlaf – ja, sie bleiben hübsch artig in ihrer Kaserne und blicken mit Verachtung auf ihre Nachbarn vom Regiment Paul, die ihrerseits wieder die Hauptstütze der Bolschewiki sind . . . Zum Glück nimmt die Zahl der Paulisten täglich ab. Ich sehe sie früh und abends in ganzen Scharen zur Bahn ziehen, tief gebeugt unter der Last all der Dinge, die ihre Säcke füllen. Geld müssen sie auch haben, denn oft nehmen sie einen Iswostschik. Wenn das noch eine Weile so fort geht, wird bald kein einziger mehr hier sein! Glückliche Reise . . .«

Eine lange Unterhaltung über die Situation kam in Gang. Natalie war zuversichtlich. Die Bolschewiki würden rasch abwirtschaften. Sie seien zu schwach, um ihr Programm durchzusetzen. Auch die Gesandtschaften, mit denen Natalie immer noch in engster Fühlung stand, wären voll Vertrauen. – Und wirklich, es gab keine Schreckensherrschaft und nur einige Dutzend ehemalige hohe Beamte leisteten den Ministern der provisorischen Regierung in ihren Gefängnissen Gesellschaft. Also man konnte sich für die wenigen Wochen der Herrschaft Lenins und Trotzkis schließlich das Leben einrichten. Auch die Deutschen würden übrigens eine Befestigung der Bolschewikenmacht nicht zulassen. In dem Zustand der Auflösung, in dem Armee und Regierung waren, würden sie in Petersburg und Moskau, ohne einen Schuß abzugeben, einziehen. Indessen habe sie sich auch in anderer Weise gesichert und einem Attaché der englischen Botschaft, Lord Douglas, Gastfreundschaft gewährt, denn dessen Anwesenheit bot einen sicheren Schutz gegen nächtliche Hausdurchsuchungen und gegen die Scherereien tagsüber, die von den maximalistischen Kommissionen zu gewärtigen waren. –

Savinsky unterdrückte ein Schmunzeln. Lord Douglas war nämlich ein Jüngling von ungewöhnlicher, klassischer Schönheit, der in dem einen Jahr, seitdem er in Petersburg war, gewaltige Erfolge gehabt hatte und der – – als der Liebhaber der bezaubernden Natalie galt!

»Das nenne ich einen geschickten Schachzug,« dachte er, »wenn diese Frau es nicht versteht, sich immer aus der Affäre zu ziehen . . .!« Er hatte guten Grund, so zu denken, denn aus sicherer Quelle wußte er, daß Natalie Schupow-Karamin auch mit Semeonow wieder in Verbindung stehe. Sie sah ihn im Geheimen, da Semeonow es nicht für klug hielt, sich in ihrem Salon zu zeigen. Was wurde wohl zwischen ihr und dem ehemaligen Gardeoffizier, der jetzt unmittelbar neben Trotzki im Ministerium des Äußeren arbeitete, ausgesponnen? – Tatsache blieb, daß Iwan Schupow-Karamin, obgleich durch sein Zusammenarbeiten mit Protopopow nicht wenig kompromittiert, nicht die mindeste Unruhe zeigte, ja sogar sehr fröhlicher Laune war.

Als Savinsky sich von der Schupow verabschiedete, lud sie ihn für den zweitnächsten Tag zum Diner.

»Ein paar Leute kommen am Abend,« sagte sie, »alle aus der Nachbarschaft. Meine kleine Lydia hat mir auch zugesagt. Sahen Sie sie seither? – Seit dem Tod ihres Vetters ist dies ihr erster Ausgang.« –

An dem vereinbarten Tage ging Nikolaus mit einer Freude zu Natalie Schupow-Karamin, wie er sie niemals bei dem Gedanken in diesem Hause zu verkehren gefühlt hatte. Es wurde um sieben gespeist, um allen Eingeladenen zu ermöglichen, noch zeitig nach Hause zu kommen. Zwölf Gäste waren geladen, die alle in unmittelbarer Nähe wohnten. Lydia war schon da, als er kam. Er schaute sie besorgt an und war überrascht, sie heiter, von Jugend und Schönheit strahlend, zu finden. Nur in ihren Augen glaubte er die Spuren der durchlebten furchtbaren Tage zu entdecken, ihr Blau schien dunkler, grundloser als zuvor. »Suche ich nicht vielleicht Spuren einer Empfindung in ihr, die sie in Wahrheit niemals fühlte?« dachte er. – Sie trug zum erstenmal eine Reihe Perlen und ein dekolletiertes Abendkleid. Sie saß mitten im Kreise und so konnte er zunächst nicht allein mit ihr sprechen. Bei Tisch war der schöne Lord ihr Nachbar, an dessen linker Seite die von Savinsky geführte Hausfrau saß. Nikolaus bemerkte, daß Lord Douglas sich mit seiner jungen Tischdame viel mehr befaßte, als mit der Hausfrau. Lydia nahm die Huldigungen des englischen Antinous mit Vergnügen entgegen. Nach Tisch gesellte sich Iwan Schupow zu den beiden. Erst gegen zehn Uhr, als man aufzubrechen begann, verließ Lydia – übrigens ziemlich unvermittelt – ihre beiden Gesellschafter und kam zu Savinsky.

»Sind Sie in den nächsten Tagen sehr beschäftigt, Nikolaus Wladimirowitsch? Sie ahnen nicht, wie gerne ich mit Ihnen plaudern möchte.«

Nikolaus blickte sie mit einem versteckten Lächeln an. Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort, dann sprach er fröhlich: »Ich mache, wie jeder, tausend dringende Sachen, die alle unnötig sind. Ich werde sie Ihnen gerne opfern. War es doch eine allzulange Zeit, in der mir meine kleine Freundin entzogen blieb.«

»Möchten Sie vielleicht morgen nachmittag mit mir spazieren gehen? Ich hätte Lust ein wenig Bewegung zu machen. Holen Sie mich nach Tisch ab, wenn es Ihnen paßt und gegen vier Uhr gebe ich Sie wieder frei.«

Savinsky erinnerte sich im gleichen Augenblick, daß er um zwei Uhr eine wichtige Besprechung mit einem Bankdirektor habe. Es war ein langweiliger, geschwätziger, alter Herr. In der gleichen Sekunde verzichtete er auch schon auf diese Begegnung und nahm die Aufforderung Lydias an. Sie verließ ihn kurz danach, um heim zu gehen. Lord Douglas beeilte sich, ihr seine Begleitung anzubieten und führte sie über den großen Hof, der dem Palais Volynski und dem Hause der Schupow gemeinsam war. Einige Dworniks hatten dort in kalter Novembernacht die Wache bezogen. –


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