H. C. Andersen
Ausgewählte Märchen
H. C. Andersen

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Sechste Geschichte. Die Lappin und die Finnin.

Vor einem kleinen Hause hielten sie an, es war sehr ärmlich; das Dach ging bis zur Erde hinunter, und die Thür war so niedrig, daß die Familie auf dem Bauch kriechen mußte, wenn sie heraus oder hinein kommen wollte. Hier war außer einer alten Lappin, welche bei einer Thranlampe Fische kochte, Niemand zu Hause. Das Rennthier erzählte Gretchens ganze Geschichte, aber zuerst seine eigene, denn diese erschien ihm weit wichtiger, und Gretchen war von der Kälte so mitgenommen, daß sie nicht sprechen konnte.

»Ach, Ihr Armen«, sagte die Lappin, »da habt Ihr noch weit zu laufen! Ihr müßt über hundert Meilen weit nach Finnmarken hinein, denn dort wohnt die Schneekönigin auf dem Lande und brennt jeden Abend bengalische Flammen. Ich werde ein paar Worte auf einen trockenen Klippfisch schreiben, Papier habe ich nicht, den werde ich Euch für die Finnin dort oben mitgeben; die kann Euch besser Bescheid ertheilen als ich.«

Und als Gretchen nun erwärmt worden war und zu essen und zu trinken erhalten hatte, schrieb die Lappin ein Paar Worte auf einen trockenen Klippfisch, bat Gretchen, wohl darauf zu achten, band sie wieder auf das Rennthier fest, und dieses sprang davon. Die ganze Nacht brannten die schönsten, blauen Nordlichter; – und dann kamen sie nach Finnland und klopften an den Schornstein der Finnin, denn sie hatte nicht einmal eine Thür.

Da war eine Hitze drinnen, so daß die Finnin selbst fast ganz nackt ging; sie war klein und dabei ganz schmutzig. Sie löste gleich die Kleider des kleinen Gretchen auf, zog ihr die Fausthandschuhe und Stiefel aus, denn sonst wäre es ihr zu heiß geworden, legte dem Rennthier ein Stück Eis auf den Kopf und las dann, was auf dem Klippfisch geschrieben stand. Sie las es dreimal, und dann wußte sie es auswendig und steckte den Fisch in den Suppenkessel, denn der konnte ja gut gegessen werden, und sie verschwendete nie etwas.

Nun erzählte das Rennthier zuerst seine Geschichte, dann die des kleinen Gretchen, und die Finnin blinzelte mit den klugen Augen, sagte aber gar nichts.

»Du bist klug!« sagte das Rennthier. »Ich weiß, Du kannst alle Winde der Welt in einen Zwirnsfaden zusammenbinden; wenn der Schiffer den einen Knoten löst, so erhält er guten Wind, löst er den andern, dann weht es scharf, und löst er den dritten und vierten, dann stürmt es, daß die Wälder umfallen. Willst Du nicht dem kleinen Mädchen einen Trank geben, daß sie Zwölf-Männer-Kraft erhält und die Schneekönigin überwindet?«

»Zwölf-Männer-Kraft«, sagte die Finnin, »ja, das würde viel helfen!« Und dann ging sie nach einem Brete, nahm ein großes zusammengerolltes Fell hervor und rollte es auf. Da waren wunderbare Buchstaben darauf geschrieben, und die Finnin las, daß ihr das Wasser von der Stirn herunterlief.

Aber das Rennthier bat so sehr für das kleine Gretchen und Gretchen blickte die Finnin mit so bittenden Augen voller Thränen an, daß diese wieder mit den ihrigen zu blinzeln anfing und das Rennthier in einen Winkel zog, wo sie ihm zuflüsterte, während es wieder frisches Eis auf den Kopf bekam:

»Der kleine Karl ist noch bei der Schneekönigin und findet dort Alles nach seinem Geschmack und Gefallen, und glaubt, es fei der beste Ort in der Welt. Das kommt aber davon, weil er einen Glassplitter in das Herz und ein kleines Glaskörnchen in das Auge bekommen hat; die müssen zuerst heraus, sonst wird er nie ein Mensch, und die Schneekönigin wird die Gewalt über ihn behalten!«

»Aber kannst Du nicht dem kleinen Gretchen etwas eingeben, so daß sie Gewalt über das Ganze erhält?«

»Ich kann ihr keine größere Gewalt geben, als sie schon besitzt! Siehst Du nicht, wie groß diese ist? Siehst Du nicht, wie Menschen und Thiere ihr dienen müssen, wie sie auf bloßen Füßen so gut in der Welt fortgekommen ist? Sie kann ihre Macht nicht von uns erhalten, diese sitzt in ihrem Herzen und besteht darin, daß sie ein liebes, unschuldiges Kind ist. Kann sie nicht selbst zur Schneekönigin hineingelangen und das Glas aus dem kleinen Karl bringen, dann können wir nicht helfen! Zwei Meilen von hier beginnt der Garten der Schneekönigin, dahin kannst Du das kleine Mädchen tragen; setze sie beim großen Busche ab, welcher mit rothen Beeren im Schnee steht, verliere aber nicht viele Worte und spute Dich, hierher zurückzukommen.« Damit hob die Finnin das kleine Gretchen auf das Rennthier, welches lief, was es konnte.

»O, ich bekam meine Schuhe nicht! Ich bekam meine Fausthandschuhe nicht!« rief das kleine Gretchen, in der schneidenden Kälte, aber das Rennthier wagte nicht anzuhalten, es lief, bis es zu dem Busche mit den rothen Beeren gelangte. Da setzte es Gretchen ab, küßte sie auf den Mund und es liefen einige große Thränen über des Thieres Backen, und dann lief es, was es nur konnte, wieder zurück. Da stand das arme Gretchen ohne Schuhe, ohne Handschuhe, mitten in dem fürchterlich eiskalten Finnmarken.

Sie lief vorwärts, so schnell sie konnte; da kam ein ganzes Heer Schneeflocken, aber sie fielen nicht vom Himmel herunter, der war ganz klar und glänzte von Nordlichtern. Die Schneefocken liefen gerade auf der Erde hin, und je näher sie kamen, desto größer wurden sie. Gretchen erinnerte sich noch, wie groß und künstlich sie damals ausgesehen hatten, als sie die Schneefocken durch ein Brennglas betrachtet hatte, aber hier waren sie wahrlich noch viel größer und fürchterlicher, sie waren lebend, sie waren der Schneekönigin Vorposten. Sie hatten die sonderbarsten Gestalten; einige sahen aus wie häßliche, große Stachelschweine, andere wie ganze Knoten, gebildet von Schlangen, welche die Köpfe hervorstreckten, und andere wie kleine, dicke Bären, auf welchen die Haare sich sträubten, alle glänzten weiß, alle waren lebendige Schneeflocken.

Da betete das kleine Gretchen ihr Vaterunser, und die Kälte war so groß, daß sie ihren eigenen Athem sehen konnte, der stand ihr ganz wie Rauch aus dem Munde; der Athem wurde immer dichter und dichter und gestaltete sich zu kleinen, klaren Engeln, die mehr und mehr wuchsen, wenn sie die Erde berührten, und alle Helme auf dem Kopf und Spieß und Schild in den Händen hatten. Ihre Anzahl wurde größer und größer, und als Gretchen ihr Vaterunser geendet hatte, da war ein ganzes Heer um sie; sie stachen mit ihren Spießen gegen die gräulichen Schneeflocken, so daß diese in hundert Stücke zersprangen, und

das kleine Gretchen ging ganz sicher und froh vorwärts. Die Engel liebkosten ihre Hände und Füße, da fühlte sie weniger, wie kalt es war, und ging rasch gegen der Schneekönigin Schloß vor. Aber nun wollen wir erst sehen, wie es Karl geht. Er dachte freilich nicht an das kleine Gretchen, und am wenigsten, daß sie draußen vor dem Schloß stand.


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