Leonid Andrejew
Der Gouverneur
Leonid Andrejew

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VII.

Einen König hatte man erwartet, und ein Narr war gekommen. Einen Drachen hatte man erwartet, und gekommen war ein verschnupfter Spießbürger mit einem Taschentuch. Es war lächerlich und seltsam und ein wenig peinlich. Ob nicht eine Unterschiebung geschehen war?

»Ich bin's, der König!« sagte der Zwanzigste.

Ja, er ist es! Wie lächerlich! So sieht ein König aus! Man lächelt, zuckt die Achseln, verbeißt das Lachen und winkt sich gegenseitig höhnisch lächelnd von einem Ende des Saales zum andern zu, als wolle man fragen: »Ist er nicht schön?« Die Abgeordneten sind ernst, sehr ernst, sogar bleich; wahrscheinlich drückt sie die Verantwortlichkeit. Aber das Volk freut sich im stillen. Wie ist es ihnen nur gelungen, in die Versammlung einzudringen? Es muß einfach wie Wasser durch die hohen Fenster, durch Spalten und Ritzen eingesickert sein, vielleicht durchs Schlüsselloch; Hunderte von zerlumpten, bunt und phantastisch gekleideten, aber überaus freundlichen und höflichen Unbekannten. Sie umdrängen die Abgeordneten und fragen:

»Stören wir nicht, Bürger?«

Sie sind sehr sittsam. In dunklen Gruppen nisten sie wie Vögel auf dem Fenstersims, das Licht verstellend und mit den Händen etwas hinaustelegraphierend. Augenscheinlich etwas Lustiges.

Aber die Abgeordneten sind ernst, sehr ernst, sogar bleich. Sie richten ihre vortretenden Augen wie Fernrohre auf den Zwanzigsten, betrachten ihn lange und seltsam und wenden sich mit verdüsterten Stirnen ab. Manche von ihnen halten die Augen geschlossen, es erfüllt sie sichtbar mit Ekel, auf den Tyrannen zu schauen.

»Abgeordneter! Bürger!« flüstert mit komischem Entsetzen einer der sittsamen Unbekannten, »Sehen sie, wie die Augen des Tyrannen glühen!«

Ohne die niedergeschlagenen Lider zu heben:

»Ja.«

»Wie hat er sich mit unserem Blute vollgetrunken!«

»Sie sind nicht gesprächig, Bürger.«

Schweigen. Unten murmelt der Zwanzigste irgend etwas. Er begreift nicht, wessen man ihn anklagen kann, er hat sein Volk immer geliebt, und das Volk hat ihn geliebt. Und auch jetzt liebt er es, allen Schimpf nicht achtend. Und wenn man glaubt, daß dem Volke mit einer Republik besser gedient ist, so soll Republik sein, er hat nichts dagegen.

»Warum hast du denn aber die anderen Tyrannen gerufen?«

»Ich rief sie nicht, sie kamen von selbst.«

Eine lügenhafte Antwort, man fand versteckte Dokumente, er aber leugnet, in grober und dummer Weise, wie der erste beste, des Betrugs beschuldigte Spitzbube. Er fühlt sich sogar beleidigt, da er wirklich stets nur an das Volk gedacht hat. Es ist nicht wahr, daß er grausam ist, er hat stets begnadigt, wo es möglich war. Es ist nicht wahr, daß er das Reich zugrunde gerichtet habe, denn er hat nicht mehr für sich ausgegeben wie irgend ein wohlhabender Bürger. Er war niemals ausschweifend, noch verschwenderisch. Er liebt die griechischen und lateinischen Klassiker und das Tischlerhandwerk, die Möbel in seinem Arbeitszimmer sind von ihm selbst gearbeitet.

Das ist richtig, wenn man ihn genau betrachtet, so sieht er wirklich wie ein bescheidener Spießbürger aus; solche Dickwänste mit großen Trompeten-Nasen kann man an Feiertagen in Mengen am Ufer des Flusses erblicken, wie sie stundenlang Fische angeln. Unbedeutende, lächerliche Menschen mit großen Nasen.

Aber er war doch König! Wie kommt das? Dann kann doch jeder König sein! Dann kann ja selbst ein Gorilla unbeschränkter Gebieter über Menschen werden? Auch ihm würden sie einen vergoldeten Thron errichten und göttliche Ehren erweisen, auch er würde den Menschen Gesetze geben – ein Gorilla mit zottigem Leib, aus den Wäldern hervorgekrochen.

Der kurze Herbsttag geht zur Neige, und das Volk beginnt seine Ungeduld kundzugeben: warum so viel Umstände mit dem Tyrannen? Ist es nicht am Ende ein neuer Verrat? In einem halbdunklen Zimmer, wo tiefe Stille herrscht, begegnen einander zwei Abgeordnete, die die Versammlung verlassen haben. Die sehen einander an, erkennen sich und gehen schweigend nebeneinander, aus irgend einem Grunde eine Berührung vermeidend. Sie gehen auf und ab.

»Wo ist denn der Tyrann?« ruft plötzlich der eine, indem er den andern an der Schulter packt. »Sage mir, wo ist der Tyrann?«

»Ich weiß es nicht, ich schäme mich, dorthin zu gehen!«

»Gräßlicher Gedanke! Ist denn diese Nichtigkeit die Tyrannei? Sind denn wirklich Nichtige – Tyrannen?«

»Ich weiß es nicht, ich schäme mich.«

In dem kleinen Stübchen war es still, aber von allen Seiten, von der Versammlung, vom Platz, wo das Volk sich drängte, erhob sich gleichmäßiges, lautes Geräusch. Möglicherweise sprach jeder Einzelne leise, aber die Stimmen ergaben zusammen ein elementares Dröhnen, das dem Rauschen des fernen Ozeans glich. An den Wänden flackerten rote Streifen und Flecke. Offenbar hatte man unten Fackeln angezündet. In der Nähe hörte man schwerfällige Schritte und leises Waffengeklirr, – die Wachen lösten sich ab. Wen bewachten sie? Etwa ihn?

»Man muß ihn aus dem Lande hinauswerfen!«

»Nein, das wird das Volk nicht zugeben, er muß getötet werden!«

»Das wird doch aber ein neuer Verrat sein!«

An den Wänden huschen purpurrote Lichtstreifen, kriechen und jagen wirre, düstere Gestalten; es ist, als zögen in trübem Traum die blutigen Tage der Vergangenheit und der Gegenwart endlos vorüber. Der Lärm auf dem Platze schwillt an; schon vernimmt man einzelne Rufe.

»Zum erstenmal im Leben hatte ich heute Angst!«

»Und Verzweiflung und Scham!«

»Ja, Verzweiflung. Gib mir die Hand, Bruder. Wie kalt sie ist!... Hier vor dem Angesicht der unbekannten Gefahr, im Augenblick der großen Schmach wollen wir schwören, daß wir die unglückselige Freiheit nicht verraten werden. Wir werden zugrunde gehen, das fühlte ich heute, aber sterbend werden wir rufen: »Freiheit, Freiheit, Brüder!« So laut werden wir es hinausschreien, daß die ganze Welt der Sklaven vor Entsetzen erbeben wird ... Bruder, drücke meine Hand fester!«

Wieder war es still, die purpurroten Flecke flackerten an den Wänden, und die wirren und stummen Schatten bewegten sich irgendwohin, draußen aber tobte es immer wütender, wie aus unermeßlichen Tiefen. Als hätte sich ein Orkan erhoben – von Nord und Süd, von Ost und West, die zitternde Menge in die Lüfte reißend. Abgerissene Lieder, Geheul, und aus dem Chaos der Töne in ungeheuren, schwarzen, zackigen Linien das eine Wort:

»Tod, Tod dem Tyrannen!«

Sie standen und lauschten und dachten. Die Zeit verrann, und sie standen noch immer regungslos, inmitten der rasenden Feuer- und Rauch-Schatten, und es erschien, als ob sie so seit tausend Jahren daständen. Tausend durchsichtige Jahre umgaben sie mit großem, fürchterlichem Ewigkeitsschweigen, die Schatten rasten, das Geschrei erhob sich und fiel, und stieg strudelnd wieder zu den Fenstern hinauf. Minutenlang konnte man den rätselhaften und beklemmenden Rhythmus der Welle und das Gepolter der abstürzenden Brandung deutlich vernehmen:

»Tod! ... Tod dem Tyrannen!«

»Komm, wir wollen hingehn!«

»Ja, gehn wir! Dummkopf, der ich bin! Ich glaubte, der heutige Tag wird den Kampf mit der Tyrannei beendigen.«

»Ach, der beginnt erst. Gehn wir nur!«

Dunkle Gänge, steinerne Treppenstufen, lautlose, kühle Säle, so dumpf wie Kellerräume ... Da plötzlich erglänzt Licht, eine Glut, wie aus einem Hochofen, schlägt den Kommenden entgegen, an ihre Ohren dringt lautes, zusammengeballtes Sprechen, als ob hundert Papageien durcheinander schrieen; jeder immer für sich. Eine geöffnete niedrige Tür – und zu ihren Füßen eine riesige, in Halbdunkel getauchte, dunstige, mit Köpfen bunt besetzte Höhle; rote, in der schwülen Luft fast erstickende Lichtzünglein.

Irgendwo wird gesprochen, Händeklatschen; ein Redner muß eben zu Ende sein.

Ganz unten in der Höhle ist zwischen zwei tropfenden Lichtern die Gestalt des Zwanzigsten zu sehn. Er wischt sich die Stirn mit dem Tuch, beugt sich tief über den Tisch und murmelt irgend etwas Unverständliches: – er hält seine erste Verteidigungsrede. Wie heiß ihm ist! Nun ja, Zwanzigster! Du bist doch König! Erhebe deine Stimme, adle Beil und Henker!

Nein, er murmelt etwas, – der Dummkopf, der tragisch-ernste!

 


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