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Mitten auf einem Platze stand ein riesiger, schwarzer Turm mit dicken Festungsmauern und wenigen Fenstern, wie Schießscharten. Raubritter hatten ihn erbaut, aber die Zeit war über sie hinweggegangen, und der Turm diente nun teils als Gefängnis für gefährliche und schwere Verbrecher, teils zu Wohnräumen. Alle hundert Jahre wurden neue Teile angebaut, man schloß sie dicht an die dicke Umfassungsmauer. Allmählich entstand so ein ganzes Städtchen, das am Felsen klebte und einen unregelmäßigen Wald von Schornsteinen, Türmchen und scharfen Dächern bildete. Wenn im Westen der grünliche Himmel erglänzte, und in den Fenster hie und da, bald oben, bald unten, Lichter aufsprühten, nahmen die schwarzen Mauermassen wunderliche, phantastische Umrisse an, und es schien, als breite sich unten, zu ihren Füßen, nicht die gewöhnliche Straße aus, sondern das Meer, die grenzenlose salzige Flut.
Und man wurde dann an alte Zeiten, an längst Vergessenes und Vergangenes gemahnt. Auf dem Turme befand sich eine riesengroße alte, von weitem sichtbare Uhr, deren kunstvolles Werk ein ganzes Stockwerk einnahm. Sie wurde von einem Manne betreut, der einäugig war und darum sehr bequem durch die Lupe sehen konnte. Aus diesem Grunde war er Uhrmacher geworden und hatte lange an kleinen Uhren gearbeitet, bevor man ihm die große übertragen. Bei diesem Dienste fühlte er sich wohl und oft betrat er, ohne Notwendigkeit, bei Tage und bei Nacht, das Zimmer, wo die Zahnräder und Hebel sich langsam bewegten, und der Riesenpendel mit breitem gleichmäßigen Schwung die Luft durchschnitt.
Wenn der Pendel die Höhe seines Schwunges erreichte, sagte der Alte: »So war's!« Er fiel herab, stieg zu neuer Höhe empor und der Einäugige sagte dazu: »So war's – so wird's, so war's – so wird's.« Mit diesen Worten gab der Uhrmacher den eintönigen, geheimnisvollen Schlag des Pendels wieder. Durch den Umgang mit der großen Uhr war er ein Philosoph geworden, wie man damals zu sagen pflegte.
Über die alte Stadt, wo der Turm stand, und über das ganze Land ragte ein Mann empor, ein rätselhafter Gebieter über Land und Stadt. Die geheimnisvolle Macht dieses Einzigen über Millionen war ebenso alt, wie die Stadt selbst. Er wurde König genannt und trug den Beinamen: der Zwanzigste, nach der Zahl seiner gleichnamigen Vorgänger, aber das erklärte gar nichts. Ebensowenig, wie der Ursprung der Stadt, war auch der Ursprung dieser seltsamen Macht irgend jemand bekannt; soweit das menschliche Gedächtnis reichte, zeichnete sich in der Vergangenheit stets dieses rätselhafte Bild Eines, der über Millionen gebot, ab. Dahinter stand die stumme Vergangenheit, in die das menschliche Gedächtnis nicht mehr hinabreichte. Aber auch sie öffnete manchmal den Mund und spie einen Stein aus, eine kleine mit irgendwelchen Zeichen beschriebene Scherbe, einen Brocken von einer Säule, einen Ziegelstein aus einer zerstörten Mauer, und schon diese Zeichen erzählten von Einem, der über Millionen gebot. Titel, Namen und Beinamen wechselten, aber das Bild blieb unverändert, unsterblich. Der König kam zur Welt und starb wie andere Menschen, auch in seinem Äußeren, das allen gegenwärtig war, war er ein Mensch. Machte man sich aber das grenzenlose Gebiet der Macht und Herrschaft klar, über das er verfügte, so konnte man eher annehmen, er sei ein Gott, um so mehr, als man auch Gott sich stets menschenähnlich vorstellte, ohne daß dadurch übrigens dessen besonderes unbegreifliches Dasein in Frage gestellt wurde.
Der Zwanzigste war König. Das bedeutete, er konnte einen Menschen glücklich und unglücklich machen; er konnte ihn des Vermögens, der Gesundheit, der Freiheit, selbst des Lebens berauben; auf ein Wort von ihm gingen Zehntausende von Menschen in den Krieg, um zu töten oder zu sterben; in seinem Namen wurde Recht und Unrecht, Gutes und Böses, Grausamkeit und Barmherzigkeit geübt. Seine Gesetze waren nicht weniger gebieterisch als die Gebote Gottes; er unterschied sich in seiner Macht aber doch von Gott, denn er konnte seine Gesetze beständig ändern, während Gott seine Gebote niemals ändert. Fern oder nahe stand er stets über dem Leben; wenn der Mensch zur Welt kam, fand er zugleich mit der Natur, mit Städten und Büchern stets den König vor; wenn er starb, verließ er die Natur, Städte, Bücher und auch den König.
Die mündliche und schriftliche Geschichte des Landes bot Beispiele großmütiger, gerechter und guter Könige; und obgleich es auf Erden stets Menschen gab, die besser waren als sie, so schien es immerhin begreiflich, weshalb diese herrschten, häufiger aber geschah es, daß der König der schlechteste auf Erden war, grausam, ungerecht, aller Tugenden bar und sogar verrückt, – aber auch dann blieb er der rätselhafte Einzige, der über Millionen gebot, und seine Macht wuchs zugleich mit seinen Verbrechen. Alle haßten und verfluchten ihn, er aber befahl über die Hassenden und Fluchenden; – und diese wilde Macht wurde zum Rätsel, und zu der Furcht des Menschen vor dem Menschen kam das mystische Grauen vor dem Unbekannten hinzu. Daher konnte es geschehen, daß Weisheit, Tugend und Menschlichkeit der Könige Macht schwächten und strittig machten, während Tyrannei, Wahnsinn und Bosheit sie festigten. Daher kam es auch, daß der allermächtigste dieser rätselhaften Gebieter keinen Einfluß hatte auf die Schaffenskraft und das Gute, während der schwächste von ihnen in Zerstörungswut und Bosheit den Teufel und alle höllischen Mächte übertraf. Das Leben vermochte er nicht zu geben, – den Tod jedoch gab er unaufhörlich, – dieser rätselhafte Spender des Wahnwitzes, des Todes und des Bösen; und um so höher erhob sich der Thron, je mehr menschliches Gebein für sein Fundament niedergelegt wurde.
Auch in andern Nachbarländern saßen Herrscher auf dem Thron, und auch ihre Macht verlor sich in der Unendlichkeit der Zeiten. Es gab Jahre und Jahrhunderte, da in einem der Reiche der geheimnisvolle Herrscher verschwand; aber noch niemals war es vorgekommen, daß die ganze Erde von ihnen frei war. Wieder verstrichen Jahrhunderte, und von neuem erstand, man wußte nicht woher, im Reiche ein Thron, und wieder saß darauf ein rätselhaftes, in der Vereinigung von Kraftlosigkeit und unsterblicher Macht unbegreifliches Wesen. Mit seiner Rätselhaftigkeit bezauberte es die Menschen: zu allen Zeiten gab es unter ihnen solche, – und ihre Zahl war groß, – die es mehr liebten, als sich selber, mehr, als ihre Frauen und Kinder, und die demütig, ohne zu murren und zu klagen, von ihm und in seinem Namen, wie aus den Händen Gottes, den grausamsten und schmachvollsten Tod empfingen.
Der Zwanzigste und seine Vorgänger zeigten sich selten dem Volke und wurden nur von wenigen gesehen; aber sie liebten es alle, das Volk mit ihren Bildern zu beschenken, die sie auf Münzen prägen, in Stein hauen, unzählige Male auf Leinwand abdrucken und überall durch künstlerische Erfindungen verschönern und vervollkommnen ließen. Man konnte keinen Schritt machen, ohne ihr Gesicht zu sehen, – stets dasselbe simple und rätselhafte Antlitz, das sich durch seine Häufigkeit gewaltsam in das Gedächtnis eindrängte, die Einbildung überwältigte und eine Art von Allgegenwart erwarb, zu der erwähnten Unsterblichkeit des Einen. Und Menschen, die sich ihres Großvaters nur schwach erinnerten und ihren Urgroßvater gar nicht kannten, waren mit dem Antlitz des Gebieters, der vor 100, 200, 1000 Jahren geherrscht hatte, genau vertraut. Und wie gewöhnlich das Gesicht des Einen, der über Millionen gebot, auch immer sein mochte, stets ruhte auf ihm das Siegel des Geheimnisses und des schrecklichen Rätsels. So wie das Antlitz eines Verstorbenen rätselhaft und bedeutsam erscheint, denn aus seinen gewohnten, bekannten Zügen blickt der geheimnisvolle und mächtige Tod selber hervor.
So hoch stand über dem Leben der König. Menschen starben, ganze Geschlechter verschwanden von der Erde, er aber änderte nur den Namen, wie die Schlange ihre Haut: nach dem Elften kam der Zwölfte, dann der Fünfzehnte, dann wieder der Erste, der Fünfte, der Zweite, und in diesen kalten Ziffern ertönte dieselbe Notwendigkeit, wie in den Bewegungen des Pendels, der die Minuten anzeigte.