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Dritter Band.

I.

Isenburg.
– Wie bist du worden bleich,
Seit ich dich sah zum letzten Mal.

Faust.
– Ich habe Gift getrunken,
Des Zweifels Gift in starken Zügen,
Und meine bösen Würfel liegen.

Lenau's Faust.

Kennst du das Vaterland der Hindus? Dort glüht die Sonne heiß, aber die Luft weht Kühlung von den Gletschern des Himalaya; die duftenden Wälder laden zur Ruhe ein; der Feigenbaum beugt seine Zweige zur Erde, schießt neue hervor und bildet eine Hütte. Die Cocospalme bietet dir Milch, die Dattel reicht dir ihre Frucht, bunte Vögel umflattern dich: purpurrote Papageien, goldgelbe Honigvögel. Hier ist das Reich der Farbe! Das siehst du an den Flügeln der Insecten, an den Blättern der Prachtblumen! Der schwellende Fluß, an dem der blaue Lotus wächst, ist heilig wie das Wasser der Taufe. Vaterland der Hindus! Was ist das Klarste, das Durchsichtigste, was du besitzest? Dein Himmel, oder deine stillen Binnenseen, an denen die Antilopen und Leoparden ihren Durst stillen?

Hier lag nach der Sage das Paradies, aus dem Adam und Eva vertrieben wurden. Hier blüht noch das Paradies; und doch ist es der verstoßenen, unglücklichen Paria Heimat. Die wilden Horden der Mongolen verjagten die Kinder des Landes. Der Paria theilt das Schicksal des Ahasveros. Aegypter, Tater, Zigeuner – die verschiedensten Namen erhielt das Wandervolk. Selbst nach Norden, nach Jütlands unfruchtbaren Haiden wandert das jüngste Geschlecht der Paria. Tater, Spitzbubenvolk nennen wir sie. Der Kornacker ist ihr Sommerzelt, der tiefe Graben ihre Winterstube. Die Kinder der Paria haben nicht wie der Fuchs ihre Höhle, nicht wie der Vogel ihr Nest. Sie wandern in Regen und Sturm auf der öden Haide. Dort gebären sie, wie das Thier, ihre Nachkommen. Die Geburtsstätte ist ihre Versorgungsstätte, deshalb sucht der Landmann immer die schwangere Frau auf das Gebiet des Nachbars hinüber zu schaffen, weshalb sie oft auf dem elenden, stoßenden Leiterwagen ohne Stroh von Ort zu Ort geführt wird, und auf diesem ihr dem Verderben geweihtes Kind gebiert. Mit der ersten wiederkehrenden Kraft muß sie sich erheben, ihr Kind auf den Rücken binden; sich auf den Stab stützend, wandert sie mit ihrem Manne über das holperige Haidefeld; der kalte Seewind bläst, der Himmel ist grau und regnerisch; aber sie weiß es nicht besser.

Kennst du das Vaterland der Hindus? Dort glüht die Sonne heiß, aber die Luft weht Kühlung von den Gletschern des Himalaya; die duftenden Wälder laden zur Ruhe ein; der Feigenbaum beugt seine Zweige zur Erde, schießt neue hervor und bildet eine Hütte. Die Cocospalme bietet dir Milch, die Dattel reicht dir ihre Frucht, bunte Vögel umflattern dich. Hier ist das Reich der Farbe! Vaterland der Hindus!

Auf Jütlands Haiden, wie auf den Mauern der Alhambra findet man das zerstreute Geschlecht der Parias; am größten jedoch ist ihre Schaar in Ungarns Wäldern und auf den großen Steppen. Der Thron des Zigeunerkönigs ist der moosbewachsene Stein dicht bei dem Kessel, in welchem das gestohlene Lamm kocht. Müde von der Wanderschaft, streckt der Haufe sich in das hohe Gras, wo die schwarzäugigen Kinder mit den Blumen spielen.

Nie wagt sich ein ganzer Trupp in die Kaiserstadt Wien, aber einzeln kann man sie durch die Gassen schleichen sehen, noch verdächtiger angesehen als der arme Slavonier. Am häufigsten sieht man sie in den Vorstädten, von denen jede für sich eine größere Stadt bildet als das alte Wien, die eigentliche Stadt.

In der Vorstadt Mariahilf, wo die Allee nach Schönbrunn hinausführt, gingen in den warmen Sommertagen von 1820, jenem Jahr, in welchem Naomi begann, was sie mit Recht ihre »Laufbahn« nannte, zwei Zigeuner in ihrer weißen Tracht mit dem großen, braunen Mantel. Der Eine war ein ganz junger Mann mit einem breiten Hute, wie ihn die Slavonier tragen; der breite Rand hing ihm auf Rücken und Schultern herab. Der Andere war bedeutend älter, hoch und mager; er war barhäuptig. Sein dichtes schwarzes Haar, das einige graue Stellen zeigte, war sein Schutz gegen die brennende Sonne. Sie gingen durch eine der vielen Seitenstraßen, welche von Mariahilf nach dem Sommerschloß Belvedere führen.

»Die Vorstädte könnten die Stadt tüchtig zusammenpressen, wenn sie wollten,« sagte der Jüngere, »Ich träumte heute Nacht eine hübsche Geschichte: Mariahilf, die Josephsstadt, ja alle vier und dreißig Vorstädte waren beweglich und rückten gegen die Stadt, die vom Stephansthurm angeführt wurde. Sie schlugen sich so heftig, daß weißes und gelbes Gold in die Donau rollte!«

»Da hattest du wol zu viel von dem starken Wasser getrunken!« sagte der Alte. »Sei vorsichtig, Czekles! erzähle keine solchen Träume, die Polizei hat lange Ohren. Ist das auch etwas für einen jungen Kerl zu solcher Zeit zu träumen? Nein, von Mädchen mußt du träumen.«

»Aber ich träume mehr vom Krieg!« sagte Czekles. »Wenn ich Soldat wäre! Vor dem Kaiser Franz präsentiren dürfte, dem guten Kaiser Franz! Er hat vor mir an den Hut gelangt, als ich mein Haupt entblößte. Vor mir ganz allein, denn es war Niemand auf dem Wege. Mich hat er gegrüßt. Aber was meinen Traum betrifft, der war lächerlich genug! Die Stephanskirche mit ihrer spitzen Mütze war General. Sie hat breite Schultern und alte Kräfte. Die Dreifaltigkeitssäule am Graben nahm sie als Commandostab. Die Kaiser Josephs-Statue jagte auf ihrem Kupferhengst durch den Kohlmarkt und die Kärnthenstraße; sie rief alle Bilder aus den Schildern Zu Wien ist an jedem Laden ein Schild, nach welchem jener den Namen hat, z. B.: der Cardinal, Madame Catalani, der König von Dänemark u. s. w. Diese haben meist Portraitähnlichkeit und einige sogar künstlerischen Werth; so eines vor einer Apotheke, das den jungen Tobias zeigt, der zurückkommt. und diese folgten ihr. Der Marmorriese aus dem Volksgarten Theseus von Canova. stellte sich an die Spitze der Marmorbilder in der Capucinerkirche und sie stiegen auf den Wall und auf das Dach der Burg und sahen nach den Vorstädten hinaus, wie diese näher rückten. Die Dörfer Hietzing und Währing waren mit; das war ein Gewühl, ärger als an einem lustigen Tage im Volksgarten oder im Prater.«

»Was doch ein Menschenhirn Alles zusammenbrauen kann,« sagte der Alte. »Hüte dich vor einem Rausche, Czekles! Die Dünste des starken Getränkes schlagen einen Zauberkreis um uns. Erst sieht er schön aus, schlürft man aber mehrere Schalen, so zieht er sich zusammen, spinnt uns ein, wie in einem Spinngewebe und zeigt uns außerhalb nur, was wir uns einbilden. Er schlingt sich so fest um uns, daß wir unserer Glieder nicht mehr mächtig sind, dann schlafen wir, und da löst sich der Dunst, aber die Glieder fühlen, wenn wir erwachen, daß sie in Banden gewesen, und daß der Verstand während des Gelages zu fest geschlafen, so daß er sich nicht recht besinnen und von dem Rechenschaft geben kann, was geschehen, während er auf seinem grünen Ohre lag.«

Während dieses Gespräches schritten sie rasch voran, erst als sie sich der langen Heugasse näherten, von der sie das Schloß sehen konnten, das an die Barriere der Vorstadt grenzt, verlangsamten sie ihren Gang.

»Du möchtest Soldat sein, Czekles?« sagte der Alte.

»Ja, hier in Wien, vor der Kaiserburg möchte ich am liebsten das Gewehr tragen!«

»Das würde ein gebundenes Leben sein, Czekles, Du würdest dich bald wieder fortsehnen. Die Unruhe sitzt uns in den Gliedern, wie das Diebsgelüste in dem Mäuschen unter unserm Daumen. Liefst du davon, so würdest du gehängt.«

»Nun meinetwegen!« antwortete der Jüngere. »Ob ich in einem Würmermagen oder in einem Vogelkropfe liege, das kommt auf eine Herrlichkeit heraus. Wer denkt indes auch gleich an das Schlimmste!«

»In einem Vogelkropf liegen!« wiederholte der Alte. »Das ist ein guter Gedanke! Wahrlich ein stolzer Sarg, immer auf der Wanderung, wie unser Volk hier im Leben. Selbst von der Jugend kann man lernen. Ich will an dein Wort denken, wenn ich in die ungarischen Wälder gehe und die Vögel singen höre. Vielleicht habe ich den Raben gehört, der in seinem Wagen die Augen Desjenigen hatte, den ich am meisten geliebt. Glaube mir, Czekles, hellere Augen als mein Sohn, mein Bela hatte, sah ich nie. Du hast ja den Jungen gekannt. Ladislaus ist seines Vaters sprechendes Bild, nur stolzer, mehr schwarzes Blut. Bela war besser, obgleich sie ihn gehängt haben; dem Sohne dagegen jauchzen sie Beifall zu, wenn er auf dem Pferde dahinjagt und sie in seinem Herzen verachtet!« Aber er hat seinen Stamm verlassen!« sagte der Jüngere.

»Dafür hat er keine bleibende Stätte!« sagte der Alte. »Er macht größere Reisen als wir; über dem großen Meer ist er gewesen, das so breit ist wie das ganze Ungarland! Denk' dir einen solchen Donaufluß! Alle die Kaiser und Könige, die wir hier beim Congresse versammelt sahen, er hat sie in ihren eignen Ländern gesehen! Er fliegt so weit, wie die Zugvögel, und Glück hat er in Allem, was er beginnt.«

Während diese« Gespräches waren sie bis vor das Schloß gekommen, wo es nach der offenen Ebene hinaussieht Soldaten saßen in Gruppen davor und plauderten, Fremde und Einheimische besuchten und verließen die prächtige Gemäldesammlung, die sich hier befindet. Die Zigeuner standen stumm in die Betrachtung des Baues versunken der sich durch nichts Besonderes auszeichnet; wer jedoch an den Blick des Alten gewöhnt war, würde gesehen haben, daß er an den Fenstern etwas suchte. Sie stellten sich an das offne Gartenthor, ohne hineinzugehen; die Leute gingen in den steif beschnittenen Gängen, in der zugestutzten Natur umher, die à la Louis XIV. arrangirt ist.

Die ganze erste Etage füllt eine vortreffliche Bildersammlung, prächtige Stücke, namentlich der holländischen Schule. Es waren viele Fremde diesen Nachmittag anwesend; eine Gruppe bewunderte Gherardino's meisterhafte Basreliefbilder, eine andere die reiche Sammlung von Rubens, die sich hier findet.

Auffallend durch die Flüchtigkeit, mit der er von Stück zu Stück ging und dann, wie es schien, die weite Aussicht über den Garten betrachtete, wo man die Kaiserstadt und Ungarns Berge sieht, war ein junger Mann mit einem Schnurrbart, ziemlich feinen Zügen und klugen Augen. Es ist einer der Kunstreiter im Prater, sagte Jeder, der ihn sah. Wir können sagen, es ist Naomi.

Ein ganz anderes Interesse als das für Bilderwerke hatte sie nach dem Belvedere gezogen. Deshalb sah sie alles so flüchtig an, ein einziges Gemälde schien Interesse für sie zu haben und zu diesem kehrte sie öfter zurück. Es war van Dyk's Simson, der von Delila verrathen wird, ein ganz vorzügliches Bild. Der schmerzliche Vorwurf in Simsons Blick ist so menschlich sprechend, daß er von Grönland bis Otaheiti verstanden würbe. Delila's Gleichgültigkeit, der Wirthin Interesse, – ja, das ist die Wirklichkeit selbst. Ob es des Malers Kunst allein war, welche hier Naomi fesselte, oder ob der Gegenstand Ideenverbindungen von tiefer Wirkung in ihr weckte, dürfen wir nicht verrathen. Jeden Augenblick ging sie ans Fenster, sah in die Ebene hinaus, kehrte aber alsbald wieder zu van Dyk's Simson zurück. Unruhige Gedanken hoben ihre Brust.

Als sie sich wieder dem Fenster näherte, wurde sie der Zigeuner gewahr; rasch verließ sie den Saal und eilte die Treppe hinab. Die Zigeuner sahen sie kommen, aber kein Zeichen wurde gegeben, nur gingen sie etwas langsamer. Naomi folgte ihnen.

Dicht vor einem niedern Hause, wo der Weg sich über das Feld hinschlängelte, blieb der Alte stehen, um, wie es schien, seine Schuhbänder zu knüpfen; der Jüngere ging weiter. Naomi näherte sich dem Greise. Sie sprachen zusammen von Ladislaus. Der Alte sagte nichts Gutes von ihm.

»Du lügst!« rief Naomi.

»Lügen!« wiederholte der Alte. »Er ist mein eigen Fleisch und Blut, aber es ist eine schlimme Wunde, die mir Schmerzen macht. Sein Vater war mein Sohn. Ladislaus verachtet seinen Großvater und sein ganzes Geschlecht. Er haßt nicht den, der das seinige haßt. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt und seine Peitsche hat meine Schulter mit Striemen gezeichnet. Ich erinnere mich dessen wol noch! Der Mensch kann das frische, klare Wasser vergessen, das er zum Labetrunk erhielt, aber niemals vergißt er das moderige, bittere. Ladislaus mag dich heute lieben; aber morgen bist du ihm zuwider und weil er dich geliebt, wird er dich peinigen! Ich weiß wohl, daß du kein Mann bist. Ich habe Zeichen genug, um das Vergangene sehen zu können; das Künftige will ich dir nicht sagen: es ist leicht zu ahnen. Habe ein Auge auf ihn, und hast du ein Herz, das deiner Kleidung entspricht, so strafe ihn, wenn du kannst. Deshalb habe ich dich hier heraus bestellt. Heute Abend kannst du ihn in Hietzing finden. Dort gibt's hübsche Frauen.«

»Aber ich bin keine Frau!« sagte Naomi. »Du hast dich getäuscht. Ladislaus ist böse, das kann sein. Aber laß ihn die Frauen lieben, das thue auch ich. Niemand genießt seine Jugend mehr als ich und ich habe Glück!«

»Dennoch steigt dir das Blut in die Wangen!« sagte der Alte. »Mein Auge sieht nicht falsch und mein Wort hat auch dein Herz getroffen!« Er nickte und ging.

Naomi war unentschlossen, ob sie ihm folgen oder bleiben sollte; bald faßte sie jedoch einen Entschluß und ging nach dem Schlosse und durch den altfränkischen, steifen Garten nach der Stadt.

Auf dem Petersplatz rollte ein Stellwagen nach Schönbrunn und Hietzing. Naomi nahm darin Platz. Sie lächelte wie die Uebrigen, denn Alle wollten sie sich ja amüsiren. Die ehrlichen Wiener sprachen begeistert von ihrem guten Kaiser, von »Würsteln« und »Händln«, von den Brüdern Schuster, Alles durch einander, wie das in dem Tohuwabohu der Konversation zu gehen pflegt. Naomi gegenüber saß ein junger Künstler mit einem naseweisen Blick. Er hörte an ihrer Aussprache, daß sie keine Eingeborne war; er hatte sie im Prater gesehen und erzählte, daß sie sicher ihren Herrn in Hietzing finden würde, da er oft hinkomme. »Ihren Herrn!« wiederholte sie vor sich hin und der Fremde nannte Ladislaus. Sie näherten sich dem Sommerschlosse Schönbrunn, in dessen duftenden Alleen, »der Sohn des Mannes« mit seinen geheimen Gedanken spazieren gegangen war, wo Silvio Pellico hinter die Hecken getreten, um nicht durch sein kränkliches, leidendes Aussehen zu erschrecken. Einige arme Kinder liefen neben dem Wagen her und warfen Bouquets hinein, um ein paar Kreuzer zu bekommen. Der Künstler fing ein Bouquet auf und warf es lächelnd in Naomi's Schooß; sie machte unwillkürlich eine weibliche Bewegung, um es aufzufangen; er lächelte und sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

Dicht bei Schönbrunn liegt das kleine Städtchen Hietzing mit seiner Kirche und seinen hübschen Vergnügungslocalitäten. Die Musik klang munter aus dem Casino herüber, das damals so besucht war, wie jetzt, aber nicht so berühmt durch Strauß' und Lanners Orchester. Der kleine, zwischen den Häusern und dem schmutzigen Bache eingeklemmte Garten war ebenso mit Tischen und Zelten angefüllt; und es herrschte dasselbe Gedränge wie jetzt.

Ladislaus saß mit zwei jungen Mädchen an einem Tische, Naomi nahm ganz in der Nähe Platz. Sie hatte Sauls düstere Gedanken, aber die jubelnde Musik wirkte auf sie nicht wie versöhnender Harfenklang. Die schwebenden Tanzmelodien athmeten des Volkstheaters bewegliche Phantasie, die ganze Freude von Schönbrunn und dem Prater; alles mußte mitsingen: »'S gibt nur a Kaiserstadt, 's gibt nur a Wien!« Aber für Naomi klang es wie Seufzer und Spott, es war der kalte Luftzug aus den feuchten Gefängnissen des Spielbergs, es war die drückende Hitze der Bleikammern Venedigs.

Ladislaus sah mit seinem stolzen, übermüthigen Blick nach ihr hin und sie nach ihm, aber sie schienen einander nicht zu kennen und doch folgten sie einander, wie der Schatten dem Körper.

Die Elasticität des menschlichen Gedankens kennt keine Grenze, sie ist unermeßlich wie der Weltraum, dessen Ausdehnung uns die Astronomie als unbegrenzt aufgezeigt. Die Größen des Geistes erweitern den Gesichtskreis unserer Gedanken, aber auch Leiden, große Lebensmomente haben diese Kraft. Und so schweben wir mit dem Gedanken in einen Himmel oder in eine Hölle. Naomi hatte den Blick eines Newton, aber sie schaute in eine diabolische Tiefe.

Als die freie Luft mit dem erleuchteten Saale vertauscht wurde, erblickte sie auch Ladislaus als Tänzer. Sie mußte mit einer Frau tanzen, ihr Anzug verlangte es und auf Ladislaus' Lippen lag bitterer Spott; aber er sprach nicht mit ihr, sie nicht mit ihm. Unter den jubelnden Tönen drehte sie sich wie Ixion auf dem Rade. Ihre Brust hob sich, ihr Auge funkelte. Ladislaus schien kalt, eine männliche Turandot mit dem stolzen, höhnischen Lächeln. O, welche Qualen kann nicht ein Menschenherz sich selbst schaffen! Immer schlägt es, immer blutet es – und doch ist es nöthig, um zu leben.

Ladislaus verschwand im Gedränge; vergebens suchte sie nach ihm. Es war schon spät. Der letzte Stellwagen war nach der Stadt gefahren, nur ein paar Bauern hielten noch mit ihren Linienwagen. Ein Herr mit zwei Damen stieg in den Wagen; ja, das war er; rasch stieg sie auch ein und nahm Platz. Sie fuhren ab.

Von Hietzing und dem Schlosse Schönbrunn schienen die Lichter durch die dunkeln Bäume; ein paar ehrliche Bürgerfamilien saßen froh und heiter im Wagen; sie sprachen von Elfen und Feen, mit welchen die guten Wiener vom Volkstheater her auf vertrautem Fuße stehen. Sie citirten Witze von Kasperl und Pumpernickel und »plauschten« von ihren drei Schustern, namentlich von Ignaz, dem herrlichen, lustigen Ignaz. Drei Brüder, berühmte Komiker des Leopoldstädter Theaters; der bedeutendste war Ignaz. Sie gaben Anlaß zu dem Gelegenheitsstück: »Die drei Schuster«, dessen Rollenbesetzung lautete: Herr Anton Schuster, ein Schustermeister – Herr Anton Schuster; Herr Joseph Schuster ein Schustermeister – Herr Joseph Schuster; Herr Ignaz Schuster, ein Schustermeister – Herr Ignaz Schuster.

Unsere Generation weiß nichts mehr von dem komischen Kleeblatt der Schuster, weiß nichts mehr von der Glanzzeit des Leopoldstädter Theaters, aber wir können sie uns noch denken. Sehen wir auch Bäuerle's Muse nicht mehr, so kennen wir die Raimunds und Nestroy's und können mit den guten Wienern im Linienwagen von der Feenwelt auf dem Volkstheater sprechen, der Feenwelt, in die sich die ehrlichen Bürgersleute an diesem Sommerabende naiv hineinträumen, während die Lichter von Hietzing und Schönbrunn herüberleuchten.

In einem von diesen Stücken sieht man den Geisterkönig in seinem Bette sitzen, er klingelt und fragt den Kammerdiener: »Was sind das für nasse Wolken, die Er mir zum Hineinliegen gegeben?« – »Es war nicht möglich, dies Jahr sie trockener zu bekommen; es ist deshalb auch Klage von der Polizei in Wien eingereicht. Die Jahreszeiten laufen durcheinander, es ist nicht mehr wie in alten Zeiten.« – »Rufe mir die Jahreszeiten herein!« Diese kommen. Der Winter ist ein alter Mann mit einem Stocke in der Hand. Der König ruft ihn vor sich: »Was muß ich hören!« sagt er. »Du fängst an in deinem Alter feucht zu werden. Das mußt du dir abgewöhnen. Jeder von euch muß besser auf seinen Posten Acht geben, sonst bekommt ihr den Abschied und das ohne Pension!« Die Jahreszeiten wurden verlegen. Ehrerbietig küßten sie dem König die Hand und versprachen sich zu bessern. In einem andern Stücke sieht man eine brave Wiener Familie, die zu viel in Ritterromanen gelesen hat und nun meint, die Ritterzeit sei viel besser gewesen als die unserige. Sie schlafen ein und als sie erwachen, sind sie in Ritterrüstungen gekleidet; sie sind in die ersehnte Ritterzeit versetzt. Ein Raubritter läßt sich melden, er freit um die Tochter und sie sind höchst glücklich über eine so romantische Partie. Aber bald lernen sie die Rohheit jener Zeit kennen; sie müssen alle unsere Bequemlichkeit entbehren, sie werden zuletzt in das Burggefängniß geschleppt, wo sie zum Hungertod verurtheilt sind. Da wünschen sie sich wieder in unsere glücklichen Tage zurück, wo man gebackene Händl bekommt, nach Hietzing fährt und ins Vorstadttheater gehen kann. Geheilt führt der Zauber sie wieder in unsere besseren, glücklicheren Zeiten.

O, wie wünschte nicht Naomi, daß jene Feenwelt, von der die ehrlichen Bürgersleute sprachen, in die Wirklichkeit eingreifen würde! Wie der Berggeist, der die verhaßte Brautschaar versteinerte, würde sie Ladislaus mit den beiden Frauen versteinert haben; aber er sollte nur unten kalter, todter Stein sein, wie Prinz Agib im Märchen, der Kopf sollte denken, das Herz sollte bluten, damit er recht seine ganze Qual fühle.

An der Barrière stiegen sie aus dem Wagen. Ladislaus that, als ob er nun erst Naomi gewahr würde, schlang seinen Arm um ihre Schulter, daß sie es fühlen konnte und sicher Spuren dieser Umarmung davon trug. »Christian!« sagte er lächelnd, »du gehst auch auf Abenteuer aus, das gefällt mir, mein Junge! Wie möchte ich dich herzen und küssen, daß du doch auch einmal dabei bist, wie wir Andern!« Und gewaltsam liebkoste er Naomi.

»Laß mich los!« rief sie, »ich gehe mit!« und mit einem Blick, der mehr als das Wort sprach, wandte sie sich von ihm ab und bot der einen von den Frauen den Arm, den diese annahm. Das Mädchen sprach der Sünde süße Sprache, aber Naomi's Wangen glühten darum nicht röther, ihr Herz schlug nicht höher als sonst.

In der innern Stadt Wien stehen mehrere Straßen durch Thüren und Flure einzelner Häuser mit einander in Verbindung. Jeder, der dessen unkundig ist, kann eine Treppe hinaufsteigen und glauben im Hofe zu sein, steht aber draußen in einer Seitengasse.

Ladislaus huschte mit einem von den Mädchen in ein Haus. Naomi folgte ihnen.

»Wo sind sie hingekommen?« fragte sie ihre Begleiterin.

Diese lachte und führte Naomi die gewundene Steintreppe hinauf, aber hier war kein Ladislaus zu sehen. Das Mädchen faßte die Hasenpfote, welche an der Thüre hing.

»Wo sind die Andern?« fragte Naomi.

»Sie sind da und wir sind hier!« antwortete das Mädchen. Die Thür wurde geöffnet, eine ältliche, gutgekleidete Frau mit einem silbernen Armleuchter in der Hand hieß sie willkommen.

»Teufel!« rief Naomi und sprang halb taumelnd die Treppe hinab; sie sah an dem Lichtschein, daß man ihr folgte. Rasch war sie auf der Straße. Sie sah Niemanden, weit und breit Niemanden. »Ladislaus!« stammelte sie und biß sich auf die Lippe, daß sie blutete.

Eine halbe Stunde später befand sie sich in ihrer Wohnung im Prater. Er war noch nicht zu Hause. Angekleidet warf sie sich auf das Bett, aber es kamen ihr keine Thränen in die Augen, kein Seufzer drang über ihre Lippen. Nun hörte man Tritte, Ladislaus kam.

Stumm sahen sie einander an.

»Du hast dich wol gut unterhalten?« sagte er mit einem boshaften Lächeln.

Sie schwieg und sah ihn mit ihrem stolzen, gramvollen Blick an; höhnisch schaute er zu ihr herab.

Ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie reden, aber sie schwieg.

»Hast du noch nicht gesehen,« sagte er, »daß, wenn ich durch den Stall gehe und meine Stute los ist, sie wiehert und mir folgt? Das geschieht aus reiner Liebe und deshalb streichle ich ihr die Mähne. Du folgst mir auch, aber aus dem entgegengesetzten Triebe. Dich könnte ich auch Lust haben auf die Art zu streicheln, wie du es verdienst.« Und er griff nach der Peitsche, die auf dem Tische lag und knallte mit ihr in der Luft, aber so gegen Naomi zugekehrt, daß das Ende der Schnur ihren Hals berührte.

Es war ein Tarantelstich; eiskalt starrte sie ihn an. »Ladislaus!« war ihr einziges Wort, und damit verließ sie das Zimmer.

Josephine schlief.

Draußen war alles dunkel und still. Nur das Rasseln eines Wagens, der schwer auf dem Weg am Prater vorüber fuhr, klang an ihr Ohr. Es war eine sternhelle Nacht. Der große Bär zeigte nach Norden. Dachte sie an ihre Heimat dort, oder waren ihre Gedanken noch in dem Bretterhause bei dem Sohn des Paria, dem stolzen Ladislaus? Keine Thräne trat in ihre Augen, kein Seufzer kam über ihre Lippen, mit dem Blicke nach dem Sternbilde ging sie sinnend einige Schritte. So schaute Ariadne über das Meer, als sie wußte, daß Theseus sie getäuscht hatte. Dieses Lächeln hatte Medea, als sie Jason bei Kreusa begrüßte.

Zur selben Stunde, in derselben Nacht, nur auf einem einsamen Landweg Seelands, weilten zwei andere Augen auf dem gleichen Sternbilde, aber mit der Hoffnung und dem Troste Leanders, als er in die Wogen des Hellespontes sprang und nach dem Leuchtthurm schwamm, den Hero angezündet hatte.

Auf jenem Landweg Seelands fuhr Christian an diesem Abend allein nach Kopenhagen. Er war zur Erkenntniß gelangt, daß er bei Herrn Knepus nichts Gescheidtes lernen könne und daß er in die Welt hinaus müsse, um es zu etwas zu bringen. Peter Wik war ungehalten darüber gewesen und hatte gesagt, er solle nur seinen eignen Strich segeln. Lucie hatte geweint; aber Christians Entschluß war reif. Er hatte Empfehlungsbriefe mit bekommen und einen sogar an einen königlichen Lakai. Er träumte deshalb von weit Höherem als Versprechen und Händedruck. Es war eine prächtige, stille Sommernacht, der Postillon blies und das Echo antwortete von Antvorskovs Höhen. Ein Stern funkelte so schön, es war der Schwan, Cygnus, wie man ihn im Süden nennt. »Das ist mein Glücksstern!« dachte er und fragte seinen Nachbar um den Namen des Sterns. Er wird die Abendhenne genannt.

Christian dachte an Naomi. Sie dagegen ließ ihre Gedanken wie eine Biene hinausfliegen, ließ sie an dem Baume der Bitterkeit saugen, der in den letzten Monaten in ihrem Herzen emporgesproßt, und von jeder Blume sammelte sie Gift.

Sie lauschte und es war ihr, als ob sie den Wellenschlag der Donau hörte. Eine Sternschnuppe flog vorüber, wie einst der Dampfballon durch die Luft fliegen wird.

Sie wandte sich wieder nach dem Zimmer um, wo Ladislaus schlief; aber sie ging weiter und auf der untersten Stufe der Treppe setzte sie sich, legte den Arm auf das Geländer und lehnte den Kopf daran. Sie schlummerte wie der Araber schlummert, der weiß, daß sein Todfeind unter demselben Zelte schläft wie er; sie haben zusammen gegessen und getrunken. Gastfreundschaft ist das heilige Schild, das zwischen beiden steht, sie reichen einander die Hand und schlafen, aber ihr letzter Gedanke ist: Wir treffen uns anderswo! Der Sohn des Paria und die Tochter Israels haben asiatisches Blut, die heiße Sonne glüht darin.


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