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Das Städtchen Wolmiersz an der Kaiserstraße, die von Krakau südwärts zur Karpatenkette führt, war mit unruhigem Treiben erfüllt. Zwischen den dürftigen Lehmhäusern, auf den schmutzigen Höfen, auf dem kleinen ungepflegten Marktplatz wandelten, standen oder lagerten viele Gruppen von israelitischen Männern und Frauen. Sie trugen das Gewand der Armut und die Züge der Entbehrung, und doch waren sie nicht erwerbshalber gekommen – sie gingen müßig. Es war auch kein Feiertag, der sie zusammengeführt hatte; in ihrem Verhalten war nichts von der Beobachtung festlicher Gebräuche. Das Lesen in den Gebetbüchern, das stundenlange Streiten über religiöse Fragen, das hier und dort getrieben wurde, diente nur dazu, die unerwünschte Muße würdig auszufüllen. Denn sie warteten! Sie warteten darauf, daß sich die Haustür des berühmten Rabbi auftue, der Synagogendiener mit der Meldeliste auf die Stufen trete und die Namen derer ausrufe, denen der erbetene Zutritt zunächst gewährt werden sollte.
Des wundertätigen Mannes Haus lag wie ein Schlößchen zwischen den windschiefen Hütten, ihm gegenüber seine Privatsynagoge mit dem Gebetszimmer, worin er ebenfalls zuweilen Bittsteller empfing.
Man mußte an ihm rühmen, daß er in der Reihenfolge strenge Gerechtigkeit walten ließ und die vereinzelten wohlhabendem Leute, die im Gasthause Wohnung genommen hatten, unter keinen Umständen früher vorließ, als es der Zeitpunkt ihrer Anmeldung forderte. Gewinnsucht bewegte ihn nicht! er nahm grundsätzlich weder von Arm noch Reich Geld für seine Hilfe. Die Dankbarkeit mußte auf andre Mittel und Wege sinnen, sich zu bekunden. Auf solchen aber kam ihr seine Gattin, die Rebbezin, entgegen, die ein feines Verständnis für das tiefinnere Bedürfnis des Juden hatte, in Leistung und Gegenleistung zu leben. Sie gingen der Erhörung gewisser heim, wenn sie sich sagen konnten, daß sie ein Kälbchen oder ein Schaf in den Stall seines Hofes hineingeführt hatten, während doch ein Huhn ihre Mittel schon weit überstiegen hätte. Dem Zaddik viel geben ist eine heilige Tat – zu seiner Erhaltung beitragen auch eine Wohltat an den Volksgenossen.
Und endlich: wo reich gespeist wird, bleibt auch übrig! Sogar den Resten von der Tafel des Wunderrabbi haftete noch etwas Heilkraft an, und die Rebbezin geizte nicht damit. Wiederholt sandte sie den Diener mit einem Korbe oder mit Schüsseln und einer Schöpfkelle unter die Menge, und vom ganzen Marktplatz stürzten sie herbei, schoben und drängten sich in dichtem Knäuel und suchten in die ausgestreckte Hand, in einen Becher hinein einen Brocken, einen Schluck von des Heiligen Mahle zu erhalten. Ja es geschah, daß Leute, die gemeinen Hunger einander zugute niedergezwungen hätten, wegen dieser Köstlichkeiten um sich stießen und schlugen, darob in der Folge auch noch in wirklichen Zorn gerieten und endlich mit Barthaaren und Kleiderfetzen in den Fäusten, mit Lehm am Kaftan voneinander getrennt werden mußten.
Einer, der an einem heißen Augusttage mehrmals das Schiedsrichteramt ausüben mußte, war der alte Sinai Tulpenblüt, das Haupt einer in der Frühe angelangten Pilgerschar von zwei Dutzend Köpfen. Wenn ihm bei seinem Bemühen das Käppchen vom Schädel rutschte, sah man, daß dieser kahl war bis auf einen geringen Haarkranz um seine Grenzen. Dafür aber floß ihm ein langer grauer Bart auf die Brust nieder, und so fehlte seinem Äußern nichts von der Würde, die ein alter Jude zeigen soll. Seine Haltung war so gebückt wie die aller seiner russischen Stammesbrüder, sein Bau so engbrüstig, sein Profil so scharf wie das ihre; wenn es von anderm Ausdruck belebt gewesen wäre, hätte man es kühn und kraftvoll nennen müssen – nun sah man allein seine Hagerkeit. Seine Augen waren so dunkel und wenig heiter wie die Allisraels, aber doch anders als die Augen der Jugend und der Frauen; sie klagten nicht groß in die Welt hinein, sie waren flink, klein, scheu und scharf geworden von einem langen Leben voll Gefahr und bitterer Nahrungssorge und von all den feinen Strichelchen und Punkten, die Sinai Tulpenblüt in vielen Jahrzehnten in Gesetzesrollen eingezeichnet hatte; denn er war Thoraschreiber von Beruf. Die Strichelchen und Punkte waren auch auf seine gelbbraune Gesichtshaut geraten, und hier konnten selbst »Gojes« hebräische Schrift lesen, wenn sie zu sehen verstanden.
»Es ziemt uns nicht«, tadelte er einen Haufen Streiter. »Wir sind nicht wie die Betrunknen; wir wissen zu tun Besseres, wenn wir warten müssen.«
»Man kann nicht immer vom Gesetz reden«, erwiderte mißmutig ein junger Mann, der sich den Schweiß des Ringkampfes im Ärmel abtrocknete.
»Aber man kann es lesen. Oft will das Tagewerk sonst nicht die Zeit hergeben – hier haben wir Zeit. Am Tage des Gerichts wird sich entschuldigen können weder der Arme noch der Reiche, wenn er die heilige Thora nicht studiert hat. Mandel, du auch? Mein eigner Tochtermann – es ist eine Charpe! Schande.« Der Alte hatte seinen Schwiegersohn entdeckt, der sich beschämt zu verstecken suchte. Er war ein mittelgroßer, kräftig gebauter junger Mensch, auf dessen Gesicht die Bewegung einen hellen Rosenschein geführt hatte.
Er erwiderte kleinlaut: »Du weißt, Vater, daß ich nur haben wollte für das Kind, nicht für mich!«
»Wohl – aber der Einige will sein Ebenbild nicht zerkratzt und gebeult sehen voneinander! Das haben genug die andern getan. Der Rabbi wird deinem Kind helfen allein mit seinem mächtigen Gebet.«
»Wir wissen nicht, ob wir ihn heute noch sehen werden, und morgen müssen wir weiter. Hätte dann das Kind doch einen Löffel Suppe gehabt von seiner! Rea sagt, er ist hart krank.«
Sinai Tulpenblüt wurde milder; er trat mit ihm von den andern weg und sagte leise: »Schau her, Mandel. Als ich gehört habe, daß manche nicht die Wohltat erlangen, vor sein Angesicht zu treten, habe ich alles hier aufgeschrieben, was wir von ihm flehen wollen, daß ichs ihm kann zuwerfen, wenn er sein Haus verläßt.« Aus seinem Kaftan zog er einen aufgerollten Papierstreifen. Mandels brauner Kopf kam an des Schwiegervaters Schulter. »Schau her – ich mein, daß ich nichts vergessen hab. Es ist fors erste: glückliche Reise, daß niemand uns aufhalten soll; fors zweite: daß unser Schimmehle uns nicht kränker wird unterwegs; fors dritte: daß wir dort eine Arbeit und ein Leben finden. Und dann hier noch ein Gebet: daß ich und mein Weib nicht am Wege sterben, sondern noch in das Land kommen, daß ich bleibe, euch alle zu führen, und daß sie mit ihren blinden Augen noch Meschiach steht. Denn Mandel – zu dir sag ichs im Vertrauen –, sie hat recht! Er kann nicht lange mehr verweilen; so groß ist die Not vorher noch nicht gewesen.« Er zeigte mit dem knochigen Finger von rechts nach links die Schriftreihen entlang. Sie sahen in ihrer Genauigkeit wie gestochen aus.
Mandel nickte. »Es ist alles sehr gut aufgeschrieben; der Rabbi wird müssen! Und wenn der Einige auch anders über uns beschlossen hätte – der Rabbi macht mit seiner Fürsprach den Beschluß wieder zunichte. Die Leut sagen, dieser ist ein so heiliger, wie der Golus Die Orte der Verbannung. noch keinen gehabt hat. Leib Goldstein, habt Ihrs nicht gesagt?«
Der Angeredete hatte sich aus der eben zerstreuten Kämpfergruppe dem Alten schon wieder ein wenig genähert, denn immer war Sinai Tulpenblüt würdig, angehört zu werden. Goldstein war ein Handwerker aus der Umgegend und konnte deshalb wohl über den Zaddik etwas aussagen. »Er steht Adonai zur Rechten und hat sein Ohr«, bestätigte er. »Er weiß, was Gott vorhat. Darum predigt er auch in der Schul wie Gabriel und Uriel zusammen. Zum letzten Sabbateingang hat er gepredigt, daß nur die Heiligsten unter denen, die ihm zuhörten, verstehn konnten, was er sagte. Am Sabbatmorgen redete er dann noch einmal – da konnten ihn sogar die, die im Talmud am größten sind, nicht verstehn; nur er selbst wußte, was er sagte. Und mir haben Leut gesagt, manchmal ist es so schön, daß nur Gott allein ihn verstehn kann.«
»Gott soll ihn gesund sein lassen!« sagte der alte Tulpenblüt andächtig und breitete die Hände aus.
»Und alt werden!« fügte rasch Leib Goldstein hinzu.
»Und sein lassen den letzten im Golus, daß er alle auf die Reise segnen kann! Danach soll er selbst kommen.«
Sie standen dicht vor dem kleinen Tempel, worin der Rabbi seine Predigten für die Heiligsten und Gott selbst gehalten hatte. Zuweilen tat sich die Tür des Nebenzimmers auf, um befriedigte Bittsteller hinauszulassen, dann sah man jedesmal im Innern die Gesetzeslade und einen langen Tisch, der mit Schriften und Talmudbänden bedeckt war.
Auf dem Platze beobachteten die Leute, die Riemen und Gebetsmantel trugen, mißtrauisch die andern, die in gewöhnlicher Tracht gekommen waren. Diese hatten sie im Verdacht, daß sie innerlich Abtrünnige seien und doch die Gnadengaben des Zaddik erschleichen wollten. Es gab unter den Wohlhabenden sogar einige ohne Peies Wangenlöckchen., und von diesen konnte man mit Gewißheit annehmen, daß sie nicht zu den frommen Chassidim gehörten. Für einen dieser Bevorzugten stand Mandels Vater, der Handelsmann Lemberger, vor der Schule Wache, indem er sich durch bloßes Aushalten im Sonnenbrand allstündlich einige Kreuzer verdiente. Derweil konnte sein Auftraggeber im Gasthause bleiben und war gewiß, rechtzeitig benachrichtigt zu werden, wenn sein Name aufgerufen wurde. Lemberger war noch mitteljährig und rüstig, trug einen vielgerauften Ziegenbart und einen zu weiten, vielgeflickten Kaftan, der ihm beim Überschreiten der russisch-galizischen Grenze noch glatt und prall um den Körper gelegen hatte. Seit dieser Zeit hatte Lemberger aber rasch abgenommen, und zwar in demselben Verhältnis, wie er die kleinen, feinen, flach gepackten Zigaretten loswurde, die er in den Wirtshäusern auf der Reise anbot. In Wolmiersz hatte er gleich nach seiner Ankunft ein Schaffell zu verkaufen, das er unterwegs zufällig in einem Dorfe erstanden und mehrere Stunden lang in Staub und Hitze mit sich geschleppt hatte. So wußte er immer etwas zu finden, was einen kleinen Vorteil abwarf, und sein Sohn Mandel, der ein einfacher Schuhmacher war, mußte sich von dem ältern Manne beschämen lassen.
Immer wieder wurden Namen aufgerufen, die nicht zu Sinai Tulpenblüts Pilzerzuge gehörten, und die Gesichter, die er bei seinem Eintreffen auf dem Marktplatze vorgefunden hatte, waren trotz der beständig abziehenden kleinen Gesellschaften noch nicht alle verschwunden. Seine Hoffnung, am heutigen Tage noch vorgelassen zu werden, versank. Morgen aber mußte man unter allen Umständen vor der Sonne aufbrechen, um die Gebirgswanderung bis zum Eintritt des Sabbats zu beenden und womöglich mit der Eisenbahn noch Budapest zu erreichen, wo bei der Agentur der Alliance israélite neue Reiseunterstützung in Empfang zu nehmen war. Man mußte schon froh sein, wenn es gelang, dem Heiligen den Papierstreifen zuzuwerfen.
Müde vom langen Stehen übergab Sinai diesen seinem Schwiegersohn, befahl ihm, weiter achtzugeben, und ging zu den Seinen, die sich aus dem Ganzen seiner Schar zu einer eignen kleinen Lagerstelle gesondert hatten. Es waren sein Weib Süßele, seine Tochter Rea, die den kranken Knaben hielt, und die Schwiegermutter Reas mit ihren Kindern, nämlich die Familie Lemberger. Sie hatten ein Plätzchen an der sonnigen Seite des Marktes erlangt und es mit Decken und Schirmen nach Möglichkeit verbessert. Hier verkürzten sie sich die Wartezeit so gut es ging, versuchten abwechselnd ein wenig zu schlafen, beobachteten das Treiben auf dem Platze, redeten mit andern, die in der Nähe lagerten, und griffen zuweilen nach dem Brot, das die alte Süßele aus dem Vorratssack selten und knapp austeilte. Es waren die ungesäuerten Mazzes des Passah, die sie um ihres gnadenvollen Andenkens willen, aber auch wegen ihrer Haltbarkeit für die Reise gebacken hatten. Sie nahmen sie aus der dürren Hand der Blinden und holten sich dazu Wasser aus der Marktpumpe. Wären nicht die wenigen Wohlhabenden gewesen, so hätten die vier jüdischen und die zwei polnischen Schenkwirte schlechte Geschäfte gemacht.
Der Alte ließ sich auf den Boden nieder und aß. Reas Kleiner war weinerlich und lenkte die allgemeine müde Aufmerksamkeit auf sich, ohne daß man doch zu helfen wußte. Sie suchten ihn zum Lachen zu bringen und machten aus irgendeinem Ding ein Spielzeug, das ihn für Minuten über sein Übelbefinden hinwegtäuschte. Bald aber schwammen seine schwarzen Augen wieder in Tränen. Seine sonst so brennend roten Lippen waren blaß geworden, und er war nur noch unter Reas Liebkosungen für Augenblicke zufrieden. Es war eine arge Erschwerung der Reise, daß er gerade jetzt unwohl werden mußte. Weiter mußte man – koste es, was es wolle! Die junge, schöne Rea fühlte in ihrer größten Sorge erschauernd, daß man sich auch um den Preis dieses Kindeslebens nicht zurückhalten lassen werde. Für die beiden Alten stand zu viel auf dem Spiel – sie hatten keinen Tag zu verlieren, und noch weniger würden die andern warten wollen. Sie mußten unabwendbar heim wie die Zugvögel, wenn ihr Flug erst braust.
Als er wieder zu wimmern begann, ließ sich Süßele ihn in die Arme legen, wiegte ihn und raunte ihm Trost zu, den er noch nicht verstand, der aber doch sehr groß und wirklich war: wie er nach Hause kommen solle zu Milch und Honig und aufwachsen ungeschmäht und ungeschlagen, ungejagt und ohne Hunger zu einem geachteten Manne, und daß er Meschiach sehen solle – dann oder auch noch früher – und mit ihm herrschen. Hundertmal hatte sie ihm das schon gesagt, und so viel hatte er in seinem elfmonatigen Herzen schon verstanden, daß es etwas Gutes war, wovon sie sprach. Sie brachte es als eine Verheißung mit seinem Wohlverhalten in Verbindung, und wenn er darauf das Weinen einstellte, das hingehaltne Löffelchen leerte und erwartend um sich schaute, sah Sinai Tulpenblüt und sein Süßele, daß ihr Enkelsöhnchen schon ein richtiger Ben Israel war im Glauben seiner Väter nach dem Maß seines Alters – und in der Hoffnung Meschiachs stand.
»Scha – scha – scha!« machte die Blinde und schaukelte ihn. Er schien doch etwas besser, als er in der Frühe gewesen war; vielleicht kam es von der Rast. Seine Mutter stand auf und ging ins Haus, um etwas Milch für ihn zu bekommen. Mit einer halbgefüllten Flasche kam sie zurück, und Schimmehle trank mit solcher Begier, daß man glauben konnte, nur ein wiedererwachter gesunder Hunger habe ihm vorher die Klagetöne abgepreßt. In Reas schönen Augen glänzte eine Freudenträne.
»Wir können nicht genug danken, daß wir warme Tage haben,« sagte der Alte, »wir werden etwas schlafen können und morgen früh frisch sein zum Gehen.« Sie waren seit sechs Tagen nicht aus den Kleidern gekommen.
Die Blinde aber fragte: »Rea, meinst du noch, daß es der Typhus sein wird? Ich mein, es ist 'ne andre Kränk – vielleicht nor de Zähne. Gott laß ihn durchkommen!«
Ihre Tochter beugte sich zärtlich so tief über das Kind, daß man nur die Fülle ihres braunschwarzen Haares und den schlanken braunen Nacken sah, der aus dem dürftigen Kleide hervorwuchs. Bis zur Stunde hatte sie sich bemüht, ihre Angst um den Knaben geheimzuhalten, denn es herrschte die stillschweigende Übereinkunft, daß niemand etwas tun oder sprechen durfte, was geeignet war, den Mut zu lähmen. Deshalb war diese Schar, deren jeden einzelnen Furcht und Sorge würgten, bis heute dahergezogen mit Reden wie zu einer Hochzeit.
Der Kleine vermerkte das frühe Schwinden der Milch übel und betrachtete enttäuscht die leere Flasche. Rea herzte ihn stürmisch in ihrer Freude über dieses erste Genesungszeichen.
»Du mußt sehen, eppes mehr zu bekommen«, mahnte die Großmutter. »Er hat Hunger. Geht da nicht im Nebenhaus ein Fenster auf? Sieht jemand heraus? Geh rasch – zeig die Flasche und bitt.«
Rea sprang schon auf, jedoch in der Befürchtung, der günstige Augenblick könne entfliehen, wandte zugleich Süßele ihr blindes Antlitz in die Richtung, von wo sie das Geräusch gehört hatte, und rief: »O Frauleben – gebenscht sollen Sie werden! Das unschuldige Kind – liebe Gute, derbarmen Sie sich – es ist krank! Einen Tropfen Milch!«
Eine Männerstimme lachte auf. Die Alte hatte sich an den Unrechten gewandt; es war die Posthalterei, und der junge Offizial hatte ein wenig aus seinem Schiebefenster schauen wollen. Allein er war nicht hartherzig. Er zog den Kopf zurück und langte ein in Papier gewickeltes Fünfzigkreuzerstück heraus. »Das Benschen nehm ich an – das andre stimmt nicht. Hier, schöne Frau – es ist für die schönen Augen.«
»Es ist für mein Kind«, murmelte Rea rotübergossen und streckte finstern Blicks die Hand danach aus.
Süßele erhob sich ehrerbietig, verneigte sich und rief in der Richtung des Sprechens: »Vergebung, lieber Herr, ich sehe nicht. Aber Sie haben a jüdisch Herz. Viel Freud solln Sie erleben an Ihre Kinder und Kindeskinder.«
»A Cholera soll'n treffen!« rief Mandels Stimme plötzlich dicht neben ihr. »Was hat er gesagt – schöne Frau – schöne Frau!? Was waiß er? Selbst soll er sich nehmen – dann hat er ein Weib, und sie soll ihm sein wie ein Dornbusch!«
Sein Schwiegervater wies ihn zurecht. »Geh weg! Er hat uns eine Wohltat getan – willst du wieder Streit?«
»Wie haißt? Schöne Frau?!«
»Haben wir nicht schweigen gelernt? Denk, wir müssen eppes haben zu beißen –«
»Wir brauchen uns darum nicht mehr zu bücken – wir machen keine Geschäfte mehr mit ihnen! Wie haißt? Soll er mein Weib angaffen? In einen Schweinestall soll er sehen!«
»Was tust du hier zu stehn? Nimm einen Bissen und geh an die Schul zurück, daß wir nichts versäumen!«
Mandel schluckte den Rest seiner Empörung nieder, sodaß zu hoffen war, der Beamte habe den Ausbruch nicht bemerkt. In Wirklichkeit hatte er auch nur in gedämpftem Tone gewütet und die Faust in der Tasche geballt. Um sich hierüber vollends zu beruhigen, trat der Alte an den Außenschalter, zog sein Käppchen und fragte demütig, ob vielleicht für jemand aus seiner Pilgerschar eine Sendung auf der Post lagere. Freilich wußte er selbst nicht, wer etwas senden sollte, allein man hatte beim Auszuge diesen Ort den Zurückbleibenden bezeichnet. Er überreichte dazu dem Offizial ein schmutziges Blättchen, auf dem sich das Namenverzeichnis befand.
Noch immer heiter gestimmt las dieser in bewunderndem Ton: »Levy – Lemberger – Augenlust – Wohlleben – Selig – und Tulpenblüt.« Diese Familiennamen stammten bis auf den ersten aus frühern Wohnorten innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie und aus einer Zeit, wo die Juden gezwungen wurden, deutschklingende Namen anzunehmen, und sich an ihnen der Witz der Beamten übte. Dem Gewerbe nach waren sie: drei Tagelöhner, zwei Kramhändler, ein Schuhmacher, nämlich Mandel Lemberger, und ein Thoraschreiber. Der Beamte schaute flüchtig in seine Fächer, aber fand nichts. »Viel gute Nachricht können Sie auch nicht erwarten,« sagte er gutmütig, »die Zeitungen schreiben von neuen Pogromen. Sie erfahren es früh genug, wenn Sie zurück sind.«
»Wir gehn nicht zurück«, versetzte Tulpenblüt, und ein Schimmer von Stolz und scheuer Freude glättete einen Augenblick seine Runzeln. »Wir gehn in die Heimat.«
»Wohin? Wie – wo ist denn das?«
»Mit Erlaubnis des Herrn Wohltäters – in das Land, das uns gehört. Nach Palästina.«
»Heiliger Joseph! Da unten nunter? Ist das ein Unternehmen! Haben Sies auch recht überlegt? Es kommen noch wieder bessere Zeiten für Sie in Rußland – wenn Sie warteten.«
»Mose hat auch nicht warten wollen, daß aufkam ein besserer Pharao. Und in Babel sogar ging es den Unsern so gut, daß Nehemia gesessen hat an des Königs Tisch! Und doch wußten ihre Führer, daß ein Volk nicht leben kann in der Fremde. Es sennen itzt schwere Zeiten. Wir sind abermals die Verstreuten im Lande Assur, die wiederkommen sollen.«
»Was meinen Sie damit – Assur? Assur! Ich kenn mich nicht aus mit Ihren Namen.«
»Ihr schreibt es ›Russa‹ – Ihr schreibt von links nach rechts.« Des Alten Sprechweise hatte etwas Bedächtiges und Sorgfältiges. Langsam formte er die Silben, wie er beim Abschreiben gewohnt war, sie auszusprechen, bevor er sie aufs Papier setzte. »Ich dank Euch für die Müh, Gnädigster – und wünsch langes Leben.« Wieder zog er seine Kappe, verneigte sich und ging zu den Seinen zurück.
Ein neunjähriges Mädchen aus der verschwägerten Familie, das aus einiger Entfernung das Gespräch angehört hatte, faßte seine Hand und sah zu ihm auf. »Was haben immer die Leut auf uns? Er soll nicht lachen – ich will es nicht!« Es ballte leidenschaftlich die kleine Faust und sah nach dem Postschalter zurück.
»Sie sagen, wir hätten ihren Gott umgebracht und müssen deshalb verdammt sein in alle Ewigkeit. Leute, die nichts nachfragen ihrem Gott, verfolgen uns darum. Du wirst es nicht mehr erleben – nicht erleben! Hast a Glück – a Glück!«
Die kleine Mannia schwieg nachdenklich. Ruben Levy aber, ein schmächtiger Junge von zwölf Jahren, der ebenfalls hingehorcht hatte, sagte plötzlich unvermittelt: »Reb Tulpenblüt – ich möcht ein Mensch werden.«
»Gott laß dich gesund sein! Du sollst übers Jahr ein Gesetzessohn werden und weißt nicht, was du sprichst!« Sinai blieb stehn, fuhr mit den Händen durch die Luft und rief in stets sich steigernder Erregung: »Ich will dirs aber sagen: wer nichts mehr wissen will von der Jüdischkeit, der ist tot. Der ist ein Meschummad Abtrünniger. – ein Daitsch – ein Verräter! Der hat vergossen seiner Mutter Blut. Der soll hingehn, sich schmadden taufen = ausrotten lassen. lassen und verflucht sein! Sein Weg müsse finster und schlüpfrig werden, und der Engel des Herrn verfolge ihn! Wer sich läßt ausrotten aus unserm Volk, der soll ausgerottet sein aus dem Lande der Lebendigen, Unglück soll auf seinen Kopf kommen, und siebenfältig soll ihm in seine Brust hinein vergolten werden seine Schmach! Wohl dem, der seine jungen Kinder nimmt und zerschmettert sie an – nein nein!« Plötzlich brach er beim Anblick von Mannias holdem, entsetztem Gesicht ab, ließ die Arme sinken und neigte den Kopf wieder mit dem gewohnten Ausdruck stiller Traurigkeit. »Nein, nicht die Kinder! Es braucht auch nicht so viel Worte – und du, Mannia, bist nur ein kleines Mädchen. Wenn sich dein Vater geschmadt hätte, solltest du doch leben. Er wird aber nie – nie!« Seine Aufgeregtheit hatte die Kleine dem Weinen nahegebracht; sie hatte es plötzlich eilig, zu ihrer Mutter zu kommen, und Ruben Levy starrte lange großäugig ins Weite. Sinai setzte sich und verzehrte das Mazze vollends, das er vor dem Gespräch mit dem Postbeamten in seinen Kaftan versenkt hatte. Dabei zeichnete er friedlich mit seinem Stock ein Davidswappen neben dem andern in den Sand, bis Mandels Vater von seinem erledigten Wachtposten kam, sich auch niederließ und gesprächig sein auf der Reise verdientes Geld zählte. Er war zufrieden: während alle andern nur verbraucht hatten, war sein Gut gewachsen, besonders durch den fein ersonnenen und wohlgeratnen Zigarettenhandel. Zwar hatte er mehrmals von Wirten und Gästen Faustschläge hinnehmen müssen und die Drohung, daß sie ihn wegen Schmuggels anzeigen würden, falls er seine feine Ware nicht beträchtlich billiger lasse, allein er hatte doch noch guten Profit gemacht und freute sich seiner verminderten Leibesfülle, die ihm seine vorige Beweglichkeit wieder verstattete. Sinai Tulpenblüt wußte recht gut, daß Lemberger eigentlich nur der übrigen wegen mitgezogen war und den gefährlichen Schleich- und Winkelkampf seines Daseins mit der slawischen Art sonst noch fortgesetzt haben würde.
Alle saßen dann eine Zeit lang stumm brütend und freuten sich der ungewohnten Stille, denn Schimmehle war dank der Spende des Offizials völlig gesättigt worden und schlief. Reas Blick suchte zuweilen über den Platz mit dem flimmernden Sonnenglanz hinweg ihren Mann, und die alte Süßele drehte den Kopf, um dies und jenes von den Vorgängen auf dem Markt aufzufangen. Ihr Ohr, ihr Tast- und Geruchssinn hatten sich gewöhnt, die Pflicht der erloschnen Augen mit zu erfüllen, und ihre Seele sah dazu ergänzend die Bilder, mit denen sie sich in lichten Tagen bereichert hatte. Kaum verrieten ihre Bewegungen die Blinde. Ihre Gestalt war in die Breite gegangen, allein nicht vom Wohlsein, sondern weil es ihre Volkseigentümlichkeit war. Ihre Nase hatte sich gesenkt und die Spitze wieder zum Gesicht zurückgezogen. Früh gewelkt und verhärmt, hatte sich die Alte dann in wunderbarer Zähigkeit unverändert erhalten. Aber wenngleich sie nicht schön war und ihr alter Ehemann nicht stark und stattlich, sahen doch vom ersten Reisetage an alle auf Reb Tulpenblüt und seine Süßele. Wie die Weisheit und die Hoffnung waren sie vorangegangen. Denn die Hoffnung war der alten Süßele Leben geworden, seitdem sich die Verfolgungen in den russischen Wohnorten verschärft hatten. Alles, was in den andern Fluch, Haß und Angst wurde, setzte sich in ihr zu Hoffnung um. Nur leidenschaftlicher wurde diese, wenn neue Schrecknisse ihren Ort befielen. Jede neue Greuelnachricht überzeugte sie nur stärker davon, daß Meschiach unterwegs sei und jeden Tag erscheinen könne. Lange hatte sie gemeint, daß er sich schon in Rußland an die Spitze seines Volkes setzen und es zurückführen werde, und immer wieder hatte sie erinnert und gebeten, daß man nicht vergessen möge, sie zu rufen, wenn er da sei. Sie zweifelte nicht, daß sogar ihre Augen wieder aufgehn würden, wenn sie erst vor seinem Angesicht stünde, denn – wenn Er zu sehen war, wie sollten sie nicht genesen?! Nur holen mußte man sie. Mehr als einmal hatte sie schon gemeint, er sei gekommen, wenn sie ein Getümmel hörte. Es war jedoch immer das Lust- und Kampfgeschrei Betrunkner und Aufständischer gewesen mit dem Lärm wilder Rotten, die in die Judenhäuser drangen. Ob er nicht gerade jetzt den Zeitpunkt für geeignet hielt, unterwegs sein Volk sammelte und heimbrachte? Wer konnte sagen, daß ihm nicht gerade das gefallen werde?
Vielleicht hier im Städtchen Wolmiersz? Hunderte waren hier zu Hause, die auf ihn warteten; es war schon der Mühe wert. Süßele freute sich, daß sie nicht in einem engen Hofe, sondern auf dem Marktplatze saß, denn hier würde sie sein Kommen selbst merken, wenn man in dem Freudentaumel vergessen sollte, es ihr anzusagen.
Rea sah dem Vater ähnlicher als ihr, und das war gut. Sein Gesichtsschnitt hatte trotz der achtundsechzig Jahre eines galizischen und südrussischen Judenlebens etwas unzerstörbar Edles behalten, und dieser Schnitt war auch der ihre. Ihre Augen aber hatten ein tiefes Leuchten von der Liebe Mandels und ihres kleinen Schimmehle.
Und Licht vom gleichen Licht glänzte auf dem Antlitz des jungen Ehemannes. Ihn hätte man deswegen fast nicht für den Genossen eines unglücklichen Volkes gehalten, besonders wenn er auf der Reise als letzter im Zuge neben Rea hinschritt, seinen Knaben im Arm und geflissentlich weit genug zurückblieb, daß die andern ihn und sie nicht hören konnten. Es hätte nicht sein sollen und war gegen die Würde eines Sohnes Israels und einer Tochter der Ahnmütter – wie sie manchmal tändelten und lachten und einander anschauten. Wo die andern doch etwas davon merkten, drückten sie aber ein Auge zu und stellten sich sogar, als wüßten sie nicht, daß er Rea schon vor der Vermittlung des Schadchens gekannt und diesen nur aus Schicklichkeitsgründen zugelassen habe. Denn alle hatten ihn gern. Mandel war einer von denen im Zuge, von denen stets Ermutigung ausging, und ein Hauch von Frische umgab auch Rea mit ihrem Kinde.
Sie träumte im Sonnenbrande des Marktplatzes von einer hellen Zukunft, während der Kleine schlief: und dieser Traum war so schön, daß sie die Wimpern schloß, um das Bild festzuhalten.
»Leg dir den Sack unter den Kopf und schlaf«, mahnte Süßele. »Noch ist das Kind still, wie willst du sonst aushalten? Ich werde auch versuchen,« Und sie lehnte sich an die Hauswand und schob sich eine zusammengerollte Decke hinter den Rücken.
Rea gehorchte, legte den Oberkörper nieder und sah in den blauen lachenden Himmel hinein, als wäre es die Zukunft. Alles war gut – immer noch – fast zuviel des Glanzes! Immer noch weiter drang der Blick, er fand keine Grenzen, und die Seligkeit hörte nicht auf. Die Sinne vergingen ihr in der blauen Wonne, die Augen fielen ihr zu, ihre Glieder lösten sich. Gut und leicht und schön war alles immerfort – immerfort. Ihr war, als flöge sie. Ewig war alles gut. Sie trank die Luft, die vom belebenden Sonnenlicht durchflutet war.
Als sie endlich halbwach wurde, verwunderte sie sich nicht, neben sich von Meschiach reden zu hören. Wohl gehörte er in all das Köstliche hinein, sie schloß die Augen wieder. Es dauerte eine Weile, bis sie sich aufraffen konnte. Endlich empfand sie, daß sie es mußte, denn irgend etwas Wichtiges ging auf dem Platze vor. Die Menschen stürmten alle in einer Richtung vorwärts, und dies war nicht Wut; es war Begeisterung und Verlangen! War er wirklich da? Die Mutter rief seinen Namen – sie richtete sich empor.
Die Mutter war aufgesprungen, lehnte mit ausgestreckten zitternden Armen an der Hauswand und rief: »Meschiach – Erlöser – hilf uns! Gesegneter, nimm mich mit!« Die Stimme erstickte halb in ihrer übermäßigen Erregung.
Niemand als Rea achtete auf sie. Diese aber sah nun, daß der Ansturm dem Zaddik galt, der soeben sein Audienzzimmer verlassen hatte, um in seine Wohnung zurückzukehren. Sie wollten ihn nicht lassen, sie bedachten nicht, daß er auch ein Mensch war und essen, trinken und ruhen mußte. Rea ergriff ihrer Mutter Hand: »Es ist der Rabbi. Laß uns auch hingehen. Vielleicht wenn er dich sieht, wird er noch besser an uns denken.«
Auf Süßeles blindem Gesicht folgte Enttäuschung der seligen Freude. Mit tiefem Aufseufzen ließ sie die Arme sinken und ging mit. »Er ist es wieder nicht. Laß den kleinen Levy bei dem Kinde bleiben.« Sie strebte selbst eilfertig fort, bis sie sich mit Rea in dem lebenden Ringwall befand, der sich um den Heiligen gebildet hatte. Sie hörte die Bittrufe und die abgerissenen Jammerberichte, das Knirschen der Sohlen, das Streifen der Kleider, das Bitten ums Platzmachen. Sie fühlte das Schieben und Drängen. Sie roch den Moderduft, der an heißen Tagen eine große Menschenmenge umgibt. »Gott – Einiger – daß er Tulpenblüt anhört!« wimmerte sie. Rea jedoch, die um halben Hauptes Maß über die meisten hinwegragte, sah den Rabbi: er ist von breiter schwerer Gestalt. Seine Glatze mitsamt dem mächtigen Bart macht ihn aus der Ferne gesehen den andern ältern Männern ähnlich, aber Rea sieht scharf: sein Antlitz ist mit anderm Stempel geprägt. Er ist der einflußreiche Volksmann. Der stete Umgang mit demütigen Bittstellern hat ihm Selbstsicherheit, ja fast etwas Gebietendes gegeben – alles jedoch vom Wohlwollen überschienen. Er kann im Tone der Härte zurückweisen. Aber wie sollte er nicht? Sie würden ihn sonst in wenig Wochen vom Leben zum Tode gebracht haben, und er ist sich seinem Volk in noch besserm Sinne schuldig! Wohl ist er einer, der im Golus gedeihen kann! Er wendet sich hierhin und dorthin und verweist einzelne zum Schweigen, während er einen uralten Mann anhört. Es scheint, als ob er diesem auf der Stelle den erflehten Segen erteilt, denn er spricht unter Ausbreiten der Hände einige zusammenhängende Sätze. Dann läßt er sich nicht mehr halten. Er rafft hingestreckte Blätter, zugeworfne Papierstreifen zusammen und fordert die Umstehenden auf, ihm eine Gasse zu machen. Flehende Rufe, schluchzende Beschwörungen verfolgen ihn, bis sein Diener die Haustür schließt.
Rea hatte gesehen, daß er auch des Vaters Schriftstreifen ergriffen hatte, und stieß einen Freudenruf aus. »Er hat ihn bekommen, Mutter! Er faßte das Ende und zog ihn heran. Nun ist alles gut!«
»Gelobt seist du, der du stützest die Wankenden und heilest die Siechen«, murmelte Süßele. »Führ mich zurück, Rea. Im Tod ist Frieden, aber Gnade im Leben, laß uns lebend hingelangen!«
Nach der Lagerstelle folgten ihnen froh Sinai und Mandel. Auch andre liefen erleichterten Herzens zu ihren Niederlassungen, und verschiedne, die aus der Umgegend gekommen waren, rüsteten sofort zum Aufbruch. Sinai sprach noch einmal mit allen diesen und mahnte, dem Beispiel seiner Pilgerschar bald zu folgen und damit die herrliche Zukunft Israels heraufführen zu helfen. Viele versicherten ihm, daß sie schon lange auf die Gelegenheit warteten. Andre entschuldigten sich mit allerlei Umständen, die sie zwangen, noch eine Weile auszuharren. Auch waren einzelne noch nicht bis aufs Blut geplagt worden und schlugen den Verdienst, den ihr Scharfsinn ihnen inmitten einer dumpfen Bevölkerung verschaffen konnte, noch zu hoch an.
»Aber im nächsten Jahr in Jeruschalaim«, sagte er allen. »Lebt gesund!«
Die Hauswand, die bis zum Abend von der Sonne beschienen worden war, strahlte unterm Sternenschein ihre Wärme wieder aus. Sie fanden alle etwas Schlaf. Als in den Höfen die Hähne zu krähen begannen, holte eine der Frauen heißen Kaffee aus der Schenke; dazu aßen sie ihr ungesäuertes Brot. Dann zogen sie vor Tau und Tag ihre Straße weiter. –
Als sich der flache östliche Horizont greller färbte, erschienen vor ihnen auch die Spitzen der Berge, die aus einem Nebelmeer tauchten, rötlich angeleuchtet. Schneefelder glänzten an den dunklern Nordhängen und machten ihre Linien noch schroffer. Es war den Wandernden, als zögen sie gegen eine Wand – so unvermittelt sprang die Hohe Tatra aus der Ebene auf. Als aber die Sonne selbst sichtbar wurde, durchdrang sie allmählich den Erddunst. Unter den Frauen der langsam sich fortbewegenden Gruppe ragte Rea wie eine schlanke Zeder empor. Ein altes Spitzentuch lag diademartig auf ihrem braunschwarzen Haar. Ihr Gang war in Mandels Augen der einer anmutigen Königin. Er trug das Kind, und wenn man um dieses nicht hätte Sorge haben müssen, wären alle beide vollkommen glücklich gewesen, wie bei den Gojes die Brautleute sind.
Bald nach Sonnenaufgang erreichten sie Zakopane. Endlos dehnte sich ihnen der Ort mit seiner schattenlosen Hauptstraße. Arme Juden, fleißige Goralen in Bundschuhen, austreibende Viehhirten belebten ihn schon. Von den vornehmen Sommergästen, die hauptsächlich in den Villen der Seitenstraßen wohnten, gingen nur erst einige Frühaufsteher. Der Zug Sinai Tulpenblüts erregte kein besondres Aufsehen. Man war hier an den Anblick der verschiedensten Volkstypen und auch an den der Armut gewöhnt und ertrug insbesondre diesen recht gut. Denn er machte für die Fremden durch Gegensätzlichkeit das schöne Gesamtbild noch ausdrucksvoller. Trupps wandernder Juden zumal waren wegen der Nähe von Wolmiersz mit seinem Wunderrabbi keine Seltenheit.
Zu kurzer Rast wählten sie eine jüdische Schenke am Wege. Wenigstens einmal an diesem Tage wollten sie sich ein warmes Essen gönnen, und später fehlte die Gelegenheit. Erbsen und Schaffleisch konnten sie rasch bekommen; das Gericht brauchte nur gewärmt zu werden. Derweil ließen sie sich auf den Bänken vor der Tür und drinnen nieder. Von dem Geld der Fremden, das in letzten dünnen Äderchen noch in die Taschen der Anwohner rann, erreichte wohl nichts mehr dieses Haus.
Rea hatte sich mit ihrem Knaben draußen auf einen Haublock nahe einer Bank gesetzt und wartete auf die Milchflasche, die ihr Süßele verschaffen wollte. Denn Süßele hatte eine Gabe, die Menschen zur Hilfe willig zu machen, während Rea einen hinderlichen Stolz hatte und sich nur schwer zum Bitten überwand. Mandel ruhte in ihrer Nähe auf einem Haufen Buschholz. Plötzlich fuhr er wie von einer Schlange gestochen auf. »Geh hinein, Rea, du mußt hineingehen, rasch! Die Affen! Sie schämen sich nicht.«
Sie schaute um sich und sah zwei in nachlässiger Eleganz gekleidete Männer mit breitkrempigen Hüten in ihrer Nähe. Der ältere hatte sich auf ein Knie niedergelassen, hielt auf dem andern ein aufgeschlagnes breites Buch und führte mit fliegender Eile den Stift, während sein Auge zwischen dem Blatt und ihr hin und her wanderte. Es gilt ihr mit ihrem Kinde, auch vielleicht noch Mandel und den Nächstsitzenden von den andern. Sie drehte sich tief errötend weg, indem sie aufstand, und ging mit Schimmehle rasch ins Haus. Ärgerlich klappte der Zeichner sein Buch zu, und der andre lachte. Sie waren schon vorher vorübergeschlendert und hatten ihrer Neugier keinen Zwang angetan.
»'s Bein soll er verrenken!« In Mandel kochte ein Grimm auf. In alter Gewöhnung hielt er ihn jedoch im Zaum, kehrte den beiden den Rücken zu und fing mit Ruben Levy ein Gespräch an. Trotzdem hörte er den jüngern der beiden sagen: »Die Augen hättest du doch nicht mitbekommen, und die waren das beste. Laß ein schönes Judenweib ein wenig hungern, ein wenig Angst haben – und laß sie lieben – und du bekommst Augen – Augen! So etwas sieht man sonst nicht trotz Polinnen und Ungarinnen!«
»Triefaugen soll er sehen sein lebelang!« wütete Mandel und folgte Rea ins Haus. Dort vergaß er jedoch die Maler rasch über seinem Kinde. Schimmehle stieß die Flasche weg. Es ging ihm wieder schlechter; er hatte eine gelbliche Farbe und tiefe Schatten im Gesicht. Der Großvater Sinai ließ ihn sich reichen und fing ein seltsames Kosen mit ihm an:
»Du wirst doch mit uns wollen?« sagte er ernsthaft zu ihm. »Weißt du nicht, daß du schon angehört hast unsern Gruß beim letzten Seder? Passah. Es ist dir versprochen, und du hast es angenommen – nun wirst du nicht allein zurückbleiben wollen? Still – still, wir bleiben nicht; du wirst rasch müssen gesund werden. Still – du bist mein einziges Kaddisch Gebet des Sohnes für die verstorbnen Eltern. Kann nur von Söhnen oder Enkelsöhnen gehalten werden und ist frommen Juden überaus wichtig., aber heimkommen ist mehr. Du kannst nicht Anspruch machen, daß ich um dich soll verrecken an der Straß. Wir Alten können keinen Tag verlieren. Nimm deine Milch, mein Jüngel – viel gute Milch! Die sollst du haben, und wenn ich sie kaufen soll für meinen Rock und für mein Hemde. Aber warten – meinst du? Nein – nein. Schlaf, mein Jüngel, solang wir noch sitzen. Bald geht es weiter.«
Rea stand bleich neben ihm und hörte sein schlimmes Wiegenlied an. Sie wußte, daß es ernst gemeint war. Er, der vor einem Jahre noch in den Krawallen für die Rettung der Synagoge geblutet hatte, zitterte jetzt um sein und Süßeles Leben.
Sie ging noch einmal in die schmutzige Küche und bat um Kamillentee. Hastig – schon im Aufbruch begriffen – flößte sie dem Kinde noch etwas davon ein. Sie verlangte nun, den Knaben selbst zu tragen, denn sie meinte, bei ihr werde er vielleicht einschlafen. Mandel ging dicht neben ihr, trug die Sachen und hatte sich zum Ausgleich auch noch mit Gepäckstücken andrer beladen. Stets wußte er sich nützlich zu machen – zum wenigsten war er es immer durch seine Unverzagtheit und durch das frische Gesicht, das sein dünner krauser Vollbart mitsamt den Wangenlöckchen umrahmte. Wo jemand der Mut sank, konnte er ihn an Mandels Anblick wieder beleben, und selbst in die derben Wanderschuhe, die er für alle seine Angehörigen angefertigt hatte, schien er etwas von seiner Unermüdlichkeit hineingearbeitet zu haben. Er wollte noch leben und glücklich sein im Lande, während die Alten nur Sterbens halber hinzogen.
Die Straße führte in steter Steigung am Eisenhammer vorüber in den Wald. Hier wurde sie zum Fußwege. Große und kleine Felsblöcke lagen darin; der Regen, der die Pfade der Tatra in kleine Flußläufe zu verwandeln liebt, hatte sie herausgewaschen. Der Schenkwirt hatte eine Wegbeschreibung bis zur nächsten Schutzhütte gegeben und eine vergilbte Wanderkarte von der Wand genommen und Sinai Tulpenblüt verehrt. Dieser kannte den Weg ebensowenig wie irgendein andrer, allein sein Alter, vereint mit dem persönlichen Ansehen, das er genoß, hatte ihm die Führung verschafft. Sein Plan war, durch das Hlinskatal in das Mengsdorfer Tal zu gelangen und von diesem aus eine Station der Kaschau–Oderberger Eisenbahn zu erreichen. Der Wirt hatte ihm jedoch dringend geraten, auf gewöhnlichen Touristenwegen zu bleiben, selbst wenn sie einen Umweg verursachten. Man fand dann zuweilen eine Hütte, die im größten Notfalle angesprochen werden konnte, und Menschen, die über den Weg Auskunft gaben. Deshalb war auch die Übersteigung des Koprovajochs unvermeidlich, von dem man in das Mengsdorfer Tal hinabgelangen konnte.
Und deshalb zog Ahasveros auf den Pfaden der Kraft und der Wonne über das Gebirge – ein seltsamer Zug!
Der alte Tulpenblüt war mit seinem Weibe immer voran. Er durfte beanspruchen, daß das Zeitmaß so genommen wurde, wie es für sie beide paßte. Er hielt sie bei der Hand, und sie hob steigend nach Art der Blinden die Füße immer ein wenig höher, als nötig war, obgleich er sie um größere Steine sorgfältig herumleitete. Es mußte sie bald ermüden. Deshalb schnitt er von einem Erlenbaum einen kleinen Ast, den er zu einer weiten Gabel auszweigte. Diese legte er ihr von rückwärts um den Leib und schob sie damit sanft vor sich her. So konnte er ihren Gang richten und zugleich mit seiner übrigen Kraft ihr helfen. Süßele aber tat, was sie konnte, um ihn nicht zu sehr zu beschweren. Eines spürte vom andern so jedes Zagen und Ermatten und jeden frischern Antrieb, und so waren auch ihre Seelen durch diesen Erlenast verbunden, ohne daß sie sprachen. Vom Tragen von Gepäck waren alle Alten befreit; so waren die Kräfte ausgeglichen, und der Zug bewegte sich langsam aber förderlich aufwärts.
Der Wald duftete und stand im tiefen Grün seiner Nadeln. Schatten lag auf dem feuchten Boden, und nur geringes Unterholz fristete sein Dasein. Es war kühl und still – selten ein Vogelruf. Kein Wild – nur ein Birkhuhn brach einmal neben ihnen aus dem Gebüsch. Endlich traten sie auf ein abgeholztes Revier hinaus, wo der quellige Boden Blumen und Gräser trug von wunderbar satten Farben und vollem Duft. Die kleinen Rinnsale frischen Bergwassers tränkten auch den Zug Israels. Sie setzten sich auf Baumstümpfe und hielten kurze Rast. Eine Herde schöner schwerer Kühe mit weitausladenden Hörnern graste in einiger Entfernung auf der Hochwiese – bis an die Knie verdeckt von Enzian, Rittersporn und tiefblauer Campanula. Ihre Glocken klangen vieltönig zusammen. Ein Slowak in Mantel und Hose aus weißgrauem Filz – die Weste aus Schaffell – saß mit seinem Hund regungslos hinter einem Felsen.
Sie schauten den Mann mit seinem Vieh staunend an, und dabei geschah es, daß sich ihre Augen noch höher hoben. Da sahen sie die Tatrariesen, Spitze an Spitze, in schroffen kahlen Linien ins Blau hinaufragen. Alle schrien durcheinander: »Ach die Berge – die Berge, seht – seht!«
»O die grausamen Berge – Gott über Israel! Da sind sie!«
»Da sollen wir hinüber? Sie stehn in den Himmel hinein – sie sind sehr groß und grausam. Könnt ihr denken, daß wir da hinaufkommen? Sind wir Vögel? Haben wir uns aufgemacht, unsre Knochen zu zerfallen auf Stein?!«
»Er hat uns keine Flügel gegeben!«
Und in leisem Vorwurf fragte eine Frau: »Habt ihrs gewußt, Reb Sinai, daß sie so steil sind?«
»Ich hab es nicht gewußt,« erklärte er, »aber wir werden einen Weg hindurch finden.«
»Mit den Kindern? Und mit der Blinden?«
Süßele saß auf einem wackelnden Felsblock und bat erschrocken: Sagt mir, was ihr seht!«
»Berge – nichts als Berge – einer neben dem andern – einer hinter dem andern – einer immer schärfer als der andre. Alles Stein – nichts als Stein. Keine Bäume da droben und nichts von Grün. Schnee hier und da – es ist eine Wüste, und man kann sich nicht darauf halten.«
»Wir werden hindurchkommen«, versetzte sie fest. »Uns wird es kein Unglück bringen, aber es ist ein Unglück für dieses Land; wovon soll es essen?«
»Wir werden essen auch in den hohen Bergen«, sagte Tulpenblüt ermutigend. »Wir könnten, wenn wir wollten, jetzt! Aber wir wollen nicht eher, als bis wir oben auf dem Paß sind; jetzt werden wir nur den Kindern ein wenig geben. Ist einer, der eppes dawider hat?«
Niemand erhob Einspruch, man hielt wohl noch aus bis zu der Höhe. Die Kleinen erhielten einige Bissen und tranken dazu Wasser.
»In Fellen war etwas zu machen – und in Talg, und Jossele Hirsch und sein Sohn sind beide tot!« Mandels Vater, der alte Lemberger, saß mürrisch brütend am Boden und dachte laut. Als Sinai ihm strafend winkte, schwieg er.
Während sie saßen, kam im Walde Gesang herauf, und gleich danach erschienen Bergsteiger mit ihrem Führer auf der Lichtung: drei Männer und zwei Frauen. Sie hatten Sträuße von Teufelsbart an ihren Stöcken, der Führer trug Seil und Eispickel. Nun verstand man von den hellen Frauenstimmen die gesungnen Worte:
Mein Herz ist wie 'ne Lerche und jubelt auch mit Schall.
Sie sangen im Marschtakt, und es schien, als kämen sie durch das Singen rascher fort. Es war der Schluß, jedoch einer setzte sofort wieder ein: »Der Mai ist gekommen.« Er wurde lachend still gemacht – es sollte nun genug sein.
»Was tun die hier zu gehn?« fragte die kleine Mannia Selig und legte ihre braune Hand auf Süßeles Knie.
»Sie werden auf die Berge wollen, es wird ihnen befohlen sein vom Arzt.«
»Sie sehen aber nicht krank aus. Die Damen pflücken Blumen und singen.«
»Hör nicht hin, sie schämen sich nicht, vor Männern zu singen. Mannia, du wirst das nicht tun, wenn du groß bist.«
»Nein gewiß. Aber was singen sie? Von jubeln? Ihr Herz ist wie eppes andres, und dann jubeln sie?«
»Laß sie, sie sind verkehrt – und du kannst es nicht verstehn. Uns ziemt es nicht so. Wir jubeln nur einmal noch und dann ewig. Dann wirst du wissen, was jubeln ist, man wird es dir nicht müssen deuten.«
»Aber wer ist gekommen – der Mai!«
»Sie sagen Mai, wenn wir sagen Sivan. Aber wir sind gar nicht im Sivan, sondern im Monat Ab. Daran kannst du sehen, daß sie verkehrt sind, und daß du nicht hinhören sollst. Geh, schöpf mir auch einen Becher.«
Als die kleine Gesellschaft am nächsten war, zog Sinai Tulpenblüt seine fettige Mütze und bat den Führer unterwürfig um Auskunft über den Weg. Dieser wollte zuerst nicht antworten, als jedoch eine der Damen stehnblieb und die Israeliten teilnehmend betrachtete, zeigte er mit langem Arm und gab ein paar flüchtige, krause Weisungen, die für eine kurze Strecke genügen konnten. Dann schien er weitergehend seiner Gesellschaft zu erklären, was es mit diesem abenteuerlichen Zuge auf sich habe. Er meinte ihn wohl nur auf der Rückkehr vom Wunderrabbi.
Sinai aber gab schleunig das Zeichen zum Aufbruch, um dicht hinterher ziehen und den Führer eine Zeit lang umsonst nutzen zu können. Die Fremden freilich stiegen leicht und kräftig mit federndem Knie, und die Entfernung zwischen den beiden Gruppen nahm stetig zu. Als die Touristen in der Knieholzregion zu verschwinden drohten, ließen die Juden einen jungen Mann aus der Wohllebenschen Familie nachlaufen, um so lange wie irgend möglich die Verbindung aufrecht zu erhalten. Als aber dieser in Gefahr geriet, auch seinen Zug aus den Augen zu verlieren, blieb er stehn und ragte aus den Zwergkiefern eine Weile als lebender Wegweiser hervor, der mit einem Arm noch die Richtung angab, in der die andern davongegangen waren.
Der Pfad trug rotfarbne Bezeichnung an Fels und Strauch. Alle spannten ihre Sinne scharf auf diesen Farbenfleck, und der kleine Ruben kundschaftete als leichter Vorläufer manchmal voraus. Das Steigen war beschwerlich. Alle waren der Berge und jeder kräftigen Leibesübung ungewohnt. Langsam, manchmal schneckenhaft bewegten sie sich dahin, und als endlich das Tal des Tychabachs mit der Schutzhütte an seinem Eingang vor ihnen lag, hätten einige gern wieder ausgeruht. Sinai war der Meinung, daß mit der Erreichung des Gladkiepasses die Hälfte der Schwierigkeiten überwunden sei und dort oben deshalb die Rast alle mit Mut erfüllen werde. »Später wollen wir essen«, tröstete er wieder. »Warum den Magen beschweren im Steigen? Laßt Rea rasch hineingehn und bitten, die Milch zu wärmen, wir können nicht warten.«
Rea ging, und ihre Bitte wurde erfüllt, jedoch der Kleine wollte keinen Tropfen. Er wehrte sich matt mit Händen und Füßen und war schon so geschwächt, daß sein Schrei zu einem geringen Winseln geworden war, das seiner Mutter ins Herz schnitt. Sie bestand darauf, ihn auch ferner selbst zu tragen, und an schwierigen Stellen mußte Mandel ihr fortan in ähnlicher Weise helfen, wie sein Schwiegervater der Blinden tat.
Es war ein lahmer Marsch die Graßmatte im Zickzack hinan. Auf dem Sattel des Passes endlich, von dem der Weg noch einmal hinunterstieg, hielt Sinai inne und musterte seine Schutzbefohlnen, die in langer Reihe einer hinter dem andern heraufkrochen. Gott dankte er im stillen, daß noch alle genug Willensstärke hätten, ihre Ermattung zu verhehlen – wenngleich sie in allen Gesichtern stand.
»Denkt an die Eisenbahn«, rief er ihnen zu. »Bald werden wir sitzen und sitzen – nur zu lang – und nichts zu tun haben.« Alle durften sich niederlassen, nur er blieb noch eine Weile stehn und überschaute wie ein Feldherr seine Schar und das Gelände.
Weit genug flog der Blick von hier, er holte ihnen jedoch keine Freude ein. Vor ihnen und zu den Seiten standen die Hochgipfel erbarmungslos, schroff, hart und wild – weder von Menschen noch von Menschenwerk eine Spur. Nahe die westliche Spitze der Swinnica mit ihren fürchterlichen Sturzwänden – prallgrau wie aus Marmor geschliffen! Hinter ihr strebten zackige, finstere Türme wie Überreste eines himmelstürmerischen Riesenbaues hinan. Schneewächten schoben sich trügerisch über Klüfte und Wände vor – zerrissene Gratplatten schienen zu schweben wie listig aufgestellte Fallen für jedes Geschöpf, das sich hinaufwagen würde. Und in den Schluchten, in den Tiefen des Schweigens sitzt der Tod, sinnt und wartet. Es ist, als hätte er von dem gütigen Schöpfer des Ungar- und Galizierlandes das Privileg erhalten, hier sein Fanggerät aufzustellen und seine Gerüste zu bauen. Zwei kleine Seen schauen dunkel und hungrig aus den Gründen herauf; sie geben dem schwindelnden Blick keine Ruhe, sondern helfen noch, ihn zu erschrecken, denn sie bergen in sich die grause Herrlichkeit noch einmal. Und unvermittelt über allem die blaue Himmelsglocke, unter der noch das Goldstaubnetz des Morgens schwebte, flimmernd glitzernd, eine einzige Glorie! Von der galizischen Ebene kam mit dem Windhauch zuweilen ein Summen und Klingen; vielleicht waren es Glocken. Durch die Tannenwälder, die wie die Schleppe eines Königsmantels an den Riesen niederwallten, schwoll es leise herauf wie verstreute Töne eines Orgelliedes. Aber der finstern Majestät wollte es nicht gelingen, durch den königlichen Schmuck ihre Furchtbarkeit zu mildern.
Dies alles war da, und doch war niemand, der es in sein Bewußtsein aufnahm. Die meisten saßen so, daß sie den wundersamen Weitblicken den Rücken kehrten, stützten den Kopf in die Hand, starrten auf ihre Schuhe und hörten nicht auf Laute und Klänge. Wer etwa dachte, der sah vor seinem geistigen Auge das Endziel der Reise. Aber auch dieses nicht in Landschaftsbildern, sondern als den Ort der Vergangenheit und das Land, das den Berg Zion umgab. Diese Vergangenheit war ihnen auch das Kommende. Der dumpfe Trieb verlangte eigentlich nur Wiederkehr des Gewesenen, und dazu war nichts weiter als die Wiederkehr des Volkes nötig. –
Auf gelinden Grasstufen gingen sie hinab und fanden glücklich den Weg ins Hlinskatal. Sinai gab die Astgabel an Mandel und hielt Süßele unterm Arm, sodaß sie zwar halbgleitend doch unbeschädigt hinuntergelangte. Das Veilchenmoos, das in großen Flecken auf den Gesteinstrümmern lag, trug noch ein wenig Feuchtigkeit vom Morgentau und durchduftete den ganzen Talkessel. Hin und wieder ertönte der schrille Pfiff eines Murmeltiers. Als sie diesen Laut zuerst hörten, schauten sie sich nach Menschen um und hofften, wieder Erkundigungen einziehen zu können; doch sobald sie merkten, daß er von Tieren herrührte, achteten sie nicht mehr darauf. Eine Menge Kohlweißlinge, die vom Winde aus der Ebene heraufgeführt worden, gaukelte über dem Mattenhang, und über den Gipfeln schwebte auf gespreiteten Fittichen lange Zeit unbeweglich ein Schreiadler.
Sie sahen ihn noch, als der Pfad seine Harmlosigkeit schon wieder verloren hatte, steil aufwärts führte, sichere Knie und schwindelfreien Blick verlangte. Es war, als beobachtete er die ungeschickten Bergsteiger und lauerte auf ihren Sturz, wie er die junge Gemse belauert haben mochte, deren Gerippe hier bleichte. Etwas abseits vom Pfade ragten die kurzen Röhrenknochen aus einem Steinhaufen. Rubens scharfer Blick hatte sie bemerkt, und Lemberger schenkte ihnen besondere Aufmerksamkeit. Er blieb zurück und Sinai Tulpenblüt sah, daß er die größern Knochen rasch zu einem Bündel vereinigt in seinen Riemensack schob.
Rechts drohten die furchtbaren Steilwände des Hrubo – zur Linken tief unten blinkte der Bach; die Richtung konnten sie nicht mehr verlieren. Nach stundenlangem Steigen kamen sie an eine Stelle, wo der Weg am Abgrunde so schmal wurde, daß ein Ausgleiten zu grausigem Sturz geworden wäre. Klammern waren zur Seite im Fels angebracht. Sinai selbst zögerte, sie zu betreten. Es gab ein Stutzen und Scheuen bei allen. Alle standen still, und die kleine Mannia weinte auf und wollte nach Hause.
Sinai erlaubte ihnen jedoch nicht, lange hinunterzustarren. »Was ist denn? Nu – es sind Berge, ein Weg – hundertmal gegangen! Sollen wir auf Asphaltpflaster gehn im Gebirg?« Und zitternden Herzens setzte er mit seinen Händen Süßeles Füße, leitete ihre Hände von einer Klammer zur andern und flüsterte ihr zu, festzuhalten ums Leben und Adonais zu gedenken. Seine Kinnbacken bebten, indem er sprach. Als sie drüben waren, schaute er jedoch in scheinbarem Gleichmut den andern zu, wie sie einzeln die Stelle stumm und blaß überschritten. Mandel allein legte sie dreimal zurück. Er trug zuerst das Kind hinüber, legte es nieder und kehrte zurück, Rea zu helfen, die bis in die zusammengepreßten Lippen hinein von aller Farbe verlassen war.
Sie hatten nichts von Bergausrüstung. Ihre Schuhe waren ungenagelt und ihre Stäbe einfache Knotenstöcke. Sinai schalt sich, daß er nicht für Nagelung gesorgt hatte. Ach – er hatte nicht gedacht, daß das Gebirge so schaurig sei – nicht, wie es sein würde, eine Blinde und siebenjährige Kinder hindurchzuführen. »Gott Einiger, begnade uns zum Leben!« murmelte er, als abermals eine Wegstelle mit Ketten und Klammern vor ihnen lag – ausgedehnter noch als die eben überstandne.
Die kleinen Kinder weinten jetzt alle laut, klammerten sich an Vater oder Mutter, und selbst Ruben Levy, der Zwölfjährige, winselte: »Es geht nicht – wir wollen alle umkehren.«
»Ja es ist das beste, wir kehren um«, sagte zu des Alten Entsetzen jetzt auch die Stimme eines Erwachsnen.
»Ruben, willst du deinen Segen verlieren?« Sinai legte seine Hand dem großen Jungen auf den Kopf. »Feiwel, habt Ihr wieder Lust zu Euerm vorigen Leben?«
Jetzt aber redeten noch mehrere andre und in bestimmterm Ton. »Wir hätten sollen außen um die Berge gehn, wenn wir auch gebraucht hätten zwei Tage mehr. Wir wollen noch – kommt, wir gehn zurück.«
»Vielleicht hätten wir sollen – aber jetzt geht es nicht mehr«, rief der Alte. »Haben wir nicht das meiste überstanden? Soll alle Müh umsonst sein – alle Zeit verloren? Noch eine Stunde oder zwei, dann sind wir auf dem Joch oben. Danach gehts immerfort hinab. Ich bitt euch, laßt uns keine Torheit in Israel begehen.«
Die Gegenmeinungen wuchsen aber zu lautem Murren an. »Er bringt uns ins Unglück. Es wird uns vorbestimmt sein, an der Straße zu sterben. Warum sind wir weggezogen?« – »Wir sind geschaffen für die Erde und nicht für die Luft.« – »Haben wir dazu das Leben behalten unter Raubmördern, daß wir es verlieren sollen in den Bergen? Diese Berge hat der Einige nicht bestimmt, daß sein Volk darauf gehn soll – das sieht ein Kind.« Lemberger war einer von den zornigsten. Endlich lenkte einer mit grimmiger Fassung ein: »Reb Sinai hat es gesagt, daß er uns hinführen will – nun laßt ihn zusehen. Er wird unsre Seelen zu verantworten haben, nicht wir.«
Tulpenblüt lehnte die Verantwortung nicht ab und ließ ruhig die Vorwürfe seinen grauen Kopf umschwirren. Es stand ihm felsenfest, daß man vorwärts mußte. Ebenso selbstverständlich war es ihm jedoch, daß er mit seinem Weibe überall ein gutes Beispiel geben mußte. Und ihre wunderbare Zuversicht stand ihm bei. In festem Vertrauen und nachtwandlerischer Sicherheit setzte sie ihre Schritte – den Abgrund sah sie nicht.
Er fand die Kraft wieder, sie und sich hinüberzubringen. Und nur sie hörte es, daß er dabei leise vor sich hinsprach: »Begnade uns! Vor einem halben Jahre hätte ich den gebenscht, der mich niedergestoßen hätte – aber jetzt nicht sterben! Noch zwei Monate gib uns!«
In Ängsten überwanden auch die andern langsam die Stelle, und für eine Weile konnte man aufatmen. Nun folgte ein steiler Aufstieg über eine Trümmerhalde. Es war harte Arbeit, Süßele und die kleinen Kinder dort hinaufzubringen. Oftmals rutschte jemand mit dem losen Geröll abwärts, bis er von einem größern Block aufgehalten wurde. Die Blinde ging wieder in der Gabel und wurde außerdem von Ruben Levy als Wegweiser an der Hand geführt. Da schämten sich die andern ihres Murrens.
Dicht vor ihnen lag das Koprovajoch – nur daß ihnen die Entfernungen vorweg noch immer zu gering erschienen. Ach – hatte man denken können, daß das Wanderkärtchen, das Sinais beide Hände zudeckten, eine so weite – weite Steinwüste bedeutete? Er staunte, daß er selbst, daß Süßele, daß die Kinder – die Frauen und Alten noch immer vorwärts kamen. Die Seelenkraft mußte es sein für die Erwachsnen – die offenbare Zwecklosigkeit des Weinens für die Kinder! Er umfaßte Süßele fest, endlich trat er mit ihr auf die oberste Stelle und winkte zurück. Ein scharfer, kalter Luftzug strich hier um die erhitzten Gesichter. Als alle oben standen, war das erste jedoch, daß sie sich rasch niederkauerten, denn der von einem Trümmerkamm gebildete Bergrücken war so schmal und scharf abgerissen, daß er kaum für alle Platz bot. Niemand durfte in den aufgesperrten Todesrachen hinuntersehen. Sie sahen einander an, um etwas Trauliches zu sehen, oder schauten nach oben.
»Wir wollen uns ein Stück herunterlassen«, sagte Sinai. »Man kann nichts essen, wenn man so in die Tiefe sieht; es ist, als ob die Berge schwimmen.« Sie suchten den Abstieg auf der andern Seite und fanden nach einigen Metern eine Stelle, wo sich der Raum etwas breitete und man hinter Felsblöcken sitzend Höhe und Tiefe vergessen konnte. Hier umgab sie endlich fast etwas wie Behagen: sie hatten Windschutz, und einzelne Pflänzchen schmückten den Ort, Steinbrech und die kleine Alpenranunkel, derb und niedrig.
Nun aßen sie wirklich und ließen sich Zeit zu ruhen, nur daß Sinai, um keine zu arge Erschlaffung einreißen zu lassen, immer wieder ein Gespräch anfing. Plötzlich zeigte er auf eine ziemlich nahe Klippe, auf der oberhalb eines Schneefeldes zwei Gemsen zu äsen schienen, obwohl kein Gras daran haften konnte. Sie waren deutlich erkennbar – es waren noch mehr – es war ein ganzes Rudel. Bald trennten sie sich – bald vereinigten sie sich wieder zu einer Gruppe. Ein Tier begann plötzlich ein Rennen, das sich beständig steigerte. Auf gleicher Linie folgte ihm ein andres, ein drittes und mehr. Es schien mehr ein Fliegen zu sein als ein Laufen. In zwei bräunlichen Streifen schlängelten sie sich hin und her – bald auf Felsen, bald in der Luft; man unterschied die einzelnen Tiere nicht mehr. Kleine Steine – von ihren leichten Hufen in Bewegung gesetzt – prasselten in die Tiefe. Aber auch Schnee hatte sich gelöst, eine kleine Wächte war abgebrochen und riß kleine und große Blöcke in ihren Sturz mit hinein. Aus der Tiefe dröhnte es herauf, und von den Wänden und Schründen kam ein rollender Widerhall – die Gemsen aber waren erschreckt verschwunden.
»Gott mach uns auch kräftig und geschickt«, sagte Sinai bewundernd. »Kann er es nicht, wo doch dies nur eine unvernünftige Kreatur ist – und wir haben Verstand vor allen!?«
»Wenn wir nicht hätten, müßte die Welt zugrunde gehn«, bestätigte Mandels Vater.
»Sprich uns das Lied des Heiligen, das du im Cheder Polnische Judenschule gelernt hast, Ruben: Die du aus der Hand Jehovas den Becher seines Grimms getrunken – Wache auf – wache auf! Kleide dich, Zion, in deine Macht! Kleide dich in deine Prachtgewänder, Jerusalem, du heilige Stadt!«
Der Knabe stand auf, bedeckte den Kopf, um den er vorher den Wind hatte spielen lassen, und sprach in den klangvollen Lauten seiner Volkssprache unbefangen die erhabnen Verse. Nur ein Jahr trennte ihn noch von dem Zeitpunkt, wo er ein »Sohn des Gesetzes« werden und in einem öffentlichen Vortrage seinen reifen Glauben dartun mußte. Als er mit den Worten schloß:
Wie gilt kein Gut mir so hoch, denn den Staub
Zu schaun der Stätte, wo der Tempel stand –
nickte Sinai ihm zu, und seine Angehörigen schauten befriedigt drein. »Gott erhalt euch euer Kaddisch«, sagte der Alte zu den Eltern, und dabei röteten sich seine entzündeten Augenlider noch mehr. »Ruben, du sollst in alter Weise im Tempel dienen.« Ihm selbst war ein Sohn versagt geblieben. Auf der Tochter Söhnchen stand seine und Süßeles Hoffnung, daß er dereinst auch seiner Großeltern Jahrzeit halten werde.
Schimmehle aber lag still und schwach in den Armen seiner Mutter und verweigerte jede Nahrung. Mandel hockte mit verhaltnen Tränen daneben und stützte die Stirn auf die Faust, um sich nicht ansehen zu lassen. Rea weinte nicht, sie saß starr und düster, und bei dieser Rast ging ihr die Erkenntnis auf, daß – wenn nicht ein Wunder geschah – sie ihr Kind nicht lebend aus den Bergen bringen werde. Aber weil ihr niemand helfen konnte, verbarg sie ihre Angst. Wäre Süßele sehend gewesen, so hätte dieses Unterfangen nicht gelingen können, nun aber machte Rea den Ton ihrer Stimme stark, nahm ihr Teil Brot aus der Hand der Blinden und würgte sogar einen Bissen hinunter. Mandel hatte ein Tuch für sie ausgebreitet. Sie verwandte es noch zur bessern Einhüllung des Kleinen in der schwachen Hoffnung, daß Wärme ihm helfen könne.
Über den Schluchten woben Geisterhände einen zarten Schleier; die Grate oberhalb davon wurden dunkler und schienen einander nähergerückt. Von Süden kamen kurze, kalte Windstöße, und die Feuchtigkeit, die er herauftrieb, prickelte die Haut und begann in die Kleider zu dringen. Der Alte beachtete aufmerksam die Wetterzeichen, wußte aber nichts von der Bedeutung, die ihnen im Gebirge innewohnt.
Menschenstimmen drangen nach mehrstündiger Einsamkeit jetzt wieder zu ihnen, und gleich danach kam um eine Ecke her ein Tourist mit einem Führer in Sicht. Sie betrachteten erstaunt das israelitische Lager, und der Herr stand still, als Sinai ihn um den Weg ansprach. Er gab freundlich Auskunft und riet, bald aufzubrechen, da das Wetter dick werde und es möglicherweise noch schneien könne. Der Führer, dessen kühnes Profil und sonnverbrannte Haut ihn einem Indianer ähnlich machte, spottete stumm mit den Augen.
»Was ist es denn, was man sieht von hier – als Se wollen a soi gut sain«, fragte Mandels Vater, der sich ebenfalls manchmal des Weges annahm.
»Dort ist die hintere Bastei – die Tycha – die Kopa. Dort das Wildererjoch. Nun den Weg dort hinunter. Eilen Sie mit Vorsicht!« Der Herr berührte den Hutrand und ging weiter. Der Führer aber kehrte sein dunkles Schalksgesicht noch einmal zurück und zeigte irgendwo in die graue Luft, indem er rief: »Und dort steht der Satan!« Damit sprang er seinem Herrn nach.
»Gott soll uns beschützen! Wo – wo?« Die kleine Mannia schrie auf, und Süßele reckte den Arm empor.
»Was meint der Herr Wohltäter – wo – wieso?« rief Sinai und hastete hinterher.
Der Mann lachte nun und rief: »Dort – dem Berg hat man den Namen gegeben.«
»Ich war erschrocken, ich dank Ihnen«, murmelte der Alte, kehrte atemlos zurück, lehnte sich an den Fels und schloß in einer Anwandlung von Schwäche die Augen. Nach einer Minute sagte er milde: »Oft hat Satan wider Israel gestanden! Und wie er Hiob versucht hat – wir sind der Hiob der Welt.«
»Es müssen Leut auch ihre Freude haben«, ergänzte Süßele mit leiser Bitterkeit. Nun saßen sie ein Weilchen in voller Ruhe.
Als sie ihre Sachen zusammenzulegen begannen, kam noch ein einzelner Herr herauf. Er ging so beschwerlich, als habe er sich verletzt; bald zeigte sich aber die Ursache in einer halb abgelösten Sohle seiner Bergschuhe. Er blieb stehn und schaute die Judenschar an, bestätigte die schlechten Wetteraussichten, sah das trockne Brot, an dem Ruben noch kaute, und gab ihm aus seinem Rucksack ein Stück Wurst dazu. Dann pickte er mit seinem Stock auf ein Gepäckbündel und fragte, ob vielleicht jemand ein zweites Paar Schuhe mitführe und für den doppelten Einkaufspreis ihm überlassen wolle. Niemand war so reich, Lemberger aber zog eilfertig einen seiner guten neuen Wanderschuhe aus und stellte ihn dem Touristen vor die Füße. »Wenn Se se wollen vor 35 Kronen – und Ihre in Tausch. Soll ich gesund sein! – ich kanns nicht billiger – und ich kann nicht gehn mit nackte Füß.«
»Das solltet Ihr nicht tun, Reb Lemberger«, warnte Sinai erregt – es war aber vergeblich. Der Schuh paßte, und der Tourist – froh über die glückliche Wendung seines Mißgeschicks – vollzog rasch den Tausch unter der geforderten Bedingung. Dann eilte er in sehr beschleunigter Gangart weiter.
»Ihr werdet dieselbe Plage haben – und wir müssen noch weit«, stieß der Alte hervor. »Es war kein Geschäft.«
»Werde ich wissen, was ein Geschäft ist. Ich bin ein armer Mann und muß es machen, wo es sich findet. Mandel, wirst du mir heften die Sohle mit ein paar Stichen?«
Der junge Mann schwieg beschämt und ärgerlich, holte jedoch Zwirn und Ahle aus seinem Ranzen. Man konnte nicht lange warten, und notdürftig gebessert wurde der Schuh von Lemberger angezogen, während Sinai das Wurststück Ruben aus der Hand riß und es über den Hang schleuderte. »Übers Jahr wirst du allein wissen, was trefe Speise ist! Noch müssen die Alten für dich denken.«
Jetzt ging es in steilem Abstieg auf losem Boden hinab. Unter Süßeles Tritt gab das Geröll nach. Sie konnte sich nicht halten und glitt abwärts, bis sie sich auf grasbewachsner Halde mit den angstvoll um sich greifenden Händen festklammern und wieder Fuß fassen konnte. Zitternd mußte sie sich von dem Schreck erholen.
Der Himmel wurde nun einförmig grau, und der kalte Wind fegte mit solcher Gewalt vom Tal herauf, daß man zuweilen stillstehn und sich festhalten mußte. Allein nicht lange durfte das geschehen, dem Wetter mußte getrotzt werden, wollte man die Hütte am Poppersee vor Dunkelheit erreichen. Weiter rechnete der Alte nicht mehr, obwohl er anfänglich in Unkenntnis gehofft hatte, eine der am Südabhange gelegnen Ortschaften zu gewinnen.
Plötzlich sah er ein weißes Sternchen auf seinem Ärmel und noch eins – ein feines Sprühen von weißen Sternchen. Das Herz entsank ihm. Wie wollte man vorwärts kommen, wenn noch Glätte hinzukam und Schnee die Wegmarken unkenntlich machte?! Ihm bangte vor dem Augenblicke, wo die andern die Gefahr bemerken würden, und er strebte mit Süßele stumm voran. Selten schaute er nach seiner Tochter zurück, für sie und für das Kind mußte Mandel, der junge, kräftige, einstehn. Er konnte nicht helfen. Die Not beschränkte jeden auf sich selbst, Süßele aber war sein eigen Ich. Lemberger erprobte nun schon, was er ihm warnend vorhergesagt hatte; er hockte weit zurück am Boden und umwickelte seinen Schuh mit Bindfaden. Mandels Werk hatte keine Stunde gehalten.
Hier und da flatterte ängstlich ein Schmetterling im vergeblichen Verlangen, sich in der Luft zu halten.
Nun hatten auch die andern die Vorboten des Schneetreibens gesehen, und Sinai Tulpenblüt fühlte daß sich finstere Blicke auf ihn richteten, als habe er auch diese Himmelserscheinung angezettelt. Vom Zurückgehn sprach niemand mehr – es wäre jetzt heller Wahnsinn gewesen.
»Es wäre besser für uns, wir wären schon im Tal«, gestand er demütig ein. »Am Fluß können wir dann nicht fehlen.«
»Es wäre besser, wir wären in Rußland geblieben«, versetzte eine mitteljährige Frau und setzte sich entschlossen auf einen Stein, »dann wären wir im ›guten Ort‹ gelegen. Wer wird uns hier begraben? Ich kann nicht mehr.«
»Wir müssen weiter. Es kommt alles darauf an, daß wir uns bald hier herausmachen.«
Süßele aber rief zurück: »Adonai wird uns hindurchbringen. Er hat in Rußland unser Geschrei gehört und wird uns hier nicht verderben. Setzt nur eure Füße genau in unsre Spur.«
Denn schon spurte der Schnee, und der Fall wurde dichter. Sinai überhastete sich, und Süßele sandte mit fieberhafter Anspannung alle Schärfe ihrer übrigen Sinne in Füße und Hände hinein. Der Wille hielt sie aufrecht über alles hinaus, was möglich schien. Sinai staunte, wie sie ein rasches Vorahnen für den nächsten Tritt hatte, wie sie geschmeidig geworden war und auf den Druck der Gabel – auf die Berührung seiner Hand gehorchte. Es gab im Zuge mehrere, die sich von der Blinden beschämen lassen mußten.
»Wir wollen ein Sterbelager unterm Dach. Wenigstens das haben wir in Rußland gehabt! Wir haben nicht gemeint, daß wir zwischen Steinen liegen würden für die Geier. Das ist auch nicht gehört in Israel, Reb Tulpenblüt, Ihr macht es zuerst.«
Wieder gab Süßele die Antwort. »Weil es noch nie gewesen ist, wird es auch nicht sein. Gott denkt keine neuen Plagen für sein Volk aus. Es werden nur die alten bleiben, bis sie ganz aufhören. Haltet noch ein wenig aus.« Aber auch Süßele spürte das Dichterwerden der feuchten Flocken, und als sie meinte, fern genug von den andern zu sein, redete sie ihrem Manne leise und eindringlich zu, sie zurückzulassen.
Er sollte die andern vorübergehn lassen und dann ohne sie ihnen nachfolgen. Sie sei nur ein Hindernis. »Ich werde sanft einschlafen, und der Schnee wird mich begraben, bis Menschen es tun. Es ist besser, eine kommt um als alle. Ich sehe dann Meschiach hier nicht mehr, aber ich werde ihn bringen. Viele sind hinübergegangen und wollten ihn bringen und haben es vergessen in der Ruhe der Ewigkeit. Ich werde es nicht vergessen. Laß uns nun stillstehn!«
Sie mußte sich jedoch sagen lassen, daß er sie niemals lebend zurücklassen werde, und daß sie im Gegenteil durch ihr Beispiel notwendig für alle sei und die andern ebensosehr führe wie er selbst. Und darauf wurde sie sogleich noch ein wenig schneller und geschickter.
»Wenn wir aber in zehn Minuten nicht den Bach finden, werde ich den Weg nicht mehr erkennen können«, vertraute er ihr ebenso leise an. »Der Schnee ist feucht und klebt sich an die Steine; kaum daß das Rot noch durchsieht. Es muß ein großes Holzkreuz am Wege sein, nicht weit von da, wo es zum Bach hinuntergeht. Es ist gesetzt zur Erinnerung an einen Bergführer, der dort umgekommen ist, als er im Schnee suchen wollte Verlorne. Wenn wir das finden, sind wir richtig. Dort können wir auch etwas ausruhen, vielleicht kommen noch mehr Leut dahin und können uns helfen. Helft alle schauen nach dem großen Holzkreuz!« rief er rückwärts. »Braucht eure Augen, es ist ein Wegzeichen für uns.«
Er hatte kaum gesprochen, als Ruben es schon entdeckt hatte und hinabwies. Nun sahen alle die dunkeln Umrisse in der immer heller werdenden Umgebung. Es bedurfte nur noch einiger Minuten des Abwärtssteigens.
»Vater!« keuchte dicht hinter Sinai plötzlich Reas Stimme. »Weiter können wir dann nicht – das Kind stirbt!«
Der Alte bog stumm seinen Nacken, wie unter einem Schlage, und wagte sie nicht voll anzusehen. Aus seinen rotrandigen Lidern blickte er scheu von unten auf, sah aber nicht in das Bündel, das sie trug, und blieb auch nicht stehn. »Wir werden tun, was wir können, wir sind in der Not, wir alle! Deine Not ist groß – unser aller Not ist groß. Wir aber werden leben.«
Sie sah ihn groß an, wandte sich nach ihrem Manne um und fiel in seine Arme. Er fing sie mitsamt dem Kinde auf.
Sinai Tulpenblüt sah nicht zurück. Er bückte sich nach Süßeles Füßen und griff abwechselnd nach ihren Händen und strebte unaufhaltsam weiter. Wer sollte ihm und seinem alten Weibe helfen, wenn nicht er selbst? Rea gehörte zu ihrem Manne, und er zu ihr! Sie mußten alle durch – so oder so; er und seine Süßele kämpften um ihr ewiges Heil. Sein hageres Gesicht wurde hart und scharf, seine Äuglein schossen umher wie die eines geängsteten Vogels. Sein Atem ging schwer.
Er wußte nicht, wer folgte, oder ob jemand liegen blieb. Er erreichte den mächtigen Eichenbalken mit dem Querholz, strich von der darunter hergerichteten Steinbank den Schnee und sank ächzend neben Süßele darauf nieder. »Es ist das Zeichen des Gehenkten, aber wir können nicht mehr.«
Sie lehnte den Kopf an den Stamm. »Es ist alles gleich, der Einige wird es uns nicht zurechnen. –«
Dann kamen einzeln die andern zwischen den Felsen hervor; Rea spät – und von Mandel gestützt, der auch das Kind trug. Nun waren auch aus seinem Antlitz Mut und Kraft und der letzte Blutstropfen gewichen. Sie ließen sich alle auf den umgebenden Steinblöcken nieder. Nur Mandel legte vorher das Kind wie in stummer Anklage in Sinais Schoß. Es war tot. »Da habt ihr euer und unser Kaddisch.«
Von Süßeles Lippen kam ein wimmernder Laut. Sie tastete mit bebenden Fingerspitzen nach des Kindes Gesicht, nach seinen Füßen, lauschte an seinem Munde, an seinem Herzen. Nichts! Ihre Augen hatten das Weinen verlernt, jedoch ihr Oberkörper sank haltlos über das Bündel.
Da griff Sinai in das Unterfutter seines Kaftans und riß einen langen Schlitz hinein. Danach ließ er seine Hände auf der Brust liegen, stand auf und wandte sich ab. Allen kehrte er den Rücken zu, indem er sich nach Osten wandte. Er schlug mit den Fäusten an seine Brust und breitete die Hände wieder aus. Er bückte sich tief und hob wieder das Gesicht zum grauen Himmel empor. Er war ganz aufgelöst in Beten und Beichten. Seine Seele sprengte jede Formel, er brauchte keinen Priester, kein Opfer und keine Zeremonie. Die tiefe Zerknirschtheit seines Gesichts, die gewaltsam leidende Innerlichkeit, die tiefen Stirnfurchen, der gebogne Nacken, die Körperhaltung wie unter einem zermalmenden Gewicht; das alles hätte keines allwissenden Auges bedurft, um verstanden zu werden. Es war des Alten Totenklage, der Misrach Tafel, die in frommen Judenhäusern dem Beter zeigt, wo Osten liegt. aber, auf den sie hingewandt wurde, war die Geröllhalde des Trümmertals.
Von den andern sah und hörte er nichts. Als er sich wieder umwandte, legte er flüchtig seine Hände auf Reas und auf Süßeles Scheitel. Die Blinde vermochte der Bitterkeit ihres Schmerzes nicht mehr abzuringen als die düstern Worte: »Der hundertäugige Todesengel hat das Kind auch zwischen den Bergen gefunden.« Rea saß hintenübergesunken und lehnte mit geschlossenen Augen und erhobnem Gesicht an ihrem Manne, sodaß die Schneeflocken ihre tränenlos brennenden Augen kühlten. Auch Mandels Rock war über der Brust eingerissen. Seine Mutter stand schweigend auf und nahm das Kind, das auch ihr Enkelkind war, von Süßeles Knien, um es ebenfalls zu halten und zu betrauern. Niemand sprach ein Wort.
Unten begann der graublaue Bach durchs Tal hinunterzuspringen, um das Verlieren des Wegs brauchte man sich nun nicht mehr zu sorgen. Die nächste Hütte mußte in zwei Stunden zu erreichen sein.
Nach einer Weile stand Sinai wieder auf, holte seine Gebetsriemen aus seinem Gürtel, legte sie um Stirn und Handgelenk und las aus dem Gebetbuche der Synagoge, das er dem Gepäck entnahm, die Stelle, die für den großen Versöhnungstag vorgeschrieben ist: »Der Messias der Gerechtigkeit ist von uns gewichen. Schrecken hat uns ergriffen, und niemand ist da, der uns rechtfertigt.
Unsre Vergehungen und das Joch unsrer Sünde trägt er.
Er ist durchbohrt von wegen unsrer Sünden,
Auf seinen Schultern trägt er unsre Schulden,
Damit er Vergebung für unsre Sündenschuld finde.
Durch seine Wunden wird uns Heilung.
O Ewiger – es ist an der Zeit, als neue Schöpfung ihn zu schaffen!
Vom Erdkreis führe ihn herbei – aus Seir Römisches Weltreich. laß ihn sich erheben, daß du uns zum zweitenmal durch ›Jinon‹ auf dem Berge Libanon hören lassest: Ich der Herr bin euer Gott!«
So sprach er, und alle sprachen die letzten Worte mit ihm. Das war die Inbrunst, die in den Synagogen Rußlands gen Himmel zittert. –
Die Stelle, wo die Sonne hinter dem Schneegrau ihren Standort verriet, war dem Horizont nahe. »Wir gehn weiter!« rief Sinai. Man hatte den Kindern Brot gegeben, von den Erwachsnen wollte niemand essen. Als man Umschau hielt, wurde Lemberger vermißt. Schon sollte jemand zurückgesandt werden, als er mürrisch auf seiner sperrenden Sohle herangeschlürft kam. Der Bindfaden war gerissen und mußte ersetzt werden, denn Mandel hatte für seines Vaters Plage jetzt nicht Ohr noch Augen.
Mandel trug sein totes Jüngel. Wie eine wandelnde Leiche ging Rea ihm zur Seite. Die kleine Mannia Selig aber sagte, sie möchte auch tot sein und getragen werden. Süßeles Weg war ein stetes Gleiten, Stolpern, Taumeln und Wiederaufstehn. Noch einmal sagte sie: »Laßt mich zurück – bringt euch in Sicherheit. Gebt mir das Kind in den Arm und geht.«
»Ich gehe, solange du gehst – und du, solange ich«, war Sinais Antwort. »Wir werden verderben zusammen oder hinkommen zusammen.«
Beim Eintritt der Abenddämmerung standen sie vor der Schutzhütte am Poppersee und hätten niedersinken können im Bewußtsein, von Menschen bemerkt zu werden. Aber Süßele konnte jetzt noch ein übriges tun. Sie tastete sich an Rubens Hand hinein, wo sie Stimmen hörte, riß ihre weißlichen Augen weit auf und sprach aufs Geratewohl hinein: »Ich bitt euch sehr – nemmt mirs nicht for übel – mer sennen nebboch arme Lait. Gebe se uns a Obdach for de Nacht.«
Eine verdrießliche Frauenstimme antwortete: »Ein Obdach – wir haben das ganze Haus voll Fremde – auf den Bänken schlafen sie. Gehn Sie weiter nach Felsö Hagi. Da kommen Sie noch vor der Nacht hin, wenn Sie eilen.«
»Mer können nicht mehr, mer sind am Umfallen, gehn seit drei Uhr früh. Gewe Se uns eine Stelle unterm Dach zu liegen, daß wir nicht müssen derfrieren.«
»Ich sage Ihnen – das Haus ist voll bis unters Dach.«
»Tommer haben Se eppes wie a Stall oder a Schuppen«, flehte Süßele weiter. »Wir bekennen uns alle auf Adonai, Frauleben.«
Die Stimme antwortete nicht gleich, sie hatte Befehle auszuteilen und Fragen zu beantworten. Dann schien die Frau in einen andern Raum zu eilen.
Süßele stand eine Weile mit ausgestreckten Armen. Plötzlich fühlte sie ein Geldstück in ihre Hand gedrückt. Es schien von einem Herrn zu kommen, aber er sprach nicht dabei. »Gebenscht sollen Se werden!« schluchzte sie auf. Da fühlte sie auch einen Stuhl von rückwärts gegen ihre Knie geschoben, und zwei Hände drückten sie darauf nieder. Dabei sagte eine männliche Stimme: »Die Frau Wirtin wird Ihnen bald Antwort geben – sie hat zu tun.«
Endlich kam in hastigen Worten die Zusicherung, daß Süßele mit ihrer Schar in einem Feuerungsschuppen neben der Baude übernachten dürfe. Ein kleiner Hausknecht lief hinaus und wies ihnen die Stelle an, und die Blinde schleppte sich an Rubens Hand ihm nach.
Drinnen war es kalt, aber trocken, zwischen den Brettern sah man den Abendhimmel. Sie zogen die Decken aus ihren Bündeln, breiteten sie über Holz und Kohle und sanken darauf nieder. Niemand sprach von Essen, denn die Ermattung war noch größer als der Hunger. Einige Kinder wimmerten leise – Rea hielt das tote auf ihren Knien.
Mandel lüftete das Tuch, das das Gesicht halb verhüllte, und bückte sich tief darüber. »Schimmehle, mein Jüngel!« flüsterte er. Ein schwarzer Waldfalter hatte unter der Decke Zuflucht gesucht und saß auf dem Kopf des Kleinen, die Füße in den dunkeln Härchen verklettet. Er riß ihn mit Abscheu weg und legte seine Stirn auf das kalte Gesichtchen.
Noch einmal fiel der Abendschein voll durch die Tür. Der Hausknecht kam mit einer großen Kanne voll gesüßtem Tee. Ein Herr ohne Namen schickte das.
Am andern Morgen war ums Aufwachen keine Not, denn niemand als die Kinder hatte geschlafen. Das Frühlicht fand die kleine Leiche in Mandels Arm. Rea lehnte neben ihm und hatte den Kopf an seiner Schulter. Sinai und sein Weib saßen bei ihnen und hatten schon mit ihnen geflüstert, als sich die andern regten.
»Was soll werden mit euerm Kind?« fragte nun auch Lemberger, der sich eine blutende Zehe verband. »Bis zum nächsten guten Ort werdet ihr es bringen müssen.«
Mandel antwortete nicht; er wollte seinem Vater nicht widersprechen. Und Rea war zu matt.
»Nu – wie haißt? Wollt ihr es hier begraben?«
Da antwortete Sinai: »Wir werden es noch weiter mitnehmen. Wir werden es ganz mit heimnehmen, denn es ist ihm versprochen worden.«
»Seid Ihr nicht gesund – Reb Sinai? Ganz mit heim? In der Bahn – über die Grenz – wochenlang wollt Ihrs bei Euch behalten? Wo wir uns selbst nicht mehr tragen können?!«
»Konnten wir es tragen lebend, kann ich es auch tragen tot«, versetzte nun auch Mandel bestimmt und richtete sich auf. »Wäre er vorher gestorben. Aber da er mit uns ausgezogen ist, soll er mit uns heimkommen.«
»Ich wollte ihn wohl tragen, aber ich kann nicht« erklärte die Blinde zustimmend. »Sie wollen ihn nicht lassen betrogen sein – und sie haben recht.«
»Gott erhalt uns allen unsern Verstand!« war alles, was Lemberger hierauf zu erwidern wußte. »Wie wollt ihr einen Kasten schaffen – eine kleine Kiste, ihn hineinzulegen? Hier müßt ihr sie schaffen – jetzt gleich.«
Süßele erhob sich. »Ich will noch einmal bitten. Führ du mich, Rea – in das Haus hinein.«
Drinnen erhob sie wie gestern ihre Greisenstimme: »Haben Se nicht eppes wie a alten Kasten von Holz oder Blech? Schenken Sies uns – uns ist ein Kind gestorben! – daß wirs darin fortschaffen! Es ist noch nicht jährig. Mer sennen nebboch arme Lait.«
Sie hatte wieder das Glück, Eindruck zu machen, heute noch mehr, als am Abend. Die Wirtin hatte jetzt mehr Zeit, sie anzuhören, und wenn sie auch nicht ganz verstand, welche harte Schickung es für so arme Leute war, ein kleines Kind zu verlieren, so dauerte die Blinde sie doch. Sie suchte hinter dem Hause in einem Haufen weggestellten Packgeräts und kam mit einem länglichen Blechkasten, der für Konserven gedient hatte, und mit einem Stücke sauberer Leinwand zurück.
Sie wickelten die kleine Leiche in diese, und Sinai Tulpenblüt sprach dabei: »Möge seine Seele im Bündel der Lebendigen eingebunden sein mit den Seelen Abrahams, Isaaks und Jakobs.« Als sie sie in den keinen Blechsarg legten, fand Rea die ersten Tränen. Mandel hob den Kasten am Riemen auf seinen Rücken und ließ ihn fortan nicht mehr von sich.
Mit schmerzenden Gliedern zogen sie den Popperfluß abwärts, bis sie ihn links lassen mußten, um nach Csorba zu gelangen. Sie empfanden alle einmütig, daß es keine entferntere Bahnstation sein durfte.
Als sie im hellen Sonnenschein aus dem Walde kamen, begegneten ihnen Touristen, sahen sie erschreckt an, gingen stumm und ernst vorüber und schauten ihnen nach. Fahl, schmutzig, ausgemergelt – die engbrüstigen Gestalten gebückt, die scharfen Gesichter von Gram, Angst und Not gefurcht, zogen sie daher wie leibhaftige Tagesgespenster; auch die Kinder wie Gespensterlein junger Menschenblüten. Ein Trupp Zigeuner brach am Klothildenwege aus dem Gebüsch, um für ein Almosen im Sande der Straße zu fiedeln und zu tanzen. Beim Näherkommen des Zuges aber ließen die Männer ihre Geigen sinken, und die zerlumpten Buben brachen ihren Csardas ab. Hier war nichts zu nehmen und die braunen Vettern schauten scheu einander an. –
Von der Eisenbahn – als der Zug ins Poprádtal hinabsank – schauten sie auf die Gipfel zurück. Fast unglaublich schien es ihnen, daß sie diese Schrecknisse durchkämpft hatten, ohne mehr als das eine Leben einzubüßen. Sie krochen schaudernd in sich zusammen, während sie zu Tal flohen, aber die Riesen reckten sich und sahen ihnen nach.
In Budapest gewährte ihnen die Allianz gute Herberge für eine Nacht und neue Geldunterstützung. Sie konnten in der Eisenbahn nun genug sitzen. Sinai mühte sich, Mut und Hoffnung neu zu beleben, denn der Gram tötet, sie aber wollten heimgelangen. Während der Zug der serbischen Grenze zurollte, erzählte er den Großen vom Aufblühen Palästinas und den Kleinen von dem fabelhaften Fluß Sambatjon, der sechs Tage lang fließt und am siebenten ruht. Sein grauer Kopf richtete sich dabei kräftiger empor.
Ein Mitreisender, der nicht Jude war, hörte ihm still zu, holte ein winziges Buch aus seiner Tasche und bat ihn aussteigend, es zu behalten. Was war dem Manne? War er ein wenig meschugge? Aber auf welch freundliche Art! Er sah Sinai zum Abschied in die Augen und sagte: »Israel – es müsse wohl gehn denen, die dich lieben!« Das Wegzeichen, unter dem sie sich zuletzt im Schnee gesammelt hatten, war auf dem Einbande zu sehen. Sinai Tulpenblüt wog das Buch unschlüssig in der Hand, als aber Lemberger es haben wollte, um es gelegentlich zu verkaufen, schob er es rasch in sein eignes Bündel.
»Den Segen von unserm König David hat ein Fremder uns mitgeben müssen,« rief er den Gefährten im Wagen zu, »und in unsern Taschen ist Geld genug von den Großen und Vornehmen unter den unsern – der Ewige soll es ihnen lohnen! – Geld genug, um heimzukommen. Und da noch wollen sie uns weiterhelfen! Woran soll es uns jetzt fehlen?«
Auf der vorletzten Station stieg Mandel mit seinem Blechkistchen aus. Er wollte in der Nacht heimlich die Grenze überschreiten, und drüben sollten die andern ihn wieder erwarten.
Es hinderte ihn niemand, seine Straße zu ziehen, und niemand – als die Dunkelheit hereinbrach – querfeldein zu gehn – Stunden und Stunden über Stoppel und Sumpf; aber er hatte mehr Zeit gebraucht, als er gemeint hatte. Als die Sterne verblichen, legte im ersten Dämmerschein der Grenzjäger auf einen jungen Juden an, der des Tabakschmuggels dringend verdächtig, sich auf den Anruf rennend und springend davon zu machen suchte. Die Kugel konnte ihn jedoch nur gestreift haben, denn es gelang ihm, mit seiner Konterbande in unvermindertem Laufe den Wald zu erreichen.
Es gelang ihm auch im vollen Tageslicht – bald auf Umwegen einer Gefahr ausweichend, bald im Versteck sie vorübergehen lassend – die Gefährten seiner Leiden und seiner Hoffnung an der verabredeten Stelle wiederzufinden und in ihrer Gemeinschaft mit seiner Bürde die Reise in die alt-neue Heimat fortzusetzen.
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