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Aber wie erging es dem kleinen Gretchen, als Karl nicht zurückkehrte? Wo war er doch geblieben? – Niemand wußte es, Niemand konnte Bescheid geben. Die Knaben erzählten nur, daß sie ihn seinen Schlitten an einen prächtig großen haben binden sehen, der in die Straße hinein und aus dem Stadtthore gefahren sei, Niemand wußte, wo er war, viele Thränen flössen, das kleine Gretchen weinte viel und lange; dann sagten sie, er sei todt, er sei im Flusse versunken, der nahe bei der Stadt vorbei floß. O, das waren recht lange, finstere Wintertage.
Nun kam der Frühling mit warmem Sonnenschein.
»Karl ist todt!« sagte das kleine Gretchen.
»Das glaube ich nicht!« sagte der Sonnenschein.
»Er ist todt!« sagte sie zu den Schwalben.
»Das glauben wir nicht!« erwiderten diese, und am Ende glaubte das kleine Gretchen es auch nicht.
»Ich will meine neuen, rothen Schuhe anziehen,« sagte sie eines Morgens, »die, welche Karl noch nie gesehen hat, und dann will ich zum Flusse hinunter gehen und diesen nach ihm fragen!«
Es war noch ganz früh, sie küßte die alte Großmutter, welche noch schlief, zog die rothen Schuhe an und ging ganz allein aus dem Stadtthore nach dem Flusse.
»Ist es wahr, daß Du meinen kleinen Spielkameraden genommen hast? Ich will Dir meine rothen Schuhe geben, wenn Du mir ihn wiedergeben willst!«
Und es war, als nickten die Wogen sonderbar; da nahm sie ihre rothen Schuhe, das, was sie am liebsten hatte, und warf sie beide in den Fluß hinaus, aber sie fielen dicht an das Ufer, und die kleinen Wellen trugen sie ihr wieder an das Land. Es war, als wollte der Fluß das Liebste, was sie hatte, nicht nehmen, weil er den kleinen Karl ja nicht hatte. Gretchen aber glaubte nun, daß sie die Schuhe nicht weit genug hinausgeworfen habe, und so kroch sie in ein Boot, welches im Schilfe lag, ging ganz an das Ende desselben und warf die Schuhe von da aus in das Wasser. Aber das Boot war nicht festgebunden, und bei der Bewegung, welche sie verursachte, glitt es vom Lande ab; sie bemerkte es und beeilte sich fortzukommen, aber ehe sie zurückkam, war das Boot über eine Elle vom Lande, und nun trieb es schneller von dannen.
Da wurde das kleine Gretchen ganz erschrocken und fing an zu weinen; aber Niemand außer den Sperlingen hörte sie, und die konnten sie nicht an das Land tragen, aber sie flogen längs dem Ufer und sangen gleichsam, um sie zu trösten: »Hier sind wir, hier sind wir!« Das Boot trieb mit dem Strome; das kleine Gretchen saß ganz still in den bloßen Strümpfen; ihre kleinen, rothen Schuhe trieben hinterher, aber sie konnten das Boot nicht erreichen, das hatte stärkere Fahrt.
Hübsch war es an beiden Ufern, schöne Blumen, alte Bäume und Abhänge mit Schafen und Kühen, aber nicht Ein Mensch war zu erblicken.
»Vielleicht trägt mich der Fluß zu dem kleinen Karl hin!« dachte Gretchen und da wurde sie heiter, erhob sich und betrachtete viele Stunden die schönen, grünen Ufer; dann gelangte sie zu einem großen Kirschengarten, worin ein kleines Haus mit sonderbar rothen und blauen Fenstern war, übrigens hatte es ein Strohdach und draußen standen zwei hölzerne Soldaten, die vor den Vorbeisegelnden das Gewehr schulterten.
Gretchen rief nach ihnen; sie glaubte, daß sie lebend seien, aber sie antworteten natürlich nicht; sie kam ihnen ganz nahe, der Fluß trieb das Boot gerade auf das Land zu.
Gretchen rief noch lauter, und da kam eine alte, alte Frau aus dem Hause, die sich auf einen Krückenstock stützte; sie hatte einen großen Sonnenhut auf, und der war mit den schönsten Blumen bemalt.
»Du kleines, armes Kind!« sagte die alte Frau. »Wie bist Du doch auf den großen, reißenden Strom gekommen und weit in die Welt hinaus getrieben?« und dann ging die alte Frau an das Wasser, erfaßte mit ihrem Krückstock das Boot, zog es an das Land und hob das kleine Gretchen heraus.
Diese war froh, wieder auf das Trockene zu gelangen, obgleich sie sich vor der alten Frau ein wenig fürchtete.
»Komm' doch und erzähle mir, wer Du bist, und wie Du hierher kommst!« sagte sie.
Gretchen erzählte ihr Alles; und die Alte schüttelte mit dem Kopfe und sagte: »Hm! hm!« und als ihr Gleichen Alles gesagt und gefragt hatte, ob sie nicht den kleinen Karl gesehen habe, sagte die Frau, daß er nicht vorbeigekommen sei, aber er komme wohl noch, sie solle nur nicht betrübt sein, sondern die Kirschen kosten, ihre Blumen betrachten, die seien schöner als irgend ein Bilderbuch, eine jede könne eine Geschichte erzählen. Da nahm sie Gretchen bei der Hand, sie gingen in das kleine Haus hinein, und die alte Frau schloß die Thüre zu.
Die Fenster lagen sehr hoch und die Scheiben waren roth, blau und gelb, und das Tageslicht schien ganz sonderbar herein; aber auf dem Tische standen die schönsten Kirschen, und Gretchen aß davon so viel sie wollte, denn das war ihr erlaubt. Während sie speiste, kämmte die alte Frau ihr Haar mit einem goldenen Kamme, und das Haar ringelte sich und glänzte herrlich gelb rings um das kleine, freundliche Antlitz, welches rund war und wie eine Rose aussah.
»Nach einem so lieben kleinen Mädchen habe ich mich schon lange gesehnt!« sagte die Alte. »Nun wirst Nu sehen, wie gut wir mit einander leben werden!« Und so wie sie dem kleinen Gretchen das Haar kämmte, vergaß diese mehr und mehr ihren Kameraden Karl, denn die alte Frau konnte zaubern, aber eine böse Zauberin war sie nicht. Sie zauberte nur ein bischen zu ihrem eigenen Vergnügen, und wollte gern das kleine Gretchen behalten. Deßhalb ging sie hinaus in den Garten, streckte ihren Krückstock gegen alle Rosensträuche aus, und wie schön sie auch blühten, so sanken sie alle in die schwarze Erde hinunter, und man konnte nicht sehen, wo sie gestanden hatten. Die Alte fürchtete, daß Gretchen, wenn sie die Rosen erblickte, an ihre eignen denken, sich dann des kleinen Karl erinnern und davonlaufen würde.
Nun führte sie Gretchen in den Blumengarten. Was war da für ein Duft und eine Herrlichkeit! Alle nur denkbaren Blumen, für jede Jahreszeit, standen hier in der prächtigsten Blüthe; kein Bilderbuch konnte hübscher und bunter sein. Gretchen sprang vor Freude, und spielte, bis die Sonne hinter den hohen Kirschbäumen unterging, dann bekam sie ein schönes Bett mit rothen Seidenkissen, die mit Veilchen gestopft waren, und sie schlief und träumte da so herrlich, wie nur eine Königin an ihrem Hochzeitstage.
Am nächsten Tage konnte sie wieder mit den Blumen im warmen Sonnenschein spielen. So verflossen viele Tage. Gretchen kannte jede Blume, aber wie viele es auch waren, so war es ihr doch, als ob eine fehlte, aber welche, das wußte sie nicht. Da sitzt sie eines Tages und betrachtet den Sonnenhut der alten Frau mit den gemalten Blumen, und gerade die schönste darunter war eine Rose. Die Alte hatte vergessen, diese vom Hute wegzuwischen, als sie die anderen in die Erde verbannte. Aber so ist es, wenn man die Gedanken nicht immer gesammelt hat! »Was!« sagte Gretchen, »sind hier keine Rosen?« und sprang zwischen die Beete, suchte und suchte, aber da waren keine zu finden. Da setzte sie sich hin und weinte; aber ihre Thränen fielen gerade auf eine Stelle, wo ein Rosenstrauch versunken war, und als die warmen Thränen die Erde benetzten, schoß der Strauch auf einmal empor, so blühend, als er versunken war, und Gretchen umarmte ihn, küßte die Rosen und gedachte der herrlichen Rosen daheim und mit ihnen auch des kleinen Karl.
»O, wie bin ich aufgehalten worden!« sagte das kleine Mädchen. »Ich wollte ja den kleinen Karl suchen! – Wißt Ihr nicht, wo er ist?« fragte sie die Rosen. »Glaubt Ihr, er sei todt?«
»Todt ist er nicht«, sagten die Rosen. »Wir sind ja in der Erde gewesen, dort sind ja alle die Todten, aber Karl war nicht da!«
»Ich danke Euch!« sagte das kleine Gretchen, und sie ging zu den andern Blumen hin, sah in deren Kelch hinein uud fragte: »Wißt Ihr nicht, wo der kleine Karl ist?«
Aber jede Blume stand in der Sonne und träumte ihr eigenes Märchen oder Geschichtchen, davon hörte Gretchen viele, viele, aber keine wußte etwas von Karl.
Und was sagte denn die Feuerlilie?
»Hörst Du die Trommel? Bum! Bum! Es sind nur zwei Töne, immer bum! bum! Höre der Frauen Trauergesang! höre den Ruf der Priester! – In ihrem langen, rothen Mantel steht das Hinduweib auf dem Scheiderhaufen, die Flammen lodern um sie und ihren todten Mann empor. Aber das Hinduweib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Augen heißer als die Flammen brennen, an ihn, dessen Augenfeuer ihr Herz stärker berührt, als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Kann die Flamme des Herzens in der Flamme des Scheiterhaufens ersterben?
»Das verstehe ich durchaus nicht!« sagte das kleine Gretchen.
»Das ist mein Märchen!« sagte die Feuerlilie.
Was sagt die Winde?
»Ueber den schmalen Feldweg hinaus hängt eine alte Ritterburg; dichtes Immergrün wächst um die alten, rothen Mauern empor, Blatt an Blatt, um den Altan herum, und da steht ein schönes Mädchen; sie beugt sich über das Geländer hinaus und sieht den Weg hinunter. Keine Rose hängt frischer an den Zweigen als sie, keine Apfelblüthe, wenn der Wind sie dem Baume entführt, ist schwebender als sie; wie rauscht das prächtige Seidengewand! ›Kommt er noch nicht?‹«
»Ist es Karl, den Du meinst?« fragte das kleine Gretchen.
»Ich spreche nur von meinem Märchen, meinem Traume!« erwiderte die Winde.
Was sagt die kleine Schneeblume?
»Zwischen Bäumen hängt an Seilen das lange Bret, das ist eine Schaukel. Zwei niedliche, kleine Mädchen – die Kleider sind weiß wie der Schnee, lange, grüne Seidenbänder flattern von den Hüten – sitzen und schaukeln sich; der Bruder, welcher größer ist, als sie, steht in der Schaukel, er hat den Arm um das Seil geschlagen, um sich zu halten, denn in der einen Hand hält er eine kleine Schale, in der andern eine Thonpfeife, er bläst Seifenblasen. Die Schaukel geht und die Blasen fliegen mit schönen, wechselnden Farben; die letzte hängt noch am Pfeifenstiele, und biegt sich im Winde; die Schaukel geht. Der kleine, schwarze Hund, leicht wie die Blasen, erhebt sich auf den Hinterfüßen, und will mit in die Schaukel; sie fliegt; der Hund fällt, bellt und ist böse; er wird geneckt, die Blasen bersten. – Ein schaukelndes Bret, ein zerspringendes Schaumbild ist mein Gesang!«
»Es ist wohl möglich, daß es hübsch ist, was Du erzählst, aber Du sagst es so traurig und erwähnst des kleinen Karl gar nicht.«
Was sagen die Hyacinthen?
»Es waren drei schöne Schwestern, durchsichtig und fein. Das Kleid der Einen war roth, das der Andern blau, das der Dritten ganz weiß. Hand in Hand tanzten sie beim stillen See im klaren Mondscheine. Es waren keine Elfen, es waren Menschenkinder. Dort duftete es süß, und die Mädchen verschwanden im Walde; der Duft wurde stärker; drei Särge, darin lagen die schönen Mädchen, glitten von des Waldes Dickicht über den See dahin; die Johanniswürmchen flogen leuchtend rings umher als kleine, schwebende Lichter. Schlafen die tanzenden Mädchen oder sind sie todt? – Der Blumenduft sagt, sie sind Leichen; die Abendglocke läutet den Grabgesang.«
»Du machst mich ganz betrübt!« sagte das kleine Gretchen. »Du duftest so stark; ich muß an die todten Mädchen denken! Ach, ist denn der kleine Karl wirklich todt? Die Rosen sind unten in der Erde gewesen, und sie sagten: nein!«
»Kling, klang!« läuteten die Hyacinthenglocken. »Wir läuten nicht für den kleinen Karl, wir kennen ihn nicht! Wir singen nur unser Lied, das einzige, welches wir können!«
Und Gretchen ging zur Butterblume, die aus den glänzenden, grünen Blättern hervorschien.
»Du bist eine kleine, klare Sonne!« sagte Gretchen. »Sage mir, ob Du weißt, wo ich meinen Gespielen finden kann?«
Und die Butterblume glänzte so schön und sah wieder auf Gretchen. Welches Lied konnte die Butterblume wohl singen? Es handelte auch nicht von Karl.
»In einem kleinen Hofe schien die liebe Gottessonne am ersten Frühlingstage schön warm, ihre Strahlen glitten an des Nachbarhauses Weißen Wänden hinab, dicht dabei wuchs die erste gelbe Blume und glänzte golden in den warmen Sonnenstrahlen. Die alte Großmutter saß draußen in ihrem Stuhl, die Enkelin, ein armes, schönes Dienstmädchen, kehrte von einem kurzen Besuche heim; sie küßte die Großmutter. Es war Gold, Herzensgold in dem gesegneten Kusse. Gold im Munde, Gold im Grunde, Gold dort in der Morgenstunde! Sieh, das ist meine kleine Geschichte!« sagte die Butterblume.
»Meine arme, alte Großmutter!« seufzte Gretchen. »Ja, sie sehnt sich gewiß nach mir, ist betrübt über mich, ebenso, wie sie es über den kleinen Karl war. Aber ich komme bald wieder nach Hause, und dann bringe ich ihn mit. – Es nützt zu nichts, daß ich die Blumen frage, die wissen nur ihr eigenes Lied, sie geben mir keinen Bescheid!« Und dann band sie ihr kleines Kleid auf, damit sie rascher gehen könne; aber die Pfingstlilie schlug ihr über das Bein, indem sie darüber hinsprang. Da blieb sie stehen, betrachtete die lange, gelbe Blume und fragte: »Weißt Du vielleicht etwas?« und sie bog sich ganz zur Pfingstlilie herab; und was sagte die?
»Ich kann mich selbst erblicken, ich kann mich selbst sehen«, sagte die Pfingstlilie. »O, o, wie ich dufte! – Oben in dem kleinen Erkerzimmer steht, halb bekleidet, eine kleine Tänzerin, sie steht bald auf Einem Beine, bald auf beiden, sie tritt die ganze Welt mit Füßen, sie ist nichts als Augenverblendung. Sie gießt Wasser aus dem Theetopf auf ein Stück Zeug aus, welches sie hält, es ist der Schnürleib – Reinlichkeit ist eine schöne Sache! Das weiße Kleid hängt am Haken, das ist auch im Theetopf gewaschen und auf dem Dache getrocknet; sie zieht es an, nimmt das safrangelbe Tuch um den Hals, so scheint das Kleid weißer. Das Bein ausgestreckt! Sieh, wie sie auf einem Stiele prangt! Ich kann mich selbst erblicken! Ich kann mich selbst sehen!«
»Darum kümmere ich mich gar nicht!« sagte Gretchen. »Das brauchst Du mir nicht zu erzählen!« Und dann lief sie nach dem Ende des Gartens.
Die Thür war verschlossen, aber sie drückte auf die verrostete Klinke, so daß diese los ging; die Thür sprang auf, und da lief das kleine Gretchen mit bloßen Füßen in die weite Welt hinaus. Sie blickte dreimal zurück, aber da war Niemand, der sie verfolgte; zuletzt konnte sie nicht mehr gehen und setzte sich auf einen großen Stein, und als sie ringsum sah, war der Sommer vorbei, es war Spätherbst, das konnte man in dem schönen Garten gar nicht bemerken, wo immer Sonnenschein und Blumen aller Jahreszeiten waren.
»Gott, wie habe ich mich verspätet!« sagte das kleine Gretchen. »Es ist ja Herbst geworden, da darf ich nicht ruhen!« und sie erhob sich, um weiter zu gehen.
O, wie waren die kleinen Füße wund und müde! Rings umher sah es kalt und rauh aus; die langen Weidenblatter waren ganz gelb und der Thau tröpfelte als Wasser herab, ein Blatt fiel nach dem andern ab, nur der Schlehendorn trug noch Früchte, die waren herbe und zogen den Mund zusammen. O, wie war es grau und schwer in der weiten Welt!