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Mister Wilson hatte also sein Zimmer im Sanatorium des Professor Gelbhaar bezogen, mußte zunächst drei Tage fest zu Bett liegen, sich allen möglichen kalten und heißen Packungen unterziehen, die er mit bewunderungswürdigem Gleichmut über sich ergehen ließ, und wurde täglich mehrere Male vom Professor selbst untersucht.
»Ich verstehe das nicht, Fräulein Dr. Schröder! Wenn ich das Röntgenbild nicht gesehen hätte, ich würde diesen Mann, der weder in der Nacht besondere Temperatur hat, noch Auswurf, dessen leichtes Hüsteln mir von einem ganz leichten Katarrh herzurühren scheint, unbedingt für ganz gesund halten. Wir werden ihn genau beobachten, möglichst nicht einen Augenblick ohne Aufsicht lassen. Wenn der Mann wirklich so krank ist, wie die Durchleuchtung zu besagen scheint, dann wirft er alle unsere früheren Anschauungen über den Haufen.«
Fräulein Dr. Schröder nickte nur stumm und vermied es, den Professor anzusehen.
Mister Wilson schien sich im Bett zu langweilen und beschäftigte sich damit, die Satzungen der Anstalt, die verschiedenen Heilmethoden und ganz besonders die Kurliste mit den Namen der Patienten sehr sorgfältig und aufmerksam zu studieren.
Bisweilen kam dem Direktor ein sonderbarer Gedanke. War dieser Amerikaner vielleicht doch ein Mensch, der aus irgendeinem Grunde nur für einige Zeit aus der Öffentlichkeit verschwinden wollte.
Je länger Wilson im Zimmer festgehalten wurde, um so nervöser wurde er. Als eine Woche vergangen war, mußte er abermals in das Röntgenkabinett, aber an diesem Tage war Fräulein Doktor Schröder beurlaubt, und ein Assistenzarzt machte die Aufnahme.
»Unglaublich! Ganz unverständlich! Jetzt ist wieder überhaupt nichts auf der Platte zu sehen.«
Mister Wilson nickte.
»Ich muß auch zugestehen, daß ich mich erheblich wohler fühle und die Beschwerden nachgelassen haben.«
»Lieber Herr, entweder, Sie sind krank oder gesund. Ein solches Bild kann sich nicht in einer Woche derart verändern, wir sind keine Zauberkünstler. Ich werde jetzt etwas anderes tun. Wie Sie wissen, haben wir hier leichte und schwere Patienten. Die ersteren sind gesellig beisammen, haben sogar, natürlich unter Aufsicht, öfters kleine Tanzkränzchen. Ich muß Ihre Lungen prüfen. Sie werden nicht mehr liegen, im Gegenteil, sich frei bewegen, viel im Park herumlaufen, tanzen, überhaupt tun, was Sie wollen, und dann werden wir heute in acht Tagen noch einmal eine Aufnahme machen. Wenn sich dann die Lunge ebenso zeigt wie heute, dann war eben neulich in der Platte ein Fehler und Sie sind ganz gesund.«
»Herr Professor, das wäre ja herrlich! Bitte, prüfen Sie ganz genau, behalten Sie mich hier, solange Sie wollen, aber geben Sie mir endlich Gewißheit!«
»Die sollen Sie haben.«
An diesem Tage übersiedelte Mister Wilson in das Haus der Leichtkranken und nahm zum ersten Male an der hier gemeinsamen Abendtafel teil.
Er war eigentlich ein ganz stattlicher Mann, und aller Augen wandten sich um, als er eintrat und den festlichen Saal überblickte.
Auch er beobachtete scharf. Der Direktor, der an diesem Tage auch hier speiste, hatte wiederum ihn im Auge. Daß er doch den Verdacht nicht loswerden konnte, daß mit diesem Patienten irgend etwas nicht stimmte! Dann aber war Wilson wie umgewandelt, plauderte mit seiner Nachbarin und schien durchaus zufrieden.
Es waren die verschiedensten Typen in diesem Saal. Meist junge Herren und Damen reicher Familien, die sich infolge allzuoft durchtanzter Nächte ein geringfügiges Lungenübel geholt hatten, die sich aber bereits auf dem Wege der Genesung befanden.
Den Mittelpunkt der ganzen Tischgesellschaft bildete eine außerordentlich schöne, junge Frau. Aus dem grünen Seidenkleide hob sich auf schneeweißem Halse ein unendlich pikantes Köpfchen mit großen, immer wie von einem leisen Schleier überzogenen Augen, die etwas Lockendes, Aufreizendes hatten.
Leise fragte Wilson seine Nachbarin.
»Wer ist die interessante Dame?«
Die junge Frau, Gattin eines Studienrates, zuckte die Achseln.
»Die Frau eines Berliner Großkaufmannes. Ich begreife nicht, daß alle Männer, wie die Bienen auf Honig, nach ihr versessen sind. Mein Typ ist sie nicht.«
Mister Wilson ließ sie im ungewissen, ob die schöne Frau sein Typ war und gab dem Gespräch eine andere Richtung. Er verstand es aber, als man nachher im Park promenierte, es so einzurichten, daß er Gelegenheit hatte, sich ihr vorzustellen.
»Mister Wilson aus Chikago.«
»Amerika? Indeed? Very nice! I am glad, to see you!«
Sie redete ihn englisch an und versicherte, sie sei erfreut, einen Amerikaner zu sehen.
»Sind Sie auch Amerikanerin?«
»Nein und ja! Ich liebe dieses herrliches Land und wünschte, ich könnte wieder hinüber.«
»Ich hörte, gnädige Frau sind in Berlin verheiratet.«
»Leider!«
Sie sagte das mit einem so komischen Augenaufschlag, daß es nicht einmal häßlich wirkte.
»Aber, um Himmels willen, eine so schöne Frau wie Sie kann doch nicht unglücklich sein?«
»Offen gesagt, ich warte nur ab, bis ich gesund bin; ich werde mich scheiden lassen.«
Wilson hatte bereits inzwischen erfahren, daß die junge Frau ganz offen über diese Absicht sprach.
»Dann wollen Sie nach Amerika?«
»Gern, gern, aber – ich habe drüben gar keine Verbindungen mehr, werde auch nach meine Scheidung nicht mehr reich sein –.«
»Nun, da ließe sich ein Ausweg finden. Mein Vater Dick Wilson hat in Chikago –«
Sie hatte etwas Lauerndes in ihrem Blick.
»Dick Wilson, Erntemaschinen en gros?«
»Allerdings, und – ich bin hier mehr zur Untersuchung und beabsichtige, sehr bald heimzureisen.«
»Dann könnten wir vielleicht zusammen – –?«
»Wird allerdings nicht gehen, denn ich beabsichtige im Flugzeug –.«
»Großartig – Mister Wilson, wir reden darüber. Ehrlich gesagt, ich bin ärgerlich, habe heute einen Brief von meinem Rechtsanwalt erhalten. Mein Mann will mich nicht freigeben.«
»Kann ich ihm nicht verdenken.«
»Und dabei –.«
Sie errötete und hatte ein ganz entzückendes Kindergesicht.
»Er hätte doch Grund –.«
Wilson tat, als überhöre er dies seltsam freimütige Geständnis.
»Wir reden noch darüber. Aber, damit Sie nicht denken, ich sei etwa auf Hilfe angewiesen. Oh, nein, er ist sehr nobel! Ich habe immerhin ein paar Tausend bei mir, nur – eine Dame allein –.«
Es kamen andere Patienten hinzu, Wilson zog sich zurück und dachte entschieden sehr angestrengt nach, denn er beteiligte sich nicht am Tanz, sondern ging in ganz einsamen Gängen des Parkes für sich allein spazieren.
Wieder war dem Professor etwas aufgefallen.
Er konnte nun einmal den Verdacht nicht loswerden, daß hinter diesem Amerikaner ein Geheimnis steckte. Es war doch sonderbar, daß er an jedem Morgen, wenn die Post kam, die hier nur einmal am Tage bestellt wurde, er dem Briefträger in entschieden nervöser Art entgegenging und sich seine Briefe bereits außerhalb des Hauses geben ließ. Dabei machte er immer mehr den Eindruck eines vollkommen gesunden Menschen.
Zwei Tage später traf Wilson, während im Saal getanzt wurde, wieder im Park mit der schönen Frau zusammen.
»Sie haben doch hoffentlich keinen Ärger gehabt?« fragte er.
Es machte ihm sichtlich Vergnügen, mit ihr in englischer Sprache reden zu können.
»Ich habe Ärger gehabt. Ich soll in acht Tagen entlassen werden. Mein Mann wird kommen, um mich abzuholen. Er will keine Scheidung, ach, wie unglücklich ich bin!«
Sie sah noch entzückender aus, als jetzt die Tränen über ihre Wangen liefen. Plötzlich faßte sie seine Hand.
»Helfen Sie mir, Mister Wilson!«
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte fliehen, möchte fort, bevor mein Mann kommt. Ich hatte an Freunde in Amerika geschrieben, aber ich müßte längst Antwort haben. Sie wollen nicht schreiben, oder – sie sind gar nicht mehr; da. Ich kann nicht mehr zurück zu diesem Manne, ich – ich bin ja so unglücklich!«
»Wenn ich Ihnen helfen könnte! Freilich, ich beabsichtige, bald das Sanatorium zu verlassen, ich will allerdings von Dresden zunächst das Flugzeug nach Genua benutzen – allerdings nicht das Postflugzeug, sondern ein gemietetes, das ich selbst steuere.«
»Wann wollen Sie fahren?«
Wilson lächelte fein.
»Mir geht es genau wie Ihnen, auch ich warte auf Post. Auf Geld, das jetzt mit der ›Bremen‹ ankommt, die in acht Tagen –.«
»Solange kann ich nicht warten, dann ist ja mein Gatte schon hier, aber – wird Ihnen das Geld nicht nach Genua nachgesandt?«
»Ich muß das Flugzeug bis Genua mieten.«
»Ich sagte Ihnen, ich besitze fünftausend Mark, genügt das?«
»Mehr als reichlich.«
»Verfügen Sie darüber, nur helfen Sie mir fort, ehe mein Mann mich zurückholt.«
»Haben Sie solches Vertrauen zu mir?«
»Aber ich bitte Sie, Dick Wilson!«
»Ich will Ihnen wenigstens einen Brief meines Vaters zeigen, sonst wissen Sie ja nicht einmal, ob ich der Sohn bin.«
Sie sah kaum auf das Papier, das er ihr reichte, einen einfachen Briefbogen ohne Firma mit der Unterschrift »Dick Wilson«.
»Ich habe nicht eine Minute daran gezweifelt.«
»Gut, ich werde noch heute das Flugzeug in Dresden bestellen.«
»Darf ich Ihnen gleich das Geld – –?«
»Das bezahlen Sie selbst in Dresden an den Vermieter des Flugzeuges, es ist ein mir befreundeter Sportsmann.«
»Sehr gut, ich bin ja so glücklich!«
»Ich denke, wir könnten in vier Tagen reisen. Ich werde mich bei dem Direktor gesund schreiben lassen. Ich glaube, er ist sowieso überzeugt, daß ich es bin. Aber wir wollen recht vorsichtig sein. Ich habe das Gefühl, als ob man uns bereits beobachtete, und es wäre immerhin möglich, daß irgend jemand Ihren Gatten benachrichtigte und er früher käme.«
»Können wir denn nicht schon morgen – –?«
»Leider nein, das Flugzeug muß ja erst bereit gemacht werden. Von Genua reisen wir dann erst nach Lissabon, und von dort fliegen wir auf dem bekannten Wege über die Azoren.«
»Vortrefflich!«
»Ich verlasse Sie jetzt. Gehen Sie in den Tanzsaal, bleiben Sie unter der Gesellschaft! Wenigstens noch eine Stunde; ich werde mein Zimmer aufsuchen und den Brief noch besorgen. Übermorgen abend, wieder während des Tanzes, treffen wir uns hier, und ich sage Ihnen Bescheid. Leben Sie wohl!«
Wenn jemand das Gespräch und den Abschied belauscht hätte, würde er allerdings dem Professor recht gegeben haben, wenn dieser annahm, daß es mit diesem Mister Wilson einen Haken hatte, denn dieser war durchaus kein feuriger Liebhaber, sondern machte den Eindruck eines Mannes, über dessen Gesicht ein Leuchten ging, als er erfuhr, daß die leichtsinnige Frau Geld hatte, – eines Mannes, dem selbst daran zu liegen schien, möglichst schnell und unauffällig über die Grenze zu verschwinden. Er dachte auch gar nicht daran, etwa diese reizenden Lippen, die sich ihm gewiß nicht geweigert hatten, zu küssen.
Während die schöne Frau sehr zufrieden dem Tanzsaale zuschritt und sich bald nach den Klängen eines Rumba mit einem Herrn wiegte, eilte »Mister Wilson« in sein Zimmer, bestellte das Flugzeug, das ihn am dritten Abend in der Nähe von Hörbersdorf auf einer Wiese erwarten sollte und brachte den Brief selbst noch zum Kasten.
Auch er war in der Tat sehr zufrieden und vertiefte sich in die Abendzeitungen, die ihm abermals Anlaß gaben, guter Laune zu sein: Es stand kein Wort über den seltsamen Dokumentendiebstahl bei den Ziehmerwerken darin zu lesen.
Es war eigentlich wieder merkwürdig, daß der Amerikaner Wilson nach einer Sache suchte, von der er doch gar nichts wissen konnte und die ihn doch wohl auch nichts anging.
Am nächsten Morgen war wieder die Stunde, in der er geröntgt werden sollte, und er traf diesmal Fräulein Dr. Schröder.
»Gute Nachricht, Fräulein Doktor! Ich habe heute einen Brief aus Chikago. Mein sogenannter Schwiegervater verzichtet auf einen kranken Schwiegersohn.«
Die junge Dame sah ihn fragend an, und er beugte sich zu ihr. »Ich bin in jeder Weise vollkommen von meinem Aufenthalt hier im Sanatorium befriedigt und hoffe, daß meine Gesundheit wieder Fortschritte gemacht hat.«
Der jungen Ärztin, die aus Mitleid und vielleicht auch aus einer unbewußten Sympathie zu dem hübschen Herrn den kleinen Betrug der vertauschten Röntgenplatten begangen hatte, die nun aber sehr ärgerlich über ihren Leichtsinn war, zumal sich Mister Wilson gar nicht mehr um sie gekümmert hatte, atmete auf.
»Bitte, der Röntgenapparat ist frei.«
Eine Stunde später stand Wilson nach der neuerlichen Untersuchung vor dem Direktor.
»Ich sagte Ihnen ja, auf der Platte damals muß ein Fehler gewesen sein, Sie sind ganz gesund.«.
»Ich fühle mich jetzt selbst so. Ich darf also das Sanatorium beruhigt verlassen?«
»Vollkommen!«
»Dann möchte ich übermorgen reisen. Ich will noch eine kleine Nachkur im ›Weißen Hirsch‹ bei Dresden machen und werde heute noch ein Zimmer bestellen.«
»Sehr gut, verehrter Freund, es freut mich, daß ich Sie von Ihrer fixen Idee befreit habe.«
Der Abend vor der geplanten Flucht war gekommen. Die schöne Frau hatte ihren Verbündeten mit Ungeduld erwartet und saß schon lange auf der verabredeten Bank, während drin wieder die Tanzmusik spielte, als Wilson herankam.
»Ich bin so ungeduldig, mein Mann wird in zwei Tagen hier sein.«
»Alles ist in Ordnung, das Flugzeug wartet morgen früh um sechs Uhr ganz hier in der Nähe.«
»Ich werde Mittel und Wege finden, das Sanatorium allein zu verlassen.«
»Wir müssen das ganz genau besprechen, aber – dort drüben ist ein versteckter Kiosk, wir wollen dorthin, damit wir ungestört reden können.«
Wilson bot der schönen Frau den Arm, und auf Umwegen betraten sie den Kiosk. Es wurde allerdings eine sehr lange Unterredung.
Zwei Herren kamen in den Park, der Amerikaner hatte gerade noch Zeit, sich hinter einem Baume zu verstecken und wurde Belauscher ihres Gespräches.
»Es ist schauderhaft! In irgendeinem Sanatorium soll sich ein Gauner verstecken. Wahrscheinlich kommt morgen Geheimpolizei.«
Wilson hatte ein leises, spöttisches Lächeln um seinen Mund.
Kaum hatte er das Haus erreicht, als das Telephon schrillte; gleich darauf stürzten der diensthabende Arzt und zwei Träger mit einer Bahre in den Park.
»Was ist denn geschehen?«
»Unsere Schönheitskönigin hat im Park einen Blutsturz bekommen.«
Wilson zuckte zusammen, nahm eine Zeitung und zwang sich zur Ruhe. Bald daraus wurde die Frau, die vor kurzem noch mit ihm im Kiosk war, ohnmächtig vorübergetragen.
Wilson stand bald darauf in seinem Zimmer, ging nicht zu Bett, hatte seine kleine Handtasche gepackt.
Noch während im Hause die Gäste sich neugierig um die Ärzte drängten und den unerwarteten Unfall, vor dem jeder von ihnen zitterte, besprachen, schlich Mister Wilson die Hintertreppe hinab, huschte durch den Park, kletterte über den Zaun, eilte zur Bahn und fuhr mit dem Nachtzuge nach Dresden.