Leonid Andrejew
Der Gouverneur
Leonid Andrejew

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VIII.

Viele konnten von den Dächern herab die Hinrichtung des Königs mit ansehn; aber auch auf den Dächern war nicht Raum genug für alle, und so war es manchen nicht vergönnt, zu sehen, wie Könige hingerichtet werden.

Aber die hohen, engen Häuser, mit schwarzem, flatterndem Haar, an Stelle der Dächer, schienen lebendig zu werden; und die geöffneten Fenster glichen schwarzen, funkelnden Augen. Hinter den Häusern ragten stumpfe und spitze Glockentürme zum Himmel empor, wie sonst, aber wenn man genauer hinsah, so bemerkte man, daß manche Querbalken allzu schwarz, fast beweglich waren: da stand auch Volk. Von dort aus war zwar nichts zu sehn, trotzdem schauten sie. Von den Dächern aus erschien das Schafott so klein wie ein Kinderspielzeug – etwa wie ein umgestürzter Kinderkarren mit zerbrochenen Handgriffen. Die einzelnen Menschen um das Schafott herum, – die einzigen auf dem Platz noch für sich sichtbaren, – da alles übrige zu einer unzertrennlichen, gedrängten, einem merkwürdigen, schwarzen Gazeschleier gleichenden Masse verschmolz, – diese einzelnen Menschen erinnerten in lächerlicher Weise an Ameisen, die sich auf die Hinterbeinchen setzen. Alles schien eben, sie aber kletterten langsam und mühevoll unsichtbare Stufen empor und bewegten sich hin und her. Und seltsam erschien es, daß dicht daneben auf dem Dache Menschen mit großen Köpfen, Mündern und Nasen standen.

Die Trommel wurde gerührt.

Ein kleiner, geschlossener Wagen bewegte sich zum Schafott; lange Zeit konnte man nichts unterscheiden. Dann trennte sich ein Häuflein und stieg ganz langsam die unsichtbaren Stufen hinauf. Es löste sich in einzelne Teile, fiel auseinander, – nur ein Figürchen blieb in der Mitte.

Die Trommel wurde gerührt. Die Herzen erstarrten. Jäh und heiser brach der Trommelwirbel ab und verstummte. Das Figürchen erhob ein Händchen, ließ es sinken, erhob es wieder. Jedenfalls spricht er, aber es ist nichts zu hören. Was spricht er? Es dröhnen die Trommeln, sie zerreißen die Atmosphäre in Milliarden vibrierender Teilchen, und machen es unmöglich zu sehen.

Auf dem Schafott bewegt sich etwas. Das kleine Figürchen ist verschwunden. Es wird hingerichtet. Die Trommeln krachen und brechen wieder heiser und jäh ab. Stille. Auf dem Platz, den soeben noch der Zwanzigste einnahm, steht ein anderes Figürchen mit ausgestreckter Hand. In der Hand hält es etwas ganz Winziges, das auf einer Seite hell, auf der anderen dunkel ist, – wie ein mit zwei Farben bemalter Stecknadelkopf. Das war eben der Kopf des Königs. Endlich...

... Unter höhnischem Geheul der Menge, sie zurückstoßend, hat man den Sarg mit dem Rumpf und dem Kopf des Königs entführt; sie fürchteten, die Wut des Volkes würde selbst die Überreste des Königs nicht schonen. Denn das Volk war schrecklich. In eingewurzelter Sklavenfurcht glaubte es noch immer nicht daran, daß so etwas geschehen konnte, daß der unantastbare, unerreichbare, mächtige Gebieter sein Haupt unter des Henkers Beil gelegt hat. Angstvoll und blind drängt es nach dem Schafott: die Augen können ja trügen, das Gehör täuscht ... Man muß das Schafott betasten, den Geruch des königlichen Blutes einatmen, die Hände bis zum Ellenbogen darin eintauchen. Sie schlagen sich, einige fallen nieder, kreischen, etwas Weiches, wie ein zusammengerollter Fetzen, wälzt sich hindernd unter den Füßen. Ein Erdrückter, ein zweiter, mehrere...

Am Trümmerhaufen angelangt, der vom Schafott zurückgeblieben ist, brechen sie mit zitternden Händen kleine Stückchen ab, reißen sie los, die Nägel brechend, ergreifen gierig und blind ganze Balken und sinken wenige Schritte davon unter ihrer Last zusammen. Die Menge schließt sich über den Köpfen der Zusammengebrochenen, die Balken tauchen wie lebendig empor, schwimmen mit, versinken wieder, nur ein schartiges Ende zeigend, verschwinden schließlich. Sie finden eine noch nicht ausgetrocknete Pfütze Blut, sie tauchen ihre Tücher und ihre Kleider darein. Manche benetzen ihre Lippen mit dem Blut und machen auf der Stirn seltsame Zeichen; mit dem Blute des Königs salben sie das neue Reich der Freiheit.

Wilde Freude berauscht sie. Ohne Gesang, ohne Worte drehen sie sich atemlos im Tanze; sie rennen ziellos hin und her, die blutbefleckten Fetzen zum Himmel erhebend und zerstreuen sich in der Stadt, mit sich führend Lärm und Geschrei und unaufhaltsames, seltsames Lachen. Sie versuchen zu singen, doch ist ihnen das Lied zu langsam, zu ruhig sein Fluß und zu rhythmisch, und aufs neue gehn sie über zu Lachen und Geschrei. Sie eilen fort, um der Versammlung für die Befreiung des Vaterlandes vom Tyrannen zu danken. Unterwegs lassen sie sich hinreißen, einen Verräter zu verfolgen, der da ruft: »Der König ist tot! Es lebe der König! Es lebe der Einundzwanzigste!« Sie rennen weiter – Einer ist gehängt.

Viele, die den König im geheimen weiter liebten, vermochten den Gedanken nicht zu ertragen, daß er hingerichtet sei, und verloren den Verstand. Viele, sogar Feiglinge, töteten sich. Bis zum letzten Augenblick hatten sie etwas Unvorhergesehenes erwartet, auf irgend eine Rettung für ihn gehofft, und an den Erfolg ihrer Gebete geglaubt. Als aber die Hinrichtung erfolgte, fielen sie in Verzweiflung und erstachen sich mit Messern, die einen still und stumpf, andere mit grimmiger Gotteslästerung. Es gab auch solche, die in wilder Sehnsucht nach dem Martyrium auf die Straße hinausliefen, der sich daherwälzenden Volkslawine entgegenstürzten und wie rasend schrieen: »Es lebe der Einundzwanzigste!«

Und die gingen zugrunde...

Der Tag ging zur Neige; Nacht zog über die Stadt, eine finstere, gerechte Nacht, blind für alle Unterscheidung. In der Stadt brannten noch viele Lichter, der Fluß unter der Brücke war jedoch schwarz, wie flüssiger Ruß; nur dort an der Biegung, wo hinter dem breiten, stumpfen Turm der bleiche, kühle Sonnenuntergang vollendet war, glänzten die Wasser matt, wie die kühlen Reflexe von poliertem Metall. Zwei Gestalten standen auf der Brücke und, auf den Rand gestützt, blickten sie in die rätselhafte, dunkle Tiefe.

»Glaubst du, daß mit dem heutigen Tage die Freiheit eingezogen ist?« fragte der eine; er fragte leise, während in der Stadt noch die Lichter brannten, und der Fluß unter der Brücke schwarz schillerte.

»Sieh, dort schwimmt eine Leiche,« sagte der andere; er sagte es leise, weil die Leiche ganz nahe war und mit ihrem bläulichen Antlitz emporblickte.

»Es schwimmen ihrer jetzt viele auf dem Flusse. Sie schwimmen dem Meer zu«...

»Ich glaube nicht an ihre Freiheit. Sie freuen sich allzusehr über den Tod des Jämmerlings.«

Aus der Stadt, wo noch Lichter brannten, zog ein Getöse von Stimmen, Lachen und Gesang herüber. Dort war es noch lustig.

»Die Macht muß getötet werden,« sagte der erste.

»Man muß die Sklaven töten, eine Macht gibt es nicht, – es gibt nur Knechte!«

Wieder taucht eine Leiche auf, noch eine, immer mehr. Wie groß ist ihre Zahl! Von wo schwimmen sie alle hervor? So plötzlich treiben sie alle unter der Brücke.

»Sie lieben doch alle die Freiheit?«

»Nein, sie fürchten nur die Peitsche! Wenn sie erst lernen, die Freiheit zu lieben, werden sie auch frei werden...«

»Geh'n wir fort. Mir wird übel beim Anblick der Leichen.«

Sie wendeten sich und gingen. Und plötzlich, während in der Stadt noch die Lichter brannten, und der Fluß so schwarz war, wie aufgelöster Ruß, erblickten sie im Westen etwas Schweres und Trübes, geboren aus der Finsternis und dem Licht. Wo der Fluß sich in den schwarzen Ufern verlor und tiefe Dunkelheiten webten, als ob sie lebendig wären, stieg etwas Ungeheures, Gestaltloses, Blindes empor. Es erhob sich und stand unbeweglich, und obgleich es keine Augen hatte, sah es; gestaltlos schien es Hände nach der Stadt zu strecken; obgleich es tot war, lebte und atmete es. Es war grauenhaft.

»Das ist Nebel über dem Flusse,« sagte der eine.

»Nein, das ist eine Wolke,« sagte der andere.

Es war Nebel und Wolke.

»Es scheint zu sehen!«

Es sah.

»Es scheint zu hören!«

Es hörte.

»Es kommt hierher!«

Nein, es stand regungslos – ungeheuer, gestaltlos, blind. Auf seltsamen Wülsten glühte der rote Widerschein der Lichter der Stadt auf, während unten der schwarze Fluß sich in den schwarzen Ufern verlor, und Dunkelheiten webten, als ob sie lebendig wären.

Schwankend trieben Leichname heran und verschwanden im Dunkel; andere tauchten lautlos auf, schwankten, verschwanden, – unzählige stille Leichen, mit Träumen, ebenso schwarz und kalt wie das Wasser, das sie trug.

Aber in dem hohen Turm, woraus man des Morgens den König geführt, schlief unter dem Pendel der einäugige Uhrmacher in tiefem Schlaf. An diesem Tage war er zufrieden gewesen über die Ruhe im Turm, er sang sogar, – der Einäugige sang! – und wandelte frohgemut zwischen den Rädern und den Hebeln einher, bis es finster wurde. Er berührte die Seile, setzte sich auf die Treppe, baumelte mit den Füßen und murmelte vor sich hin: den Pendel sah er dabei nicht an, denn er tat so, als sei er ihm böse. Dann blickte er jedoch verstohlen von der Seite zu ihm hin und begann zu lachen. Erfreut antwortete ihm der Pendel und lachte ebenfalls. Er schwang hin und her, grinste mit seinem kupfernen Gesicht und flüsterte:

»So war's – so wird's, so war's – so wird's.«

»Nun, nun!« spornte ihn der Einäugige an, vor Lachen sich schüttelnd.

»So war's – so wird's.«

Als es finster wurde, legte sich der Einäugige zur Ruhe und schlief fest ein; aber der Pendel schlief nicht, er bewegte sich die ganze Nacht hindurch über seinem Kopf und wehte ihm seltsame Träume zu.

 


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