Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Professor Gelbhaar, dirigierender Arzt des Sanatoriums Hörbersdorf, hatte den etwa fünfunddreißigjährigen, sehr nervösen Herrn, der vor ihm saß, gründlich untersucht.
»Ich kann Ihnen zu meiner Freude sagen, daß durchaus nichts Bedenkliches vorliegt. Wie ich aus dem Röntgenbild sehe, sind Ihre Lungen völlig intakt. Auch die Schmerzen im Kniegelenk, die Ihnen Sorge bereiten, sind anscheinend rein nervös. Es sind durchaus keine Tuberkeln in Ihrem Blute gefunden worden.«
Seltsamerweise machte der Patient keinen frohen Eindruck.
»So wird eben meine Krankheit auch hier nicht erkannt.«
»Sie scheinen mir Hypochonder zu sein, Mister Wilson.«
Dieser schüttelte den Kopf.
»Durchaus nicht! Ich weiß, daß ich in der Nacht fiebere, ich werde den leisen, anstoßenden Husten nicht los, diese Schmerzen im Knie – mein Großvater ist an Tuberkulose gestorben. Nein, ich bin kein Feigling, aber – ich stehe im Begriff, zu heiraten, eine Familie zu gründen, kann aber die Verantwortung nicht auf mich nehmen, etwa Nachkommen zu bekommen, die unsere Familienkrankheit erben.«
Fräulein Dr. Ethel Schröder, eine junge Deutschamerikanerin, die als Assistentin der Untersuchung beigewohnt hatte, mischte sich ein. Es war klar, daß der junge Mann ihr leid tat.
»Wenn es der Herr wünscht, können wir ja noch eine zweite Röntgenaufnahme machen.«
»Ich bitte wirklich darum. Sehen Sie, Herr Professor, wenn ich in Ihrer Anstalt geheilt werde, – und ich bin krank, ich fühle es, – werde ich Ihnen ewig dankbar sein.«
»Gut, Fräulein Doktor wird noch eine zweite Aufnahme machen, und wir werden morgen weiter sehen. Wollen Sie, bitte, gleich im Vorzimmer warten.«
Mister Wilson ging langsam hinaus und saß hustend im Sessel. Der Chefarzt schüttelte den Kopf.
»Ganz einfach ein Hypochonder.«
»Darf ich mir ein paar Worte erlauben? Der Mann leidet nun einmal an der fixen Idee, ein Todeskandidat zu sein. Schicken wir ihn einfach weg, wird er von einem Arzte zum anderen laufen. Wenn wir scheinbar darauf eingingen und ihn gewissermaßen suggestiv behandelten? Ihm sagten, daß er allerdings krank sei, aber geheilt werde, ihn langsam von seiner Besserung überzeugten und so von seiner Idee befreiten.«
»Ich gebe mich zu keinem Betrug her, auch wenn er in guter Absicht geschähe. Ich nehme niemand auf, der nicht wirklich krank ist. Dann soll er in eine Nervenheilanstalt, aber nicht zu uns. Machen Sie meinetwegen noch ein Röntgenbild.«
Mister Wilson saß mit der jungen Ärztin nun im Vorzimmer des augenblicklich besetzten Röntgenkabinetts. Unwillkürlich senkten sich die Augen des Mädchens vor diesem ernsten, traurigen Blick des Mannes, der plötzlich aufschaute, als habe er einen Entschluß gefaßt.
»Wir sehen uns heute nicht zum ersten Male. Erinnern Sie sich nicht an mich? Joe Wilson, ältester Sohn von Dick Wilson. Erntemaschinen en gros, Chikago? Denken Sie nicht mehr an den großen Ball vor sechs Jahren im Auditorium?«
»Ich weiß in der Tat nicht, damals war ich allerdings in Chikago.«
Er lächelte etwas bitter.
»Selbstverständlich! Ein Mann hat ein besseres Gedächtnis für eine junge Dame als umgekehrt. Aber das nur nebenbei. Es handelt sich hier ganz einfach darum, ob mir das Leben gerettet wird oder nicht.«
»Aber, der Herr Professor –«
»Ich will Ihnen gegenüber ganz offen sein. Ich muß krank sein, sehr krank, verstehen Sie?«
»Wirklich nicht.«
»Ganz einfach. Ich habe in einer sehr törichten Stunde einer jungen Dame in Chikago, noch dazu der Tochter eines der einflußreichsten Geschäftsfreunde unserer Firma, ein Eheversprechen gegeben. Dies muß ich einlösen, es wäre unser Ruin, wenn ich es mit dem Vater verdürbe, aber – ich mag dieses Mädchen nicht, ich hasse sie. Ich würde mich eher töten, als sie heiraten. Es gibt nur ein Mittel: Eine Bescheinigung durch eine erste Autorität, daß ich die schwere Krankheit meines Vaters geerbt habe. Daraufhin würde der Vater des Mädchens selbst die Heirat nicht dulden.«
Er stand auf.
»Fräulein Doktor – retten Sie einen Mann, der sich mit Selbstmordgedanken trägt, der Ihnen aber ewig dankbar wäre!«
Die Ärztin schwankte zwischen einem Gefühl des Grauens und des Mitleids mit diesem seltsamen Menschen.
»Das Röntgenzimmer ist frei.«
Eine junge Hilfsschwester hatte es gemeldet, und beide gingen in das Laboratorium.
Eine Stunde später stand die Ärztin wieder vor dem Professor.
»Die Platten werden heute nachmittag entwickelt.«
»Wissen Sie, Fräulein Doktor, ich hatte ganz andere Gedanken. Es kam mir vor, als hätte dieser merkwürdige Mensch den Wunsch, etwa auf einige Zeit zu verschwinden, aber ich habe mich inzwischen erkundigt. Tadelloser Ehrenmann, sehr reich, einziger Sohn eines Großindustriellen. Einfach fixe Idee.
Am nächsten Tage wurde die Untersuchung wiederholt.
»Sehr seltsam. In dem neuen Röntgenbild hat sich allerdings etwas gezeigt. Durchaus nicht ängstlich, immerhin, es sind Tuberkeln in der Lunge, obgleich der andere Befund gar nicht darauf hindeutet. Sie werden gut tun, sich einer Behandlung zu unterziehen.«
»Und Sie werden mich heilen?«
»Ich hoffe es.«
Herr Wilson wurde unter die Kranken eingereiht und sandte den ärztlichen Befund, der ihm schriftlich ausgehändigt wurde, im Eilbrief nach Chikago. Nicht ohne vorher der jungen Ärztin sehr warm die Hand gedrückt zu haben. – – –
Direktor Ziehmer saß dem Kommissar Jobst gegenüber.
»Es handelt sich um mehrere außerordentlich wichtige Konstruktionszeichnungen von Dingen, die wir erfunden haben, die aber noch nicht patentiert sind. Fallen sie in die Hände der Konkurrenz, dann haben wir einen Millionenschaden.«
»Wie war doch die Sache?‹
»Die Zeichnungen wurden von uns im eingeschriebenen Briefe an das staatliche Patentamt gesandt. Der Brief kam auch an, aber er enthielt ganz einfach leeres Papier.«
»Wer hat den Brief zur Post gebracht?«
Wegen der außerordentlichen Wichtigkeit einer unserer technischen Mitarbeiter selbst, Herr Doktor Hölzer.«
»Das Patentamt hat ihn mir zurückgeschickt.«
»Weiß irgend jemand davon?«
»Nur der amerikanische Detektiv Frank Allan, der aber den Fall ablehnte, weil er zur Zeit anderweitig beschäftigt sei und sofort nach Rio abreisen mußte.«
Der Kommissar betrachtete den Umschlag.
»Ist auf der unteren Seite sehr geschickt geöffnet. Könnte ich Herrn Dr. Hölzer einmal sprechen?«
»Aber bitte!«
Dr. Hölzer, ein sympathischer Mann, etwa in der Mitte der Dreißig, kam etwas nervös herein.
»Kommissar Jobst«, stellte sich der Beamte vor. »Ich habe nur ein paar ganz kurze Fragen, Herr Doktor.«
»Bitte, ich stehe zur Verfügung.«
Jobst schaute auf.
»Sind Sie Ausländer, Herr Doktor, Sie haben so einen gewissen Akzent?«
»Ich habe meine Jugend bei einem Onkel in Amerika verbracht, bin aber guter Deutscher.«
»Hat auch nichts zu sagen. Sagen Sie, kennen Sie diesen Brief?«
Dr. Hölzer schien zu erschrecken und sah den Direktor an.
»Das ist doch der Brief –.«
»Allerdings, der Brief, der die wertvollen Patente enthielt.«
»Wissen Sie, Herr Doktor, wer ihn zur Post gebracht hat?«
»Ich selbst.«
»Können Sie sich noch erinnern, wann das war?«
Wieder ein Blick zum Direktor, der einfiel:
»Am Freitag, dem 15. Juli, abends.«
»Ganz recht.«
Der Kommissar lehnte sich zurück.
»Der Poststempel lautet vom 16ten morgens 9 Uhr.«
Hölzer wurde sichtlich verlegen.
»Ganz recht, ich habe den Brief erst am nächsten Morgen zur Post gegeben.«
»Wie war das möglich?«
»Ich wurde an jenem Abend vom Büro abgeholt und – habe es vergessen.«
»Aber, Herr Doktor! Da haben Sie den Brief die ganze Nacht bei sich gehabt?«
»Allerdings.«
»Und – wer hat Sie abgeholt?«
»Sie verzeihen, Herr Kommissar, aber das kann ich nicht sagen.«
»Sie waren in der Nacht in Ihrer Wohnung?«
»Ich muß die Auskunft verweigern.«
Der Kommissar wurde dienstlicher.
»Sie wissen doch, daß der Brief beraubt ist.«
»Was ist – –?«
Der Doktor war mit entsetztem Gesicht aufgesprungen.
»Wollen Sie auch jetzt nicht sagen, wo Sie waren?«
»Das kann ich nicht, aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, in dieser Nacht ist der Brief nicht beraubt, und wenn dies geschehen ist, kann es nur auf der Post gewesen sein.«
»Ich fordere Sie noch einmal auf: Mit wem waren Sie in dieser Nacht zusammen?«
Hölzer starrte nicht den Kommissar, sondern den Direktor mit entgeisterten Blicken an.
»Das werde ich nicht sagen.«
»Sie sind ein gebildeter Mann. Der Brief ist auf dem Postamt eingeliefert. Es wäre höchst sonderbar, wenn die alten, erprobten Beamten, die ihn behandelt haben, diesen Brief bestohlen hätten, zumal er an das Patentamt gerichtet war, also sicher kein Geld enthielt. Sie hatten ihn eine Nacht bei sich und – verweigern die Auskunft darüber, mit wenn Sie zusammen waren.«
»Sie wollen doch nicht sagen, daß ich – –?«
»Ich erwarte Ihre Erklärung.«
»Ich habe keine zu geben, aber ich schwöre, daß das Verbrechen in dieser Nacht nicht geschehen ist. Nicht geschehen sein kann!«
»Dann erkläre ich Sie für verhaftet!«
Einen Augenblick stand Dr. Hölzer regungslos, wie betäubt; dann machte er einen Sprung, riß eine Tapetentür auf, die der Kommissar nicht kannte, war hinaus, warf die Tür hinter sich zu, schloß ab – ehe das Personal alarmiert werden konnte, war Hölzer, zumal gerade die Mittagsstunde begann und die Korridore überfüllt waren, durch einen Nebenausgang entschlüpft und spurlos verschwunden.
Der Kommissar telephonierte zur Wache.
»Den fassen wir schon; das war ein Geständnis!«
Der Direktor war kreideweiß.
»Ich kann es nicht fassen. Ich glaubte eher an ein galantes Abenteuer, vielleicht mit einer Frau, die er nicht bloßstellen wollte. Hölzer ist doch ein zuverlässiger Mensch.«
»Das scheint jeder Dieb bis zum ersten Verbrechen.«
Der Kommissar gab den Fahndungsalarm aufs Präsidium und fuhr mit dem Dienstauto in Hölzers Wohnung.
Eine erstaunte Wirtin öffnete die Tür.
»Herr Dr. Hölzer ist seit gestern abend gar nicht heimgekommen.«
Der Kommissar legitimierte sich und hielt Haussuchung. Dann war er wieder bei dem Direktor.
»In der Wohnung, die jetzt unter Aufsicht steht, war nichts. Nur dieses Kuvert habe ich in seinem Smoking gefunden.« – Jetzt erbleichte der Direktor.
»Smith, Rockfield and Co.?«
»Kennen Sie die Firma?« fragte der Kommissar.
»Eine amerikanische Konkurrenz, die nicht sehr gut beleumundet ist.«
»Und an die Dr. Hölzer das Patent verschacherte.«
Es wurde auch nach Amerika telegraphiert, das dortige Patentamt verständigt – Dr. Hölzer aber blieb spurlos verschwunden, und auch von den Papieren fand sich trotz aller Postkontrollen nichts. Die Chikagoer Firma Smith, Rockfield and Co. wurde unter die Beaufsichtigung des Detektivbüros Pinkerton gestellt, aber – es zeigte sich keine Spur.