Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In der dämmerigen Frühe des 24. Dezembers, der auf einen Freitag fiel, rüstete der alte Meyer Pinkus wieder seinen Tragekorb, um die kleine Tour auf die Dörfer zu gehn. Der Handel blühte so herrlich in den Wochen vor Weihnacht, daß es jammerschade gewesen wäre, nicht auch noch diesen letzten Tag zu benutzen, obwohl Pinkus nicht der stärkste war und sich vom langen Schleppen des schweren »Packens« schon sehr angegriffen fühlte. Es kam dazu, daß er schon immer zwei Tage der Woche verhindert war, diesem Erwerb obzuliegen, denn am Sonntag verboten ihm die Behörden das Hausieren, und am Sabbat tat es sein Gewissen. Doch hatte er mit diesem für die Zeit vor dem Fest eine Übereinkunft geschlossen, wonach es am Sabbatmorgen sein volles Recht bekam; dafür sollte es ihn am Nachmittag in Frieden lassen, wenn er daheim seinen kleinen Laden aufmachte.
Jeder nannte ihn den »alten Pinkus«, obgleich seine Jahre das noch nicht rechtfertigten. Sein gebogner Rücken, seine eingefallne Brust, sein ungepflegter Vollbart, eine gewisse stete Müdigkeit, Ergebung und Ergebenheit in seinem Gesicht hatten ihm schon vor zehn Jahren, als er zugereist kam, im Städtchen diese Bezeichnung verschafft. Es war schwer, sich vorzustellen, wie er jung ausgesehen haben mochte, wenn man nicht etwa sein Söhnchen, den kleinen Moritz, als sein verjüngtes Ebenbild ansah. Aber auch diesem haftete etwas Unjugendliches an – ein Zug von Frühreife. Seine dunkeln Augen, die reichlich nahe beisammen saßen, schienen über die Interessen seines Alters weg auf das zu schauen, was den Erwachsnen wichtig und nützlich scheint. In diesem Augenblick beobachteten sie mit Spannung, wie der Vater seine Waren in das Traggestell hineinordnete. Obwohl schon zehn Jahre alt, konnte Moritz gerade nur über den Band des Korbes wegsehen, der vor ihm am Boden stand.
»Die Broschen – Broschen gehn reißend zu Weihnachten; die sind beinahe der beste Artikel«, murmelte Pinkus beim Einpacken. »Wolle – damit ist zwar nicht viel zu machen – wo die Leut selbst noch spinnen – aber Wolle muß dabei sein. Die Kleiderstoffe – nu, sind sie nicht schön? Man muß was auszulegen haben. Und hat man einmal ausgelegt, und sie haben die teuern Kleider gesehen, die sie sollen kaufen, sind sie froh, wenn sie mit einer Brosche oder einem Seidenband davonkommen – und die kommen ihnen billig vor. Von den Halstüchern bring ich nicht zwei zurück – Moritzche, willst du mir glauben?«
»Die gelben Manschettenknöpfe wirst du nicht vergessen«, mahnte der Kleine, und seine Augen glänzten. »Die sind ein gutes Geschäft. Und die Schürzen und das Sammetband! Hast du nicht gesagt, daß die Bauernknechte wollen den Mädchen Band schenken – du sollst Band mitbringen?«
»Was du nicht alles behältst, Moritzche! Beinah hätt ich alter Mann es vergessen und muß mich schämen vor meinem Kind«, rief Pinkus erfreut und suchte aus Schubfächern das Bezeichnete hervor.
»Wirds dir nicht zu schwer zu tragen – das alles?«
»Laß es schwer sein – Geschäft ist Geschäft. Und morgen ist Sabbat. Das trifft gut diesmal auf der andern Fest; der Schlaf am Sabbat ist ein Vergnügen. – Aber was machst du heut, wenn ich weg bin?«
Der Kleine wandte den Blick von den Waren weg. »Ich spiel mit den Kindern vom Tischler«, sagte er zögernd.
»Warum spielst du nicht mit Ehrensteins und Breslauers Jungen?«
»Das ist langweilig«, war die halb verlegne, halb mißmutige Antwort.
»Wie heißt: langweilig? Bist du nicht vernünftig?«
»Unsre sind nicht lustig.«
»Muß man denn immer lustig sein? Bist du nicht ein jüdisch Kind? Bin ich – dein Vater – lustig? Und seh ich dich nicht auch immer ernsthaft und vernünftig, wenn ich dich mit andern Kindern sehe?«
»Ich habs aber gern, wenn die andern lustig sind.«
»Kannst du mit den kleinen Ehrensteins nicht Kaufladen spielen und Pferdedoktor und Advokat – was weiß ich?«
»Die singen nie – und sind nie ein bißchen wild. Die sind nicht lustig«, beharrte Moritz.
»Was spielst du denn mit den Tischlerkindern?«
»Sie spielen jetzt immer Weihnachten.«
Pinkus erschrak. »Wie machen sie das denn?« fragte er mit besorgt forschendem Blick, während er das Wachstuch über den Ballen schnürte.
»Hans sägt einen Starenkasten für seine Mutter, und Martha stickt ein Staubtuch, und dabei lernen sie alles, was sie aufsagen müssen.«
»So – und das hörst du alles mit an?«
»Ich muß es ihnen abhören. Sie sparen auch zu einer Hyazinthe vom Gärtner, die sie ihrem Vater schenken wollen.«
»Unsinn! Wer wird für Blumen Geld ausgeben! Können sie nicht warten, bis sie im Sommer blühen umsonst? Dann sollen sie selbst auch wohl etwas geschenkt bekommen?«
»Sie Kriegen immer was. Wir spielen noch immer mit seinem Säbel von letztem Weihnachten.«
»Weihnacht heißt es nicht – blinde Nacht!« stieß Pinkus heftig hervor. Doch rasch besänftigt fuhr er fort: »Moritzche, was tust du mit einer tödlichen Waffe?«
»Wir spielen Soldat.«
»Soldat? Paßt das für dich? Ein Soldat kann kein Jude bleiben. Er bekommt Trefe unreines.-Essen und muß sogar am Passah exerzieren. Schenken können wir einander auch so viel, und wann wir wollen – jederzeit! Sagen die Tischlerkinder denn nicht »Mauschel« zu dir, wie die aus deiner Klasse?«
»Nein, niemals.«
»Es wäre besser, sie sagten Mauschel, als daß sie ihn ihre Gebete abhören lassen«, murmelte Pinkus vor sich hin, indem er sich vergewisserte, daß nichts verloren gehn konnte. Und er überlegte, daß es gut sein würde, sein Söhnchen heute von all den verderblichen Eindrücken fernzuhalten. Deshalb sagte er wie beiläufig: »Du kannst heute ein Stück mit mir kommen – weil du doch keine Schule hast. Aber zieh den Mantel an und die Wollhandschuhe.«
Des Jungen Wangen röteten sich vor Freude – er hatte noch niemals aus die Tour mitgedurft, auf die er doch so neugierig war, und er stürzte in die Kammer, um sich anzukleiden.
Inzwischen bedeckte der Vater seinen Kopf mit dem Hut, wandte das Gesicht nach Osten, wozu er eines Blicks auf den Misrach Mit sinnbildlichen Darstellungen geschmückte Tafel, die in frommen Judenhäusern dem Beter zeigt, wo Osten ist. an der Wand nicht mehr bedurfte, und murmelte ein kurzes Gebet. Dann setzte er den Tragekorb auf einen Stuhl und spannte sich die Riemen über die Schultern. Sie zerrten den etwas fettigen Kragen abwärts und ließen einen wenig säubern Hemdrand sehen. Der Kleine kam in Pelzmütze und einem reichlich langen Überrock zurück, der starke Familienähnlichkeit mit dem seines Vaters zeigte, und hatte seine Kehle mit einem grauen Tuch doppelt umwunden. So gingen sie nebeneinander in den kalten Wintermorgen hinaus.
Der Himmel war bedeckt, und es blies frisch aus Nordost. Auf dem harten, schneefreien Erdboden wanderte es sich gut, doch als sie den Landweg erreicht hatten, mußte Moritzchen hinterhergehn, damit er die holperigen Geleise vermiede. Pinkus hatte seinen Plan so gemacht, daß nur die nächsten drei Dörfer aufgesucht werden sollten, und er reichlich zum Sabbateingang Vorfeier des Sabbats. zurück sein konnte.
»Weißt du, daß du der einzige bist, der mir das Kaddisch Das Gebet, das ein Sohn für seine verstorbnen Eltern am Jahrestage ihres Todes verrichtet, wird sehr wichtig gehalten. sprechen wird; begann er nach einer Weile unvermittelt – »daß ich ohne Kaddisch bleiben müßte, wenn du –« er brach ab, als empfände er, daß der Kleine ihn nicht verstand. »Hast du ihnen denn auch schon mal etwas aufgesagt aus unserm Gebetbuch?«
»Einmal wollte ich –«
»Warum wurde nichts daraus?«
»Da lachten sie«, sagte Moritz kleinlaut.
»Es ist wegen der Sprache, die sie nicht verstehn – also aus Dummheit! Wenn du nicht wolltest, brauchtest du nicht mit ihnen zu spielen – es ist eine Ehre für sie. Du lernst eine Sprache, über die sie nur können lachen. Haben sie auch darüber gelacht, daß du ein jüdisch Kind bist?«
»Nicht sehr – sie sagen, ich müßt werden wie sie.«
»Hör die Dickköpfe! Sie wissen nichts! Weil du ein Jude bist, kann alles aus dir werden – du brauchst einmal nicht mit dem Packen zu gehn und Felle und Korn in Zahlung zu nehmen. Das tu ich für dich! Ein jüdisch Kind ist etwas Besondres – aber das wissen die andern nicht. Es hat große Namen bei uns gegeben – aber die abgefallen sind, die sind tot.«
»Sind sie ermordet?« fragte Moritz ängstlich.
»Wir nennen die tot, die uns verlassen haben. Und wen es in der Familie trifft, der wird sich auf einen niedrigen Schemel zur Schiwe Die erste achttägige Trauer. setzen und das Seelenlicht brennen, weil es schlimmer ist, als wären sie gestorben. Aber du wirst wachsen und zunehmen auf unsern eignen Wegen, denn du bist zu Großem bestimmt. Über uns beide ist es am Neujahr beschlossen, was mit uns werden soll: du wirst müssen lernen – und ich werde müssen wandern und erwerben für dich. Du wirst einmal nicht »der alte Pinkus mit dem Packen« sein – du wirst etwas zu bedeuten haben. Sieh,« setzte er ruhiger und nachdenklich hinzu, »du bist deinen Altersgenossen im heiligen Aleph-Beth weit woraus – das hast du von deinem Vater. Als ich in Warschau noch Thoraschreiber Die Gesetzesrollen werden für die Synagogen nur durch Abschrift vervielfältigt. war, hab ich zu mir gesagt: Meyer, du hättest ein Rabbiner werden müssen! Aber für mich war es zu spät – und ich war auch hoch genug gekommen, denn mein Vater, mit dem der Friede sei, starb noch im zerlumpten Rock – wenig und böse war die Zeit seines Lebens. Aber du – dich hab ich versprochen. Wenn du aufwachsen wirst gesund und begabt, und du willst – dann sollst du ein Rabbiner werden. Was sagst du dazu?«
Er wandte sich halb nach dem Kleinen, der mit kälteroten Wangen hinter ihm trabte und eben unruhig zum Städtchen zurückschaute, als ob er den Rückweg abschätzte und bald anzutreten wünschte. Die letzten Mitteilungen schienen wenig Eindruck auf ihn zu machen. Ja es war dabei wohl gar das Verlangen nach den Tischlerkindern wieder wach geworden. Der Vater erriet seine Gedanken. »Können wir nicht auch alles haben, was sie haben?« fuhr er weitergehend hastig fort. »Kann ich, wenn ich will, meinem Kinde morgen nicht auch etwas schenken und rechnen es auf unser Chanuka, was auf dieselbe Zeit fällt in diesem Jahr mit ihrem Weihnachtsfest? Und stecken nicht viele von den unsern an diesem Fest auch viele Lichter an? Das alles können wir auch haben, wenn du es willst. – Geh noch mit bis an das Dorf, dann kannst du zurückjausen.« Er wußte, war sein Junge erst so weit, so ging er gern auch noch in die Häuser.
Es war ein Rittergut, dem sie sich näherten. Hier mußte sich Meyer Pinkus mit den Arbeiterhäusern begnügen, denn der Gutshof hatte sich durch eine Tafel am Tore das Hausieren unter Strafandrohung verbeten. Das verminderte aber die Einträglichkeit dieses Reviers nur wenig. Die Leute lebten auskömmlich, viele hatten hübsche Ersparnisse, warum sollten sie zu Weihnachten nicht eine oder zwei Mark mehr springen lassen, als sie anfänglich gerechnet hatten? Jeder Hausfrau fast fiel beim Anblick der Sachen noch etwas ein, dessen sie zum Fest bedurfte. Und dafür, daß alles zur Augenwirkung kam, sorgte er. Gleich ins erste Haus trat er ein wie ein lang ersehnter Kinderonkel und Freudenbringer.
Ehe sich die Frau dessen versah, hatte er den Tragekorb schon zu Boden gleiten lassen und kramte aus. »Das Ansehen kostet nichts«, sagte er. Nachdem er sich aber die Mühe gemacht hatte, dauerte es sie, ihn ohne Verdienst wieder gehn zu heißen. Außerdem ließ er ihr zu einer solchen Aufforderung auch keine Zeit – so beweglich und zähe war sein Redestrom und das Spiel seiner Hände. Auch freute es die umstehenden Kinder gar sehr, zu sehen und zu hören, was würde. Zum Schluß langte er dann in die Manteltasche und ließ ein paar einzelne Bonbons in die dicken Händchen gleiten – die kleinen, medizinisch schmeckenden, die so köstlich bunt aussehen! Und während sie in den Mündern zergingen, blieben große blaue Augen wonnestarr auf des Juden Antlitz geheftet, und sogar die Mutter lächelte freundlich. Dies war das gewöhnliche Bild, wenn Vater und Sohn das Haus verließen.
So zogen sie von Tür zu Tür, und Moritzchens dunkle Augen wanderten zwischen seinem Vater und den Kunden hin und her und forschten, wessen Sache am besten stand. Wenn ihn ein freundlicher Blick getroffen hatte, ließ Pinkus ihn rasch die Rechnung im Kopf ausmachen, und die Hausfrau konnte sich nicht genug wundern, wenn sie sich nach mühsamem Klauben überzeugte, daß Moritzchen richtig gerechnet habe.
Als sie in der Wohnung des Verwalters waren, kam zum Glück auch noch der junge Hofwirtschafter dorthin, der einen Auftrag zu bringen hatte. Natürlich mußte auch er nun etwas kaufen, denn haben junge Herren nicht immer Geld – mehr, als ihnen gut ist?
»Sie sind ein feiner Mann – ein nobler Herr«, rief Meyer Pinkus. »Aber doch haben Sie noch nicht solche Knöpfe gesehen. Ihnen gönne ich sie – für Sie werden sie sich ausnehmen. Was sie kosten? Ich schäme mich, es zu sagen: Fünfundsiebzig Pfennige! Sie kosten mich selbst soviel. Aber will ich denn bei Ihnen Profit! Alle jungen Damen werden sich die Schleifen zurechtzupfen, wenn sie Sie von weitem damit kommen sehen –«
Der junge Mann lachte und wollte vorbei zur Tür, doch Pinkus hielt ihm das Schächtelchen in den Weg. »Soll ich leben und gesund sein – das Doppelte haben sie mich gekostet! Sie werden nur verschleudert, weil auch etwas sein muß, woran ich nicht verdiene –« Hier brach er verwirrt ab, denn er war seines Jungen Blick begegnet, der mit Befremden und fast etwas kühl auf ihm lag. Er legte die Schachtel plötzlich nieder und ergriff ein andres Stück. »Ich sehs Ihnen an – Sie wollen zehn Meter von dem Kattun«, sagte er zu der Frau. »Sie werden darin aussehen wie ein junges Mädchen«, und er begann schon abzumessen.
»Nein nein!« rief sie und hielt seinen Arm fest. »Ich muß mirs noch überlegen.« Aber der Stoff, wie er in schönen Falten dalag, schmeichelte sich ins Auge und in die Hand. Sollte sie ihn wieder aufwickeln lassen? Sie willigte wirklich ein, daß er abschnitt, indem sie ihre freudige Erregung vor ihm zu verbergen suchte. Der Wirtschafter nahm das ihm zugedachte Paar Knöpfe jetzt freiwillig aus der Schachtel und zahlte.
»Siehst du, Moritzche,« sagte Meyer Pinkus, als sie das Haus verließen »das ist die feine Kunst, daß die Leut meinen, sie wählen aus – und sie müssen kaufen, was sie sollen. Hatt ich mir nicht vorgenommen, er sollt grad die Knöpfe kaufen – und sie von dem Zeug?«
Nur in die Schmiede wagten sie sich nicht, da ein wütend kläffender Hund ihnen den Eingang wehrte. Sie sahen drinnen die vom Essenfeuer angeglühten Männer bei der Arbeit, doch keiner rief den Hund, obwohl sie herüberschauten. Daraus mußte Pinkus schließen, daß der Köter die Grundstimmung seines Herrn widerspiegelte, und er gab es auf, seine und seines Kleinen unbewehrte Waden hier mit zu Markte zu tragen.
Sie verließen nun das Dorf auf dem Wege, der in weitem Bogen ins Flachland hinausführt, und Moritz begann jetzt abermals mit glänzenden, verlangenden Augen zur Stadt zurückzuschauen. Der Vater merkte es und fing rasch an, ihn zu fragen und ihm zu erzählen. »Hast du dich vielleicht gewundert über irgend etwas?« sagte er beinahe verlegen.
»Ja – wegen was du sagtest dem Herrn vom Einkaufspreis.«
Pinkus räusperte sich und bemerkte mit möglichster Würde: »Sieh, Moritzche – du hast Recht im Leben – aber hast du Recht im Geschäft?« Und du hast Recht mit unsre Leut, aber hast du Recht mit den andern? Narrele, gucke, wenn ich auf Touren gehe, nehm ich mir wohl jedesmal vor, nicht die Unwahrheit zu sagen – aber wie willst du verdienen, wenn du ihnen die Wahrheit sagst über den Einkaufspreis? Werden sie dir dann noch deine Tour bezahlen wollen? Aber fürcht dich nicht; du wirst das nicht nötig haben. Du wirst ein Rabbiner werden und mit der Wahrheit umgehn können und deinen Leibrock ohne Fleck behalten. Dann wird dein alter Vater es sein, der die andre Arbeit für dich getan hat, die manchmal Schmutzflecken macht. Und deiner Mutter Seele, mit der der Friede sei – wird Freude und Wonne an dir haben vor dem Thron Jehovas.«
Die Luft war undurchsichtig geworden. Einzelne Schneesternchen fielen ihm auf den Rock – die Ferne verschleierte sich.
»Haben die Tischlerkinder dir am Ende auch gesagt, was sie von uns denken?«
»Sie sagen, wir sind nie lustig und ruhen niemals recht aus – und wissen keine Geschichten: Wir beten entweder, oder wir verdienen Geld.«
Pinkus lachte mit leiser Bitterkeit. »Wenn sie mit dir groß sind, werden sie sehen, wozu wir das Geld verdient haben. Jüdischkeit ist etwas Besondres, solange die Sonne aufgeht! Das können sie aber nicht verstehn! – Wir wollen das »goldne Gemüse« essen, was du so gern hast, und auch Lichter anmachen morgen, mein Jüngel. Und Geschichten! Willst du, daß ich dir alte – uralte Geschichten erzähle?«
Und er begann aus seinen Talmuderinnerungen Bruchstücke hervorzusuchen, die seiner Meinung nach ein märchensüchtiges Kinderohr erfreuen konnten –
Daß Adonai Zebaoth drei Stunden des Tages mit Moses, den Dichtem und Salomo zusammen im Gesetz studiere, und wie er dann den Thron des Gerichts und der Gnade besteige. Hierauf beschäftige er sich drei Stunden lang mit der Speisung aller seiner Geschöpfe, und die letzten drei Stunden des Tages spiele er mit dem Leviathan.
»Adonai Zebaoth spielt?« fragte Moritz verwundert.
»Steht nicht geschrieben im Psalm unsers Königs David, daß er den Walfisch geschaffen hat, damit er im Meer spielen soll? Und wer ist groß genug, mit ihm zu spielen?« Meyer Pinkus drehte sich ganz nach seinem Jungen herum und stand einen Augenblick, um seinen kurzen Atem zu beruhigen.
»Dann dürfen wir doch auch spielen«, sagte Moritzchen und sah mit leerem Blick an ihm vorbei nach der Stadt. Rasch aber wandte sich der Alte zum Weitergehen, und er fuhr fort, indem sich ein tiefer Schatten über sein Gesicht legte: »Und in der Nacht klagt er: Wehe mir, daß ich mein Haus verwüstet und mein Heiligtum verbrannt habe und meine Kinder in die Verbannung und unter die Völker geschickt. – Weißt du, was das bedeutet, mein Jüngel? Nein, du weißt es nicht!«
Und mit müder, eintöniger Stimme begann er von der wirklichen Geschichte der Zeit zu erzählen, die der Verbrennung des Heiligtums vorangegangen war. Er vertiefte sich so darein, daß selbst ihm die Viertelstunden kurz und seine Bürde leicht wurde.
Indem er so dahinwandelte, hatte er seine einzigen beiden Lebensgüter beieinander, seinen Sohn und die Vergangenheit. Ihn erquickte keine andre Liebe als die seines Moritzchens; ob sein Gott ihm gnädig bleibe, das war die Frage. Ihm lachte nicht die Natur; ihn stählte und erhob kein mutiges Schaffen. Die Toten von Jahrtausenden waren die heimlichen Herrscher über sein innerstes Leben.
Aber die strahlende Lichterscheinung der untergegangnen Herrlichkeit seines Volkes warf noch immer etwas wie ein Abendrot in sein Leben. Sie war noch immer in den nachgebornen Seelen die Quelle der zähen Ausdauer und des Stolzes.
Meyer Pinkus gedachte nicht immer, vielleicht nicht einmal täglich des Schicksals seines Volkes, aber doch hatte es sich in sein Antlitz hineingeprägt – in dieses Antlitz, das auch jetzt noch nicht alle Tage gewaschen wurde, obwohl die Wasserarmut Palästinas das nicht mehr entschuldigte. Die Leute, zu denen sein Geschäft ihn führte, hafteten liebend an ihrem Boden, von dessen Geschichte sie kaum irgend etwas wußten. Er dagegen wanderte über dieses Land, das nicht seine Heimat war, und das er auch keinen Augenblick dafür hielt – und sein bestes Wesen wurzelte tief und beständig in einem fernen Lande, das er nie gesehen hatte. Wie ein dürres, verwehtes Blatt flog er vor dem Winde. Wenn dieses braune Blatt in einem Winkel zur Ruhe kam, so träumte es von dem starken grünen Baum, von dem es losgerissen worden war. Der geheime Grund seines Lebens blieb diese Erinnerung, die ewig jung war, obgleich der Staub von Jahrtausenden darüberliegt. Schrecken aus alter Zeit gingen ihm durchs Herz, wenn er seinem Söhnchen erzählte; Schatten aus verfallnen Mauern flatterten vor ihm auf.
Moritz hatte bisher noch wenig über seinesgleichen nachgedacht, vielmehr den Gegensatz zu den übrigen Leuten, der ihn und seinen Vater zu Fremden stempelte, durch dessen Gewerbe oder durch das Fehlen der Mutter erklärt. Er hatte es bisher noch nicht erfaßt, daß es etwas so unvergleichlich Seltsames mit ihnen sei. Und nun hörte er ihn, den bescheidnen Hausierer, von einem königlichen Geschlecht unberechenbaren Alters erzählen, wie aus Familienaufzeichnungen!
Er dachte jetzt nicht mehr an die Stadt. Keinmal wandte er mehr den Kopf zurück. Ohne es zu wissen, hatte er seine kleine Hand in die des Vaters geschoben und achtete nicht auf den holprigen Weg. Ein feines Knistern war in der Luft, und dichte, körnige Schneekristalle prickelten ihnen das Gesicht; der Wind überschüttete sie manchmal damit. Sie aber zogen durch das Gebirge Juda und die Ebne Jesreel und sahen die Schlachten, in denen Jehova ihre Rosse, ihre Wagen und ihr Fußvolk zum Siege geführt hatte. Und dann zogen sie durch die Glut blendenden Sonnenscheins zum Tempel hinauf.
Meyer Pinkus schilderte, durchglüht von Schmerz und Stolz, die Herrlichkeit Salomos, und wie die Königin von Saba gekommen wäre, seine Weisheit zu hören und seinen Reichtum zu sehen – und wie die Völker seine Bundesfreundschaft gesucht hätten; wie Jehova seine Auserwählten selbst geleitet, selbst zu ihnen gesprochen und sie zu immer höherer Glorie hinangeführt hätte; wie ringsum die Heiden nicht wert gewesen seien, das Angesicht zu Israel zu erheben.
Ein heftiger Windstoß warf den Kleinen fast um und weckte ihn aus seinem Traume. »Und du –« sagte er, sich langsam auf die Wirklichkeit besinnend »du – warum gehst denn du jetzt hier?«
Der Vater blieb stehn und sah ganz erschrocken aus, als sei er von irgendwo herabgestürzt. Sein Atem flog, und sein Gesicht war erhitzt von der doppelten Anstrengung des Tragens und des Sprechens im Winde. »Ja warum?« erwiderte er dann zögernd, »das ist zu schwer, es dir zu beantworten, du bist ein Kind! Wenn wirs nur selbst wüßten – immer schon hab ich es gern erfahren wollen –«
Er war jetzt wieder im Alltag und spähte den Weg zurück. Das Wetter beunruhigte ihn; es war wirklich unangenehm geworden. Die Felder trugen schon eine Decke von gleichmäßigem Weiß. Gern hätte er jetzt den Kleinen zurückgeschickt, doch ihn allein gehn zu lassen wagte er nicht mehr. Es durfte auch für ihn nur »vorwärts!« heißen, und es war gut, ihn die Mühsal des Wegs möglichst weiter vergessen zu machen. Dafür sollte er morgen entschädigt werden, und dazu wollte er das alte, sonst wenig beachtete Chanukafest als Vorwand benutzen. Sonst hatte er sich nach jüdischem Brauch damit begnügt, durch ein besonders weltliches Verhalten seine Geringschätzung der christlichen Weihnacht an den Tag zu legen. Er, der eigentlich gar kein Gefallen am Kartenspiel fand, hockte dann mit Ehrenstein und Breslauer zusammen beim »Franzefuß« oder einer Partie l'Hombre – ähnlich wie am Karfreitag. Morgen aber sollte Moritzchen ebenso froh sein wie die Tischlerkinder.
Vom Chanukafest erzählte er ihm im Weiterwandern – vom Fest der Freude über den endgiltigen Sieg der heldenhaften Makkabäer und über die Tempelreinigung. Er schilderte, wie eine kleine kühne Schar den zehnfach überlegnen Feind niedergezwungen und das Blut derer gerächt hätte, die nicht Schweinefleisch essen und nicht Schweine opfern wollten auf dem Altar; wie dieser Stamm von Helden das Heiligtum vom Unflat gereinigt und den Altar und die heiligen Gefäße erneuert habe.
»Und dann, zweihundert Jahre danach, ist der heilige Tempel in Lohe aufgegangen und unser Volk durch Schwert und Hunger und Seuchen gewürgt! Und die übrig geblieben? In die ägyptischen Steingruben und in den Fechterdienst sind sie geschickt. Wenn du wirst erwachsen sein, versuch es zu verstehn. Forsche in den Schriften und sag es dann deinem alten Vater. Darauf werde ich warten, daß ich es von dir erfahre. Wir wissen nicht, woher und wohin und warum. Bring du es heraus, und ich will dich segnen.
»So kamen die Unsern in alle Welt. Und sie waren wie die Bienen – sie trugen ihre Waben voll. Dann schwefelte man sie ab und schleuderte ihre Waben leer und ließ sie von neuem sammeln. Sie konnten Kinnes Trauerpsalmen. beten – weiter konnten sie nichts machen. Aber hier bei uns ist es besser geworden; hier schützen uns die Gesetze.
»Du darfst dies alles hören – in drei Jahren wirst du ein gebotespflichtiger Mensch und wirst schon dich selbst verantworten müssen. Vielleicht werde ich dir dann für deine Rede beim Festmahl geben den Spruch aus Bereschit Raba: ›Der Jude muß dem Lande dankbar sein, wo er sein Brot findet.‹«
Es gefiel Moritzchen sehr gut, von diesem allem erzählen zu hören. Er ging jetzt immerfort neben dem Vater, um ihn ansehen zu können. Ihm schien es, als ob sich seines Vaters Gesicht ganz verändert habe – er wußte nur nicht, was das war. Sonst scharfsinnig, verschlagen oder sorgenvoll – jetzt wurde es ehrfurchtgebietend. Es schien ihm, als müsse der Vater alles, was er erzählte, selbst erlebt haben und sei nur von damals übrig geblieben als ein Überlebter.
Er ging, wenn der Vater sprach, immer das Gesicht zu ihm erhoben und wunderte sich. Bis plötzlich seine kleine Hand weggeschleudert wurde – und darüber wunderte er sich noch mehr.
Das geschah, als Meyer Pinkus berichtete, wie sein Großvater, der eine Schenke an einer russischen Landstraße hatte, so oft er in die Bezirksstadt kam, im Tore niederknien mußte, und der Torwächter mit der Schere rund um ihn herum ging, nachschauend, ob irgendwo der Rocksaum auf dem Boden lag. Wo das der Fall war, schnitt er ihn ab. So wollte man die jüdischen Untertanen von der Hoffart heilen, einen Kaftan tragen zu wollen.
Meyer Pinkus aber war nicht zornig. Seine Linke suchte des Kleinen Land rasch wieder, und heimlich streichelte dieser sie mit seinem dicken Wollhandschuh.
Gern hätte er auch seine Wange gestreichelt, wenn er hätte hinanreichen können. Sein Vater schien ihm unendlich – unermeßlich alt, wie einer, der überhaupt nicht sterben kann und traurig darüber ist. Durch die Jahrtausende war er gewandert – und nun wanderte er hier!
Der Schnee fiel in immer dichtern Flocken, schon mußte der Fuß ihn beim Ausschreiten schieben. Auf den Bäumen am Wege duldete der scharfe Wind ihn nicht – sie streckten kahle, ungeschmückte Zweige empor. Doch in des Hausierers Bart setzte er sich – seinen und des Knaben Wärme ausströmenden Mantel belegte er mit einer dicken Schicht, und auf dem Wachstuch des Tragekorbes häufte er sich.
»Bloß noch zum nächsten Dorf, Moritzche – wir kürzen die Tour ab«, sagte der Vater. »Geh wieder hinter mir, so wirst du etwas Schutz haben. Es ist böses Wetter, aber wir kommen vorwärts nun früher unter Dach, als wenn wir umkehrten – und bald sind wir im Walde.«
Am Wege lag nach kurzem ein großer Findlingsfelsen, den der Dampfpflug im Acker aufgewühlt haben mochte. Er setzte seinen Packen darauf nieder, um zu ruhn. »Wenn wir Glück haben, verkaufen wir im nächsten Dorf schon alles. Es ist ein großes Dorf – ein reiches Dorf; Gott schenk uns viele solche Dörfer! In einer Stunde sind wir da.« Er nahm dem Knaben die Mütze vom Kopfe und löste aus ihrem Innern einen Streifen Wollzeug, der Mund und Nase schützen sollte. Dann strich er den Schneehaufen von dem Korbe und nahm ihn wieder auf.
Sie kamen nun eine Strecke durch Tannenwald, unter dessen Baumkronen eine Schar von Krähen mit lautem Geschrei Schutz suchte. Auch für das Vogelauge war die Luft zu dick, als daß sie ihrer Nahrung hätten nachgehn können. Sie schalten mißtönend über den Schnee, der ihnen Wagenspuren, Saatfelder und Düngerhaufen – alles, was ihre Freude war – verschüttete. Eine Meise schlüpfte dicht am Wege durch das braune Laub jungen Buchenaufschlags. Moritz hatte sie für eine Maus gehalten und schrie auf: »Was macht sie da?«
»Es ist ein Vogel – nu – wie alle Vögel. Was soll er da machen? Es ist sein Geschäft.« Dort, wo junge Fichtenbäumchen einander beschirmend beisammenstanden, hatte sich der Schnee ruhig auf die gespreizten Zweige gelegt und dichte weiße Lauben gebildet, in denen ein Häschen gerade Platz gefunden hätte. Moritz freute sich über die traulichen Gewölbe und fragte: »Warum sitzen nicht Tiere darin? Es ist wie weiße Laubhütten.«
»Sitzen sie nicht darin, werden sie wissen, warum. Was sorgst du dich um die Tiere? Kannst du davon leben?«
Als sie aus dem Gehölz wieder heraustraten, empfing sie ein verstärkter Wind. Das Schneetreiben hatte an Heftigkeit zugenommen, und als es sie recht faßte, schauderte der Kleine zurück und suchte Deckung hinter seinem Vater. Dieser geriet selbst ins Wanken. Sie hatten nun den Wind schräg von vorn. Ganze Massen Schnees drängten sich zwischen seinen Rücken und die Rundung des Korbes und vermehrten das Gewicht, das er schleppen mußte. Er warf sich scharf gegenan, wobei sich seine ohnehin engbrüstige und verbogne Gestalt noch tiefer zur Erde neigte.
»Tritt in meine Spuren. Nun dauerts nicht mehr lange – noch eine kleine halbe Stunde. Was ist eine halbe Stunde? Kannst du nicht laufen wie ein Huhn?« Er glaubte selbst nicht, was er sagte. Er wußte, daß bei diesem Wetter vor einer Stunde das vorderste Gehöft nicht zu erreichen war.
Junge Ebereschen bezeichneten den Weg, den selbst er sonst nicht gefunden hätte. Man sah nicht zwanzig Schritte weit, und kein Geräusch drang vom Dorf herüber, die Richtung angebend. Man hörte nur das Pfeifen des Windes, das Knistern der Schneekörner und das Knirschen des geflochtnen Korbes. Pinkus erzählte nun nichts mehr, denn er hatte keinen Atem dazu übrig. Nur dann und wann warf er ein ermutigendes Wort hin. So kämpften sie sich ein gutes Stück vorwärts.
Plötzlich begann Moritz hinter ihm leise zu wimmern.
»Was hast du, mein Leben? Mein Gold, friert dich?«
»Ich bin müde.«
Dem Vater rieselte der Schreck durch Mark und Bein. Er wußte, daß der Kleine nicht ohne Not versagte, und fühlte, daß er selbst beinahe am Ende seiner Kraft war. Matt schon hatte er heute den Weg angetreten, und das stete, wenn auch noch so geringe Zurückgleiten des Fußes bei jedem Tritt ermüdete sehr.
»Wir werden ausruhn einen Augenblick«, sagte er und drehte sich zu ihm. »Vielleicht kommt ein Wagen und nimmt uns mit – ja gewiß kommt ein Wagen oder ein Schlitten.«
Er lehnte seinen Korb ohne ihn abzusetzen an einen Baum und zog den Kleinen an sich. Er drückte sich Moritzchens glühendes Gesicht an den Mantel, von dem er den Schnee abgeklopft hatte. Dabei fühlte er, daß der Junge vor Erschöpfung zitterte. Die Kälte ging ihm selbst durch den erhitzten Rücken, den er dem schneidenden Winde aussetzen mußte. So standen sie eine Weile schweigend, und die Hand von Pinkus glitt liebkosend über den Nacken des Kleinen.
»Jetzt wird es wieder gehn, mein Jüngel«, sagte, er endlich. »Langsam – du gehst immer dicht hinter mir.« Er stieß sich mit einem Ruck von dem Stamme ab, sodaß er wieder in gebückte Haltung kam, und schritt voran, bis Moritzchen vor Müdigkeit stolperte und fiel. Er zog ihn am Arme in die Höhe, aber der Kleine taumelte nur noch ein paar Schritte vorwärts, dann fiel er abermals und weinte.
Langsam ließ der Jude die Trageriemen von seinen Schultern gleiten und stellte den Korb zu Boden. »Ich werde dich jetzt tragen. Mein Kind braucht nicht zu weinen. Ich werde die Ware herausnehmen, und du wirst hineinsteigen.«
»O die Ware – die schöne Ware – wo wird die bleiben?« jammerte Moritzchen. Aber der Vater nahm alle schweren Sachen heraus und schlug sie so gut es ging in das Wachstuch. Dabei murmelte er inbrünstig den Schluß des Kol nidre – des großen Bußgebets vom Versöhnungstage: »Mein Gott, ehe ich geschaffen, war ich nichts – und jetzt, da ich geschaffen, bin ich so, als wäre ich nicht geschaffen. Staub bin ich im Leben – noch mehr im Tode; ich bin voller Schmach und Schande. Es sei dir, Einiger, wohlgefällig, daß ich nicht mehr sündige.«
»Die Broschen und das Sammetband – die darfst du nicht hierlassen – die sind ein Geschäft«, sagte der Kleine weinerlich, während er neben dem Korbe auf den Knien lag.
»Mach ihn zu einem, der Israel unterweist«, setzte der Vater leise seinem Spruch hinzu, und er legte den Warenballen hinter einem schlanken Kastanienbäumchen in den Graben und häufte Schnee darüber. »Ja, ich werde die Kleinigkeiten mitnehmen so gut wie die Betriemen – und auch die Wolle; sie wärmt dich noch.« Er hob den Knaben hinein. »So leg dich an mich – und die Wolle hier zur Seite – und halt die Arme fest am Leib, daß du warm bleibst.«
Moritzchen sah aus dem Nest mit seinen schwarzen, enggestellten Augen heraus, wie die Maus aus dem Loch. Pinkus wuchtete sich den Korb wieder auf den Rücken und ging die ersten Schritte schwankend. Die Last war nicht leichter geworden, und der Schneesturm nicht barmherziger. Er mußte jetzt öfters stillstehn, das durfte er aber nur tun, wenn er zugleich einen der Alleebäume umfassen konnte.
»Wirst du kalt?« fragte er nach einer Weile.
»Ich weiß nicht«, piepte Moritzchen.
»Soll ich dich niedersetzen? Will mein Jüngel umherspringen, um sich aufzuwärmen?«
»Nein. Sind wir noch nicht bald da?«
»Noch eine Viertelstunde – wenn der Einige uns gnädig ist.« Dieser Zusatz wurde leise gemacht. Er sprach jetzt gar nicht mehr und ruhte auch nicht mehr aus. Sein Atem wurde keuchend. Er zählte die Schritte immer von eins bis zehn, und vor seinen von Blutäderchen geröteten Augen, die er auf den Boden gerichtet hielt, flimmerte es. Seinem heißen Gesicht waren die Schneeflocken jetzt angenehm. Geflissentlich sah er lange Zeit nicht auf, um durch das unbegrenzte Einerlei der Umgebung nicht entmutigt zu werden.
Endlich hob er den Kopf und sah einen Apfelbaum, der zu dem Garten des vordersten Bauerngehöfts gehörte. »Wir sind da!« rief er freudig, »Moritzche, hörst du – wir sind bei Leut. Schläfst du?«
Ein schläfriges Stimmchen gab aus dem Korbe Antwort.
»Schlaf nicht ein. Gleich werden wir dich herausholen. Dann bist du in der warmen Stube und wirst essen. Bist du kalt?« Er schritt jetzt aus, so rasch er konnte. Nun hatte er das Tor erreicht – nun bog er hinein.
Auf dem Hofe war keine Menschenseele sichtbar. Es war früher Nachmittag. Aus der Scheundiele schallte der Takt der Dreschflegel – im Stall brummten die Kühe. Zwischen dem Dunghaufen und einer Holzmiete zog sich eine meterhohe Schneeschanze quer über den Fahrdamm, und von ihrem scharfen Rande peitschte der Wind ihm die Körner ins Gesicht, sodaß er die Augen nicht offen halten konnte. Er wollte sich hindurcharbeiten, aber glitt aus und stürzte mit einem halblauten Jammerruf in die weichen Massen.
Es mußte wohl komisch aussehen, wie er fruchtlose Anstrengungen machte, mit seiner Last wieder aufzukommen, denn auf der Tenne hörte das Dreschen auf, und ein stürmisches Gelächter erscholl. Er hörte seinen Namen nennen, und ein Knecht in hohen Stiefeln kam langsam heran, um den Spaß in der Nähe anzusehen und auch – wenn es durchaus sein mußte – zu helfen. Der Hausierer war jedoch schon aus seinen Trageriemen geschlüpft und stand auf den Füßen, indem er ängstlich den Kleinen im Korbe schüttelte, der keine Miene machte, herauszukriechen.
»Er ist eingeschlafen – Gott der Gerechte, er wird doch nicht klamm geworden sein? Moritzche – Moritzche – rühr dich – komm heraus, mein Goldner – wir sind da!«
Schläfrig hob der Junge die Lider ein wenig von seinen schwarzen Augen. Der Vater packte ihn unter den Armen und zog ihn heraus, und der Knecht half ihn lachend losmachen, wobei Schächtelchen und Wollstränge in den Schnee rollten. Jedoch auf die Füße gestellt, knickte das Bübchen zusammen.
»Gott – Einiger, straf mich nicht! Bist du erfroren? Moritzche, komm zu dir.«
Aber der Kleine hing schlaff in seinem Arm. Da hob Pinkus ihn auf und trug ihn dem Wohnhause zu, ohne einen Blick aus seine verstreuten Sachen zu verschwenden.
Er kannte den Gesindeeingang und wählte bescheiden diesen. Auf dem Gange kam ihm ein Mädchen entgegen, erschrak und machte rasch auf einer Eimerbank Platz, damit er den Kleinen dort niederlege. Dann holte sie zwei alte Pferdedecken, die sie eben in der Leutestube flickte, und half ihm die Glieder reiben.
Die Beweglichkeit kehrte wieder, erfroren war nichts. Müdigkeit und die unbequeme Lage hatten das meiste getan, ihn steif zu machen. Er winselte über Prickeln in Armen und Beinen. Bald aber ließ er sich von der Bank gleiten und machte wie eine kranke Krähe einen taumligen Probemarsch über die Fliesen, und Pinkus sah ihm voll Freude nach und reckte dabei selbst wie erlöst seine schmerzenden Wirbel und Gelenke.
Hinter ihm kam der Knecht herein mit dem Tragekorb und den verschütteten Waren, die er vollzählig wieder hineingesammelt hatte. Er freute sich noch immer des guten Spaßes, desgleichen man an einförmigen Wintertagen nicht verschmähen soll. »Warum nehmen Sie den Lütjen auch mit, Herr Pinkus?« sagte er gutmütig lachend. »Soll der mit verhandelt werden? Was meinen Sie, was einer dafür gibt?«
»Konnt ich den Schnee vorher wissen?« erwiderte der Hausierer gedrückt.
»Bei dem Wetter! Das ist auch wohl so einer, der sich für fünfundzwanzig Pfennige ein Loch ins Schienbein bohren läßt.«
»Ich hab ihn mitgebracht, weil ich ihn nicht zu Hause lassen wollt. Er hätt lieber gespielt.«
»Na was der wohl spielt – Ist 'n Jud ins Wasser gefallen? So was. Pinkusche, komm mal her, sag mal, was du zu Hause machst. Stehst du im Laden und handelst, wenn Tatteleben auf Reisen ist? Oder hast du schon dein eigen Geschäft mit Hosenknöppe und Marmelstein? Guck – wie er blöde tut – ja du bist mir der wahre Jakob.«
»Laß ihn doch!« sagte das Mädchen unwillig. »Ihm tut nu was Warmes not – und Ihnen auch, Herr Pinkus. Gehn Sie man vorn in die Stube – es ist Kaffeezeit, und der Bauer und die Frau sind da.«
Der Genannte kam aber schon behäbig durch die Küche her – er hatte die fremden Stimmen gehört. Er schmunzelte wohlwollend, als er den Kleinen erblickte, legte ihm die Hand auf den Kopf und spaßte: »Der soll wohl beizeiten lernen, wie man den Leuten das Fell über die Ohren zieht?«
Um die dünnen Lippen von Pinkus spielte ein seltsames Lächeln, und er erwiderte doppelsinnig: »Ja – wenn der Bauer heut was zu handeln hat, wird ers ja sehen.« Dann bat er mit seiner vor Ermattung tonlosen Stimme um Obdach für die Nacht. Er wolle es gern auf irgendeine Art vergüten.
Der Bauer war sogleich bereit »In der Knechtskammer steht ein leerer Schragen – da können von Ihrer Art vier drinliegen. Da gehn Sie man hinein für die Nacht mit dem schwarzen Prinzen und ein paar ordentlichen Pferdedecken. Unser Gespann ist nicht judenscheu. Und nun kommen Sie man und trinken Sie Kaffee.« Er ging ihnen voraus in die Stube, wo die Bauerfrau an dem großen Eßtisch saß und die beiden gelassen, aber nicht unfreundlich begrüßte, ohne aufzustehn.
»Grad zum heiligen Abend müssen Sie einschneien«, sagte sie. »Das ist Ihnen wohl recht unangenehm – dann ist doch jeder am liebsten zu Haus.« Sie war beschäftigt, Papierblumen und versilberte Nüsse mit Fäden zu versehen für den Weihnachtsbaum, der schon in einer Zimmerecke stand.
»Herr Pinkus braucht sich ja daran nicht zu kehren«, erinnerte der Bauer mit seiner polternden Stimme. »Da – nehmen Sie Platz; der kleine Handelsmann kann hierher kommen.«
»Er ist noch jung – erst zehn«, sagte Pinkus würdig und hob seinen Knaben auf den ihm selbst zugedachten Stuhl. Dann nahm er bescheiden nahe der Tür auf der Bank Platz und sah durch die Scheiben in das Wetter. Immer in derselben Weise wirbelte der Schnee. Es war klar, daß heute kein Rückkehren mehr denkbar war – und er sank sitzend vor Erschöpfung ganz in sich zusammen. Die Dienstleute kamen mit schweren Tritten herein – zwei Knechte, ein Junge und ein Mädchen – und reihten sich um den Tisch, indem sie den Stuhl neben dem Kleinen freiließen.
»Na aber – nu man immer ran an den Tisch! Was sitzen Sie da bei der Tür?« schalt der Bauer wohlwollend. »Brot ist genug abgeschnitten, und hier ist das Schmalz. Das lustige Leben mit Stollen und Plattkuchen geht nämlich erst heut abend an.«
Der Jude, der gern so wenig wie möglich in diesem Hause in Anspruch genommen hätte, fühlte ein unabweisbares Verlangen nach einem warmen Getränk und setzte sich neben seinen Jungen, der schon eine Tasse leerte und über ihren Rand hinweg seine glänzenden Augen auf den Weihnachtsbaum in der Ecke richtete.
Die Schüssel mit dem Schweineschmalz schob Pinkus höflich dankend weiter und tauchte das Brot unbestrichen in den Kaffee, indem er Moritzchen ein Zeichen gab, es ebenso zu machen.
»Ach so – das Schmalz; das ist wohl solch ne Sache«, sagte die Bäuerin stutzig.
»Nehmen Sie es nicht übel, aber ich möchte nicht gern trefe Speisen genießen. Es geht sehr gut ohne – und wir sind Ihnen sehr dankbar.«
Der Bauer lachte. »Aber der junge Herr Pinkus – ob der auch so denkt?« Er schob ihm eine bestrichne Scheibe zu. Der Hausierer aber zog des Knaben sich ausstreckende Hand hastig zurück.
»Er weiß es noch nicht selbst, aber er ist ein gehorsames Kind; er ißt das Brot auch lieber trocken. Sonst ist er aber recht gescheit. Er ist mein Einziger.«
Die Tischrunde belustigte das. Nur die Bauerfrau nicht und das Mädchen, das zuerst seine Angst gesehen hatte. Es schob ihm die Kaffeekanne zu und sah ihre Frau fragend an, ob sie nicht doch den Auftrag erhalten werde, zugunsten der beiden Fremden den Feststollen anzuschneiden. Doch eine solche Anordnung blieb aus. Die Bäuerin war eine sparsame Frau, und was hatte im Grunde der Weihnachtskuchen mit Israel zu tun? Man tat schon, was Christenpflicht war, indem man die beiden herbergte.
Der Bauer meinte das offenbar auch und fand sogar, daß Pinkus und Sohn für alles dieses als Entgelt sich auch ein bißchen Spaß gefallen lassen könnten. Denn in der dunkelsten Winterzeit ist auf dem Lande Abwechslung rar. Er begann Fragen an die beiden zu richten, in denen wenig verhüllte Hänselei lag. Dabei gingen seine kleinen, grauen Augen jedesmal beifallfordernd zu dem Gesinde, das ihn mit fröhlichem Schmunzeln lohnte.
Als die Knechte nach einer besonders witzigen Bemerkung des Bauern gerade herauslachten, sagte Pinkus mit zitternder Stimme: »Wer in Polen als Jude aufwächst, wie ich – ist an solche Scherze gewöhnt. Aber die Herren können es beinahe so gut, als hätten sie es da gelernt. Moritz, mein Kind – geh du hinaus jetzt – geh auf dem Gang auf und nieder; die Herren treiben Spaß, den du noch nicht verstehst.«
Der Kleine stand gehorsam auf, aber der Bauer fing ihn im Arm ein. »Was willst du draußen in der Kälte, kleiner Handelsmann? Wir wollen gemütlich miteinander sein – verstehst du denn keinen Spaß? Das wirst du noch lernen müssen, wenn du mit Band und Schürzen gehst. Warum hast du dich auch Pinkus taufen lassen?«
Der Hausierer sprang auf und richtete sich ganz gerade, während er vom Kopf bis zu den Füßen vor Erregung zitterte. »Er wird es nicht zu lernen brauchen!« stieß er hervor. »Das ist zuviel! Sein Name ist gut genug! Sein Name ist groß und hoch gewesen, als an die Herren noch gar nicht gedacht wurde! Sein Name ist auch mit auf dem Sinai aufgerufen worden – und wird wieder aufgerufen werden, wenn der Kommende sein Reich einnimmt – wenn die Herren lange vergessen sind!«
»Oho!« rief der Bauer und schlug auf den Tisch. »Will er da hinaus? Blöde ist der Jude nicht.«
»Wir brauchen uns nicht verspotten zu lassen um unsern Namen, das ist zuviel! Ich dank Ihnen, meine Herren Wohltäter, aber wir wollen weitergehn. Jemand sonst im Dorf wird uns gnädig sein für die Nacht.« Er verbeugte sich hastig gegen den Bauern und seine Frau, die ihn nun fast ärgerlich ansah, und zog den Jungen mit sich hinaus – von einem unwilligen Gemurmel verfolgt. »Ersticken soll er – der Galgan!« stieß er draußen mit wutentstelltem Gesicht heraus, schämte sich aber sofort vor seinem Sohne, der ihn erschrocken ansah. »Nein nein,« verbesserte er sich fast weinend, »wir fluchen dem nicht, der uns Brot gegeben hat! Möge der Einige ihn segnen – ihn und sein Haus. Aber wir betreten es nicht wieder.«
Er nahm rasch auf dem Gang den fast leeren Tragekorb auf den Rücken, und sie traten wieder in das Unwetter hinaus.
Es dämmerte schon. Der Schneesturm fegte um die Gebäude und überfiel sie urplötzlich an den Ecken und drohte, sie umzuwerfen. Ein Wirtshaus hatte der Ort nicht. Pinkus dachte nach, wohin sich wenden; die Gehöfte alle waren ihm gleich vertraut und gleich fremd, und in jedem stand ein Weihnachtsbaum geschmückt, der nun bald angezündet werden sollte. Das nächste Haus war die Schule. Er kannte die Familie nur wenig. Sie waren schlechte Kunden für ihn, denn den häuslichen Bedarf beim Hausierer zu decken – dazu hatten sie es nicht.
Doch ihm war, als werde ein Lehrerhaus auf jene verirrte Art am frömmsten Weihnachten feiern – und als würden dort, wo man am frömmsten Weihnachten feiert, auch Leute Israels in der Not am besten aufgehoben sein. Sie fanden dann gewiß einen Winkel, in den sie sich zurückziehen konnten.
Ohne Zögern wandte er sich diesem Hause zu. Die Fensterläden waren geschlossen – auf der einen Seite des Hauses drang durch ihre herzförmigen Ausschnitte Lampenlicht. Er drückte die Haustür auf, und ein Windstoß drang mit ihnen hinein und warf eine Ladung Schnee auf die Steinfliesen des Flurs. »Der Weihnachtsmann!« schrie eine Kinderstimme voll Angst und Jubel, und eilige, kurze Tritte verhallten hinter einer ins Schloß geworfnen Tür. Die wenigen Minuten vom Bauernhof bis hier hatten beide aufs neue mit einer Schicht belegt und seinen Bart weiß gemacht. Hier erst konnten sie den Schnee abschütteln.
Eine einfache schöne, dunkelhaarige Frau kam aus der Stube, und hinter ihrem Rock sahen zwei Kinderköpfe hervor.
»Geben Sie uns Obdach bis morgen, Frau Lehrer. Gott wird es Ihnen lohnen – wir können nicht mehr nach Hause. Sie werden mich soviel kennen, daß ich ein ehrlicher Handelsmann bin und kein Schnorrer. Ich bin zufrieden mit einem Stuhl – und wenn Sie für mein Kind eine alte Decke haben! Der Einige wird Sie versiegeln mit einem guten neuen Jahr.«
Die Lehrerfrau überwand den natürlichen leisen Schreck, den ihr zu dieser Stunde der Eintritt zweier ungebetner und noch obendrein so wesensfremder Gäste bereiten mußte, mit Anmut und gab dem Jungen freundlich die Hand. »Aber natürlich – das ist ja einfach Christenpflicht«, sagte sie ohne Arg.
»Der alte Meyer Pinkus tät es auch, wenn er so gebeten würde«, sagte der Hausierer, in dessen Stimme die besiegte Aufregung noch zitterte.
»Das glaube ich Ihnen. Wohl dem, ders kann! Wir machen für Sie beide ein gutes Plätzchen ausfindig. Legen Sie Ihren Mantel ab – Kleiner, du auch. Der Korb kann hier in der Ecke stehn. Rudi – Elsbeth, helft dem kleinen Jungen.« Diese Aufforderung richtete sie an zwei größere Kinder, die ebenfalls aus der Stube gekommen waren und die Gäste ohne besondre Freude betrachteten. »Gerade zum heiligen Abend«, maulte der ältere halblaut, und Elsbeth wisperte: »O weh – der alte Bandpinkus! Auch gerade nun!« Ein strenger Blick der Mutter setzte sie jedoch in Bewegung. »Siehst du nicht, daß er mit seiner Mütze nicht zu bleiben weiß?« Sie selbst machte Platz am Wandriegel, indem sie nach einem verstohlnen Blick auf den fleckigen Rock des Hausierers die Mäntel der Ihren gar weiter forthängte, als nötig zu sein schien.
»Er wird nasse Strümpfe haben – bringt den Kleinen in eure Schlafstube und gebt ihm trockne. – Treten Sie ein, Herr Pinkus, mein Mann wird Ihnen gewiß aushelfen.« Sie führte ihn hinein, aber ging gleich wieder.
Drinnen erhob sich ein schlanker, mitteljähriger Mann mit Brille und spärlichem blonden Haar von einem Schemel, worauf er kleine Pakete verschnürt hatte. Er trat, den Kopf etwas vorgebeugt, dem Hausierer entgegen und streckte ihm so warm und freundlich, ja ehrerbietig die Hand hin, daß dieser nicht wußte, wie ihm geschah. Meyer Pinkus glaubte, Menschen zu kennen, aber diese Art war ihm neu.
»Sie sollen uns herzlich willkommen sein, Herr Pinkus. Setzen Sie sich hier. Wenn es Ihnen genehm ist, mit uns den heiligen Abend zu feiern, ist es uns doppelt lieb.«
Während der Hausierer eine vor Verblüffung leise und unsichre Antwort gab, gingen draußen schmollende, bettelnde Stimmen: »Darum ist aber doch heilig Abend, Mutter? – Darum ist aber doch gerade so Weihnacht wie sonst?« »Natürlich – gerade so«, antwortete die Hausfrau gedämpft und beschwichtigend. »Nehmt aber euern Besuch auf, wie sichs gehört.«
Zart und rücksichtsvoll drängte der Hausherr seinem Gast ein paar mächtige Filzschuhe auf und trug die durchweichten Stiefel eigenhändig an den Ofen, obwohl Pinkus das nicht zugeben wollte. Sie balgten sich fast darum: Dem Gaste kam das alles so seltsam vor wie lange nichts. Mit solcher Hochachtung war er noch niemals behandelt worden.
Er saß nun zusammengesunken und vor Erschöpfung stumm im weiten, wachstuchbezognen Lehnstuhl nahe am Ofen und sah voll Staunen dem Lehrer zu, der sein Werk fortsetzte, und dessen Gesicht dabei wie von innen durchsonnt erschien. Er wußte ganz gewiß, daß auch sein Junge hier gut aufgehoben war, wenn er das Wie auch nicht sah. Erlöst und daheim fühlte er sich hier, und ehe er sichs versah, schlossen sich seine Augen, und der Kopf sank ihm in tiefem Schlaf auf die Brust.
In dem Flur legte die Hausfrau indessen die Arme um ihre beiden Ältesten und redete ihnen flüsternd ins Gewissen, wie sie den kleinen Juden als Gast ehren, gut unterhalten, beim Spielen bevorzugen, und wie sie bedenken sollten, daß er weder Weihnacht noch Mutter habe. Dann ging sie, um auch für ihn das Schüsselchen mit süßem Futter herzurichten, das ihre Kinder als Grundlage der Bescherung erhielten.
Auf diese wirkten die Beweisgründe der Mutter so stark, daß sie beschämt die Köpfe hängen ließen und fortab ernstlich trachteten, ihn zu erfreuen. Sie faßten ihn bei den Händen und führten ihn in die Schulstube, wo ein schmaler, hoher Holzkorb stand, der leer war. Dort setzten sie ihn hinein und schoben ihn, seinen Widerspruch als Bescheidenheit übertäubend, unter ihres Vaters alten Schreibtisch. Er konnte sich nun gar nicht rühren und auf keine Weise herauskommen, es sei denn, daß er sich einen so starken Ruck gab, daß der Korb umkippte. Aber auch dazu bot der Ort nicht genügend Platz. Alle vier Kinder standen davor und beobachteten ihn gütig. Er empfand undeutlich, daß es eine hohe Ehre und Freude war, die er genoß, und mochte deshalb keine Klage anstimmen. So hockte er in gleicher Enge wie einige Stunden vorher, und seine schwarzen Augen glänzten ängstlich unter dem niedern Dach hervor. »Hast du genug?« fragte Elsbeth nach einiger Zeit. »Sollen wir dich nun wieder herausziehen?«
Er erklärte sich gesättigt, und sie suchten nach andern Genüssen für ihn und für sich. Aus der Weihnachtsstube waren sie verbannt. Vater und Mutter hatten sich schon dorthin zurückgezogen zu unergründlichem Tun und sogar das Schlüsselloch von innen mit Watte verstopft. Sie liefen an die Fenster, deren Läden hier nicht geschlossen waren, drückten ihre Gesichter an die Scheiben und starrten mit der ganzen Wonne des Geborgenseins in den Graus. Mit feinem Trommeln warf der Wind noch ganze Ladungen von Schneekörnern gegen das Glas.
Nun verkürzten sie sich die Geduldsprobe durch Turnen an den Geräten, die es im Schulzimmer gab, und erfüllten dabei den Raum mit beträchtlichem Freudengeschrei. Rudi zog sich mit den Händen an schrägen Stangen in die Höhe, Fritz hing am Trapez, das Kleinste versuchte, auf alltägliche Art eine Leiter zu erklimmen, und Elsbeth sauste an den Ringen durch die Luft.
Stumm vor Verwunderung stand Moritzchen. Als der Ältesten Blick beim Schwingen jedoch auf ihn fiel, machte sie plötzlich ein nachdenkliches Gesicht, sprang ab, daß die Eisenreifen aneinander klirrten, und sagte mit schmeichelnder Stimme: »Willst du nicht auch turnen, Moritz? Turne doch auch!« Und ehe er sich dessen versah, hob sie ihn hinan. Er klammerte sich fest und hing mit ängstlicher Miene droben. Sie aber setzte ihn in sanfte Schwingungen. »Ist das nicht schön? Das geht doch fein!«
Moritzchen wäre gern unten gewesen, um seine Wohltäterin jedoch nicht zu verletzen, unterdrückte er diesen Wunsch, bis er sich wirklich nicht mehr halten konnte. Sie nahm ihn dann herab. Und nun kam Rudi herbei, und der ernste Wille, dem kleinen Judenjungen Gutes zu erweisen, lag in seinen Mienen. Er führte ihn zu der schrägen Leiter, zeigte ihm, wie er sich durch Seitenschwingung aufwärts bewegen müsse, und hob ihn hinan. Wieder hing Moritz oben und fürchtete sich. Nach kurzem Pendeln fiel er auch schon auf die Füße.
»Du hättest gern länger dürfen«, sagte der Sohn des Hauses höflich. »Wir haben ja noch die andern Geräte. Willst du noch einmal?«
Doch schon ließ der siebenjährige Blondkopf das niedrig gestellte Trapez im Stich, an dem er sich vergnügt hatte, und rief mit engelgleichem Gesichtsausdruck: »Willst du hier mal hängen?« And Elsbeths starke Arme hoben den Gast zu dem Handgriff empor.
In dieser Stunde, wo drinnen das selige Geheimnis bereitet wurde, übertraf die Menschenliebe der Lehrerkinder sich selbst. Es war kaum etwas, womit sie Moritzchen nicht gern erfreut hätten. Er war schon ganz bleich und erschöpft, aber sobald er an einem Gerät erlahmte, wurde er liebreich zu einem andern geführt und hinangehoben.
Endlich hörten sie hinter der Paradiesestür Schritte. Sie wurde einen Spalt breit aufgetan – der Mutter halbes Gesicht erschien – und ein heller Lichterschein fiel mit heraus. Die Kinder sprangen von den Geräten und standen in lautlosem Schweigen und wußten nicht, daß sie in Kinderweise das Höchste sahen, was Menschen auf Erden zu sehen bekommen: einen Schimmer der ewigen Herrlichkeit als durch einen Spalt hereinfallend, durch den man doch nicht hineinblicken kann – und das halbverhüllte Angesicht der ewigen Liebe! Die Mutter wollte aber nur sehen, ob alle bereit seien, und schloß wieder die Tür.
Auf Umwegen ging sie zu dem alten Meyer Pinkus, der schlummernd und zusammengefallen in des Hausherrn Lehnstuhl hing. Sie zauderte, ob sie ihn wecken solle, doch es schien ihr nicht recht zu sein, wenn sie des Juden Söhnchen mit ihren Kindern zur Weihnachtsfeier holte, ohne es ihn wissen zu lassen.
Sie legte ihm die Land auf die Schulter, und er fuhr mit einem röchelnden Laut auf und starrte sie aus seinen noch immer roten Augen verständnislos an. Als er begriff, stand er aber höflich auf. »Nehmen Sie es nicht übel, werte Frau. Aber die Verführung ist zu groß für meinen Kleinen. Hab ich ihn doch mitgenommen, daß er daheim nicht von Weihnacht hört – und nu soll er hier es mit ansehen?«
In der Tür aber erschien das blasse Gesicht Moritzchens, und seine mächtigen Augen flehten und bettelten. Tränen hingen in seinen Wimpern. »Es würde auch unsern Kindern die Freude stören, wenn ein Kind im Hause nicht teilnähme«, sagte die Hausfrau.
Der Alte wandte sich ab. »Es kann ein jüdisch Kind abwendig machen«, sagte er leise.
»Meine Kinder würden traurig sein –«
»Traurig sollen die Kinder unsrer Wohltäter nicht sein um uns«, rief er. »Dann gehn wir mit – aber geben Sie uns einen Stuhl in einer Ecke, damit wir still dort bleiben.«
Sie wars zufrieden und lief vergnügt wie ein Kind hinaus.
»Moritzche, mein Gold«, vermahnte er seinen Jungen rasch. »Laß dein Herz nicht lecker werden nach ihren Festen – es ist Götzenopfer. Der Einige wolle dir die Augen halten, daß du nichts Verderbliches siehst. Du bist mein einziges Kaddisch. Komm denn, mein Leben.« Und er gedachte mit Seufzen, daß es wohl nicht so gefährlich gewesen wäre, in dem andern Hause die Weihnachtsfeier mit zu erleben.
Der feine Silberton einer Klingel erscholl – der Jude und sein Sohn wußten, daß sie sich nun den Kindern anschließen mußten. In dem Flur standen diese hochatmend und still. Rudi als der älteste ging zur Tür – nicht stürmisch, sondern feierlich – und öffnete sie. Ein Meer von Kerzenschein strömte ihnen entgegen, daß sie davor zurückprallten, und veranlaßte sie, einen Augenblick zu zögern. Dann feierten im Abbilde die Lehrerkinder ihren Eintritt in den Himmelssaal: lauter Licht – lauter Wonne – die lächelnden Gesichter von Vater und Mutter neben dem Baum – und Liebe über Bitten und Verstehn.
Ihre Augen öffneten sich unnatürlich groß, und alle Wachskerzen spiegelten sich darin – in jedem einzelnen Auge war ein kleiner Weihnachtsbaum. Die Wangen glühten, und der Atem ging rasch, weil die Seligkeit die Brust zu sprengen drohte. Sie lachten nicht, sie sprachen nicht – sie standen tiefernst im Übermaß des Entzückens.
Nach Minuten erst löste sich der Zauber, und die Kinder umwandelten den Baum, um ihn von allen Seiten zu betrachten – ein Arm von Vater oder Mutter legte sich ihnen dabei um den Nacken, eine kleine Hand wurde dabei von der elterlichen eingefangen.
Meyer Pinkus hatte sogleich einen Platz in der Ecke erspäht, setzte sich und zog seinen Sohn zwischen seine Knie. »Wir werden viel mehr Lichte aufstecken zum Chanuka, wenn wir daheim sind«, raunte er ihm zu. Moritzchen wunderte sich, daß die Kinder noch immer keinen Blick nach dem mit Geschenken belegten Tisch warfen, den er schon lange entdeckt hatte.
Der Lehrer stimmte an: »Stille Nacht – heilige Nacht«, und eine Oktave höher fielen die Stimmen der vier Kinder und der Mutter ein. »Blinde Nacht –« flüsterte Pinkus.
Nun setzte sich der Lehrer, und Rudi trat vor ihn und begann die Geschichte von der Geburt des Heilandes zu erzählen. Als er ein Stückchen gesprochen, fuhr Elsbeth fort, dann Fritz, und zuletzt stammelte das Allerkleinste die Engelsworte: »Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude.«
Pinkus hatte hierbei mit geschlossenen Augen gesessen und den Kopf seines Knaben fest an sich gedrückt, sodaß dessen Ohren bedeckt waren. Jedoch der Junge konnte noch sehen und der Vater hören, und beiden gemeinsam ging der Eindruck von einer wunderseltsamen Freudenquelle auf, die für die Lehrerfamilie in lauterm Strom rieselte.
Der Hausierer schlug plötzlich die Augen auf und raunte einen hebräischen Spruch. Aber Moritz hatte auch mehr gehört, als er sollte. »Was ist das vom Stern aus Jakob – und Fürst aus Juda – und von Bethlehem Ephrata? Das klingt wie bei uns.«
»Bist du meschugge? Das ist etwas ganz andres – hör nicht danach hin. Sag ich dir das Gesetz nicht jeden Sabbat?«
»Das ist aber streng – darüber freut man sich nicht«, murmelte Moritzchen.
»Red nicht so hoch, Moritzche. Sie hören dich. Können wir uns nicht freuen, wenn wir hören das Gesetz, das gegeben ist allein den Auserwählten?«
Erst die Mutter mußte jetzt die Kinder an den Geschenktisch holen, und auch hier schien sie etwas zu blenden, sodaß sie nicht gleichzeitig alles mit dem Blick zu umfassen wagten. Einzeln nahmen sie die Gegenstände in Besitz, jeden mit einem Wonneausbruch begrüßend. Moritz reckte sich und überschlug den Wert der Sachen und teilte seine Beobachtungen dem Vater flüsternd mit, und dieser freute sich über seine sichere Warenkenntnis.
Der Lehrer kam auf Pinkus zu und gab ihm die Hand, wobei seine Augen wunderbar freundlich durch die Brillengläser leuchteten. »Dort haben wir auch für Ihren Kleinen ein Plätzchen hergerichtet – darf er kommen?«
»Lassen Sie mein Kind nur – ich werde ihm etwas schenken, wenn wir werden zu Hause sein«, sagte der Jude hastig. »Hörst du, Moritzche? Daheim werde ich dir auch etwas schenken.«
Jedoch der Junge bat und bekam seinen Willen. Er wurde an den Tisch geführt, fand das Schüsselchen und daneben einen Gummiball, ein kleines Messer und ein farbiges Bild: Rebekka am Brunnen.
»Die schöne Geschichte ist uns ebenso lieb und wert wie Ihnen«, sagte der Lehrer herzlich zum Vater, der mit herangetreten war.
Moritz, dessen frühreife Züge das Kinderspielzeug zum Lächeln verzogen hatte, betrachtete das biblische Bild neugierig.
»Das hast du doch gewiß schon gesehen?«
»Wir sollen uns kein Bild noch Gleichnis machen«, antwortete Pinkus gedrückt an seines Sohnes Statt. »Er hat keine Bilder zu Hause, aber ich werde es ihm in Verwahrung nehmen.« Er legte es sofort in seine Brieftasche und reichte dem Kleinen zum Entgelt einen Apfel aus seiner Schüssel, wonach er ihn mit sich in den Winkel zurückzog. Während Moritz schmauste, konnte der Alte nicht lassen, das Bild der Freude anzustaunen, das sich um Baum und Tisch breitete.
Hier blickte er in eine Welt, die ihm durchaus fremd war. Kinder schienen ihm die Großen wie die Kleinen zu sein – und zu dem allmächtigen Gott, dem Heiligen und Gerechten, sagten sie »Vater«, und zutraulich und froh redeten sie zu ihm und von ihm! Die Eltern sprachen mit Knaben und Mädchen, als seien diese dem Einigen gegenüber ihre eignen Geschwister, und das »Jesuskind«, das soviel genannt wurde, ihrer aller Bruder. Meyer Pinkus erschrak in seiner Seele über diese Vermessenheit. Er hatte sich immer alt gefühlt und immer nur einen Knecht Jehovas, und nicht einmal seinen Knaben hatte er ein rechtes Kind sein lassen. Früh hatte er ihn an den Sorgen seines Geschäfts, seines Glaubens und seines Volkes teilnehmen lassen und ihn mit dem Gesetz geschreckt, wenn es not tat.
Erstaunt fragte er sich, haben nicht auch sie ihre Last? Der Hausherr trug sein etwas abgeschabtes Gewand sicherlich mit Recht, das er – Pinkus – aus Heuchelei trug, um auch damit zu beweisen, daß er die Ware gewiß nicht billiger lassen könne. Gehn denn diese Leute auf Rosenwolken? Wie anders sie sind!
Der Lehrer trat wieder heran, halb verlegen, als möchte er gern des Kleinen Herz noch mehr erfreuen, und wisse nicht wie. Er legte ihm die Hand auf das krause Haar. Unwillkürlich zog Pinkus seinen Sohne aber näher zu sich heran.
»Er ist mein einziges Kind. Seine Mutter – mit der der Friede sei – hat er nicht mehr. Gestern war die zwölfte Jahrzeit, daß ich mit ihr unter dem Trauhimmel stand. Verzeihen Sie dem fremden Juden, daß er hier daran denkt.«
Als der Lehrer wieder den Rücken gewandt hatte, tuschelte aber Pinkus seinem Jungen ins Ohr: »Moritzche, du mußt den Kindern auch etwas schenken.«
»Ich habe doch nichts«, gab er zu Antwort.
»Kannst du doch geben Ziegenhaare zur Stiftshütte, wo die andern Gold und Silber geben? Ich werde dir etwas holen, daß sie den guten Willen sehen.« Er schlich mühselig und zittrig auf den Flur hinaus, wo in der Ecke sein Tragkorb Platz gefunden hatte, und wählte zwischen den Kleinigkeiten, die der Knecht aus dem Schnee gesammelt hatte, Knöpfe und Zopfbänder aus. Diese legte Moritz auf die Plätze der Kinder und zog sich dann scheu und freudig erregt zurück.
Sie machten ein großes Wesen davon. Besonders die Eltern waren voll Anerkennung und Bewunderung, und Moritz war so glücklich, daß Pinkus fühlte, er habe die Gefahr dieses Abends durch seinen Einfall sehr verschlimmert.
Deshalb stand er auf, sobald die Lichter ausgeblasen waren und die Kinder zu spielen begannen, und bat, seinen Kleinen zur Ruhe bringen zu dürfen nach all der Mühsal des Tages. Dabei fühlte er, daß er selbst bebte und fror und kaum sicher ausschreiten konnte.
Die Lehrersfrau nötigte beiden noch einen Anteil an dem Tee und den Butterbroten auf, die sie bereitgestellt hatte, dann ging sie mit und zeigte ihm die Ruhestatt. Es war eine kleine Kammer auf dem Boden mit dem einzigen Gastbett des Hauses. Neben dieses war der große Lehnstuhl des Hausherrn gestellt. Mehrere Decken lagen darin, und der Ofen war geheizt. Sie schlug das Deckbett zurück und sagte mit leise bedauerndem Blick auf die schimmernde Wäsche:
»Soll ich dem Kleinen ein frisches Hemd geben von Rudolf? Ich sehe es Ihnen an, daß Sie den Stuhl bekommen werden.«
»Ich danke sehr – ich danke. Es werden erst vierzehn Tage, daß er die Wäsche gewechselt hat, Frau Lehrer. Sie haben sich einen Lohn von Gott verdient.«
Als sie hinaus war, half Pinkus mit fliegenden Händen seinem Söhnchen in die Federn. »Fürcht dich nicht, Moritzche, mein Gold – wir werden leben.«
»Ich fürcht mich hier nicht ein bißchen«, erwiderte der Knabe fast trotzig. Dann setzte er nachdenklich hinzu: »Was meinst du – wirst du die Waren aus dem Schnee verkaufen können, wenn sie naß geworden sind?«
»Denk jetzt nicht an die Waren – das Kaddisch ist wichtiger. Und sprich jetzt dein Abendgebet.«
Der Junge gehorchte. »Im Namen des Gottes Israels stehe zu meiner Rechten Michael, zu meiner Linken Gabriel, vor mir Uriel, hinter mir Raphael, und zu meinen Häupten die Schechina Gottes! – Dann kann ich aber nicht schlafen,« setzte er nach einer Pause hinzu. »Warum kann ich nicht etwas andres beten, etwas Freundliches – von großer Freude?«
»Was sagst du?« rief er in sonderbarer Aufregung. »Schlaf noch nicht Moritzche – schlaf noch nicht! Soll ich leben und gesund sein – haben sie deine Ohren betört? Au wehe – wenn ich mich Schiwe setzen müßte, mein einziges Kind zu betrauern – wenn ich und deine Mutter, mit der der Friede sei, den einzigen verlieren müßten, der das Kaddisch für uns spricht! Hast du das gemeint? Dann, Moritzche – schlaf noch nicht – schlaf noch nicht. Dann wollte ich lieber mich Schiwe setzen um ein totes Kind.
»Wenn wir nach Hause kommen, sollst du dir selbst wünschen, was ich dir schenken soll, und du sollst deinen eignen Leuchter haben mit vier Lichtern und sollst ihn selbst anzünden. Wovon reden sie immer? Von einem Kind, Moritzche – von einem kleinen Kind. Wie lächerlich! Wir werden dann die großen Helden feiern und den großen Tempel und den großen Adonai Zebaoth. Schlaf noch nicht ein, Moritzche –
»Und wenn wir in den Laubhütten sitzen werden im Herbst, werden es die Laubhütten sein, die vor viertausend Jahren in der arabischen Wüste gebaut wurden. Die Welt sieht auf unser Volk und unsre Väter mehr als je, und die Heiden von Assur müssen in diesen unsern Tagen aufstehn und Zeugnis ablegen für uns. ›Denn auch die Steine in der Mauer werden schreien, und die Balken im Gesperre werden ihnen antworten,‹ spricht der Prophet. Sagt mir doch immer der Rabbiner davon, was gefunden wird auf Tontafeln und auf Felsen – nämlich, daß unsre Cachomin die Wahrheit gesprochen haben. – Schläfst du, Moritzche?«
»Noch nicht, aber ich bin sehr müde. Sagen denn unsre Cachomin es nicht, was du so gern wissen willst – weshalb du hier allein umhergehn mußt auf den Dörfern und handeln?«
Meyer Pinkus schwieg wieder wie im Schreck. Dann erwiderte er langsam: »Nein – das ist es eben, worüber du nachdenken sollst, wenn du wirst groß sein. – Und – meinetwegen schlaf jetzt.«
Er streifte sich die Gebetriemen über die Stirn und den linken Unterarm und begann stehend sein Abendgebet zu murmeln, doch seine Füße versagten plötzlich. Er fiel in den Lehnstuhl und zog nur noch die Decken zurecht, daß sie ihn einhüllten. Dabei schlugen seine Zähne hörbar aufeinander, und er fand nicht mehr die Kraft, die Riemen abzunehmen. »Wie machst du das Klappern?« fragte Moritzchen schlaftrunken und äugte ihn aus den Kissen verwundert an. Dann war er in Schlummer gesunken.
Mitten in der Nacht erwachte er davon, daß der Vater ihn hart anredete. Er saß weit vorgebeugt im Lehnstuhl und sprach mit beiden Händen durch die Luft greifend und mit schwerer Zunge auf ihn ein, und was er sprach, konnte Moritz nicht recht verstehn, doch die Umrisse seiner Gestalt konnte er in dem fahlen Schein, den der Schnee und der halbe Mond durch das unverhängte Fenster warfen, deutlich erkennen. Er sah auch, daß noch der Gebetsriemen mit der Kapsel um seine Stirn lag, als sei er dort vergessen – und erschrak sehr, denn es sah fast unheimlich aus.
So hatte er ihn noch nie gesehen und gehört. Der Vater sagte ihm vom Kaddisch, um das er ihn nicht betrügen solle, und dann gleich wieder vom Leuchter zum Chanuka. Es war, als spräche er heftige Verwünschungen aus gegen Leute, die seinen Vater am Bart gerauft, und dann fragte er sorgsam, ob Moritzchen auch ganz warm liege, und flehte eine dritte Person an, die nicht im Zimmer war, für Moritzchen vor des Einigen Thron zu bitten; er nannte sie Chane, sein Weib. Er schalt ihn heftig, daß er Götzenopfer gegessen habe, und seine Hände bewegten sich dicht vor des Kleinen Antlitz.
Dieser fürchtete sich sehr. Es sah seinem Vater so ungleich wie möglich, daß er ihn aus dem Schlaf weckte, ihn zu schelten.
»Vater – Vaterleben, bist du krank? Goldner lieber Vater«, sagte Moritzchen ängstlich. »Was hast du? Soll ich Licht machen?« Doch die aufgeregten Hände drückten ihn in die Kissen zurück, und der Alte saß danach eine Weile ganz matt in sich zusammengesunken und atmete sehr leise.
Plötzlich fuhr er auf und sah sich, den Kopf wendend, rings im Zimmer um, und dabei schien es erst aufs neue in sein Bewußtsein einzugehn, wo er war. Er keuchte wie in großer, jäher Angst. »Wir müssen weg von hier – hier können wir nicht bleiben, Moritzchen, mein Gold. Steh auf! Schneit es noch? Laß es schneien – es ist einerlei, wir gehn leise aus dem Hause. Rasch – mach dich fertig.« Er stellte sich selbst auf die Füße, aber fiel kraftlos in den Stuhl zurück, und sein Kopf hing nieder.
Da sprang Moritz aus dem Bett und lief im Hemd wie er war, die Treppe hinab nach Hilfe. Gleich auf der obersten Stufe fing er schon an zu wimmern. Denn er wußte nicht, wo der Lehrer und seine Frau schliefen, sie sollten ihn hören und ihm schon entgegenkommen.
Er hatte richtig gerechnet. Eine Tür tat sich auf, und ein Kopf schaute heraus. Und einige Minuten später liefen die beiden ihm nach zur Kammer.
»Es ist hohes Fieber – und zugleich große Herzschwäche«, sagte die kundige Lehrerfrau, nachdem sie den Kopf und den Puls befühlt hatte, und sah ernsthaft auf ihren Gatten. »Ich mache starken Kaffee und hole gleich Wein.«
Damit war sie wieder fort. Der Lehrer versuchte, den Alten zu entkleiden und ihn ins Bett zu bringen, während Moritzchen leise winselnd sich anzog.
Jedoch Pinkus wehrte mit einer matten Bewegung ab. Es strengte in zu sehr an – er wollte lieber noch etwas sagen, aber konnte auch das fast nicht. Der Lehrer wagte nicht, ihm den Riemen von der Stirn zu nehmen, in die er schon einen roten Streifen gedrückt hatte; er dachte, es sei vielleicht eine jüdische Sitte, ihn zum Sterben zu tragen. Aber er holte leise den Kleinen in seiner halb angezognen Weste herbei und schob ihn an den Vater heran, während er selbst die Hand um Moritzchens Arm legte. Das tat er, damit Pinkus empfinde, daß sein Junge auch später vielleicht eine väterliche Hand spüren werde, und gelobte sichs, daß er dies Zeichen, wenn es sein müsse, wahrmachen wolle.
Der Hausierer sah es und nickte. »Aber nicht – daß ich mein Kaddisch verlier« – flüsterte er.
»Ihr Sohn soll das Beten nicht verlernen – und seine Eltern nicht vergessen«, war des Lehrers Antwort. Da fing Moritz laut an zu weinen.
»Er hat zu leben! Nur – lernen soll er – lernen von unserm Volk – und all den Zeugen. Und mir dann sagen – warum – warum dies alles so ist.«
»Warum unsre Leut jetzt hier in der Fremde gehn und handeln?« half der Junge ihm schluchzend ein. »Meinst du das?«
»Ja – dem denk nach.«
Diese in unsäglicher Mattheit geformten Worte blieben die letzten, die der alte Meyer Pinkus zu seinem Sohne sprach.