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Schon vier Monate nach dem Tode des Chaim Rosenstock bestieg seine Witwe, Frau Malke, mit ihrer ältesten Tochter ein Einspännerwägelein, um sie dem Eidam zur Hochzeit zu überbringen. Man nahm es ihr im Städtchen nicht übel, daß sie sich durch die Trauergebräuche nicht länger hindern ließ, des verstorbnen Ehemanns Willen auszuführen, denn alle wußten, daß sie seine Seele – falls diese etwas davon erfuhr – nur damit erfreuen konnte. Miriam war volle siebzehn – schrie es nicht zum Regierer der Welt, daß noch kein Vater eines heiratsfähigen jungen Mannes und nur erst ein einzigesmal der Botenläufer eines Schadchens um ihretwillen die Türklinke ihres Vaterhauses in die Hand genommen hatte?! Und nicht allein, daß der Schenkwirt Rosenstock seiner Tochter noch kurz vor seinem Ende den Bräutigam selbst aufgesprochen hatte – es war auch seine Absicht gewesen, sein Kind schon nach einer Brautzeit von vierzehn Tagen unter den Trauhimmel zu führen, denn vier jüngere Töchter wuchsen nach und mußten ebenfalls in kurzem mit Männern versorgt werden; die aufgebrochne Rose mußte vom Stock, damit sich die Knospen auch noch entwickeln konnten.
Deshalb war Frau Malke eines guten und gerechten Muts, als sie sich auf dem Wagen zurechte setzte. Sie ermahnte ihre Tochter, auf ihr Gesicht zu achten, daß es fröhlich sei, wenn man nun durch die Straßen fahren werde, und griff nach Zügel und Peitsche. Neun Gulden kostete das Gefährt auf drei Tage; Frau Malke war seit ihrer eignen Hochzeit nicht im selbstgemieteten Wagen gefahren und wußte noch nicht genau, wo sie das Geld hernehmen würde, aber wie eines Schnorrers Kind sollte Miriam nicht in das Haus des reichen Herrn Alexander Welt kommen, der des Bräutigams Vetter war, und bei dem die Hochzeit gefeiert werden sollte. Wie eines Schnorrers Kind sollte sie nicht aus dem Vaterhause gehn – obwohl ihr Vater wirklich einstmals ein solcher gewesen war! Sie schob ihr Kopftuch zurück, damit es ihre glänzende, perlengestickte Stirnbinde nicht verdecke, und ermunterte das magre Pferd zu etwas flotterer Gangart. Mit blanken Augen verfolgten den prächtigen Aufzug von der Tür der Schenke aus die vier kleinern Mädchen, die im Schutz der alten Schabbesgoje Christliche Dienerin, die am Sabbat in jüdischen Familien die verbotnen Arbeiten ausführt. Ivona zurückblieben. Diese hatte der jüngsten die Hand auf den Kopf gelegt und sagte zu einigen umstehenden Frauen weichmütig: »Schad' beinah, es is nur wegen – sie hatt' 'ne Stimm wie 'ne Harf! Wie lang singen die Schwestern noch? Dann dürfen auch sie nicht mehr.«
Ein alter jüdischer Schuhmacher, der herangetreten war, erwiderte jedoch unbewegt wie mit Schicksalsstimme: »Ein jüdisch Kind soll man verheiraten so bald als nur möglich, es ist besser als singen.« Er besorgte selbst in der Stille mit viel Umsicht die Geschäfte eines Heiratsvermittlers, hatte aber mit des blutarmen Pachtschenkwirts Tochter bisher nichts anzufangen gewußt. Denn was nützte ihre seltne, feine Schönheit beim Hörensagen? Und wog sie die Mittellosigkeit etwa auf? »Es ist ein großes Glück für Malke Rosenstock. Nu – über a Jahr in Freiden!«
»Mit Glück sollen Se Ihre Tochter unter die Chuppe Trauhimmel. führen!« – »Lebt gesund!« – »Gesund und stark soll se bleiben!« Solche Abschiedsgrüße kamen von vielen Lippen, und viele freundliche Blicke folgten dem Gefährt, als es über das Pflaster klapperte, nicht ein einziger unfreundlicher, obwohl aus allen Fenstern und von jeder Haustür Leute schauten.
Als Mutter und Tochter das letzte Haus hinter sich hatten, durfte der Braune gemächlich gehn; Frau Malke steckte die Peitsche weg und ließ sich an die Lehne sinken. Sie betrachtete verstohlen forschend ihre Tochter und fand in ihrem Gesicht eine Erregung, die nicht von Glück oder Freude kam – fand die Unruhe der Angst darin, die ihre Augen umherleuchten und weit vorausspähen ließ. Das beschwerte ihr mütterliches Herz, und sie sagte ermutigend: »Miriam, ich weiß, daß du nicht bist fröhlich, aber du bist immer ein gehorsam Kind gewesen. Und dein Vater – mit dem der Friede sei – hat an dir gehandelt wie ein guter Vater. Er hat zu mir gesagt: Malke, hat er gesagt, du mußt achtgeben auf Miriam und ihr die Feigelech Vögelchen. aus dem Kopf heraustreiben, damit kein Unglück entsteht: sie hat es mit dem daitsch Lesen! Laß sie bald werden eine gute jüdische Hausfrau, sonst wird sie noch werden daitsch, oder wird werden meschugge, oder vielleicht auch wird sie die Liebe bekommen, denn davon ist in allen Büchern! Doch du willst ein gut gehorsam Kind sein, das hab ich gesehen, und auch daß du noch den Verstand hast; aber was ist es, daß du machst ein Gesicht, als fürchtetest du dich, oder als wärst du krank? Das muß ich dich fragen: hast du die Lieb? Gott soll dich bewahren! Oder ist es 'ne andre Kränk?«
Miriam wurde rot, während sie ein wenig lachte, wie ein großes Kind lacht, wenn ihm zum erstenmal diese Frage der Erwachsnen vorgelegt wird. Lachend wehrte sie ab, jedoch ihr Gesicht nahm seinen düstern Ausdruck rasch wieder an. »Die Lieb? Ich weiß nicht, wie sie ist, aber sie kann es nicht sein. Hab ich jemals mit einem jungen Manne gesprochen oder bin ich allein mit einem gegangen?«
Die Mutter sah sie überrascht an. »Woher weißt du denn, daß das zur Lieb gehört? Aus den Büchern, die dir Reb Levy geliehen hat? Wie ist es möglich, daß ein alter Lehrer macht solche Dummheiten! Sprich, waren es lauter Liebesbücher? Sprich die Wahrheit!«
»Liebesbücher nicht, es waren meist Spiele von Schiller – darin war viel von Volk und Freiheit und Recht, sehr schöne Spiele! Aber es war etwas auch von Liebe darin, und das Mädchen wurde immer selbst gefragt, ob es den Bräutigam wollte.«
»Das sind Christenmoden. Die Unsern wissen – dem Einigen sei Dank –, daß ein jüdisch Kind nicht aus Liebe heiratet, und daß des Einigen Wille und der Segen vom Vater und Mutter mehr ist. Hättest du vielleicht wollen aus ›Liebe‹ heiraten?« Sie betonte das Wort spöttisch.
»Gewiß nicht!« beeilte sich Miriam zu versichern. »Aber warum kann ein jüdisch Kind nicht selbst den Mann sehen und sagen, ob es ihn mag, da es doch immer bei ihm bleiben soll?«
»Was sind das für Gedanken? Hat deine Mutter sich den Mann selbst gesucht? Haben die Frauen, die du kennst, es getan? Dafür hat ein Kind seine Eltern; die kennen die Welt und werden richtig wählen. Dafür hat der Einige uns tüchtige und geschickte Marschalliks Galizische Heiratsvermittler. gegeben, die ein Auge dafür haben, was zusammenpaßt.«
»Und doch wollte Leib Krakauer mich für den alten Felderbaum, der eben aus dem Kriminal kam und sechs Kinder hat«, warf Miriam mit einem Anflug von Entrüstung ein.
Frau Malke erwiderte ein wenig verlegen: »Nu – dein Vater, mit dem der Friede sei, hat auch nein gesagt.«
»Ich hätte selbst nein gesagt.«
»Und statt dessen hat er dir den Bräutigam ausgesucht, den du jetzt hast. Dafür wirst du ihm noch danken.«
»Ich kann noch nicht wissen, ob ich werde – wenn ich ihn gesehen hätte, würde ich es wissen.« Miriams feuchte Gazellenaugen schienen noch größer und dunkler zu werden. »Willst du mir nun endlich sagen, wem er gleich sieht, damit ich nicht erschrecken muß und ihn sofort kenne, wenn er uns dort hinterm Wald begegnet?«
»Was weiß ich? Ich bin eine alte Frau und weiß nicht mehr, wie junge Leute aussehen sollen. Er ist schlank wie ein Reet und zwanzig Jahr – Jugend ist immer schön. Denk lieber daran, welche Mühe es den Vater – mit dem der Friede sei – gekostet hat, wie er hat suchen müssen – wie manchen Abschlag er sich geholt hat! Um armen Mannes Kind reißen die Leut sich nicht, besonders wenn noch da sind vier Schwestern und kein Sohn. Nach guter Leute Kindern rennen sich die Schadchen Hack und Zehe ab, aber zu uns kam nur der eine – der wegen des alten Felderbaum. Dankbar müssen wir sein deinem Bräutigam, daß er dich will lassen gut genug sein – und auch seinem Vetter, daß er ihm will zu einer Stellung helfen in seinem Geschäft, sodaß Schlome Naphtali nicht auf deine Mitgift zu sehen braucht. Dankbar müssen wir deinem Bräutigam beide sein, und ich hoffe, du wirst ihm das sagen, wenn er nun bald zu uns auf den Wagen steigen wird. Er geht seiner Braut entgegen! Dein Vater – mit dem der Friede sei – ist mir nicht entgegengekommen, und ich sah ihn erst unter der Chuppe.«
»Ist er groß?« fragte Miriam.
»Was soll ich sagen, ob er ist groß? Er ist nicht groß gegen einen Riesen, aber er ist groß gegen ein Kind. Er ist groß genug.«
Miriam reckte sich im Sitz auf und unterstützte noch mit den forschenden Augen ihre ausweichend beantwortete Frage. »Dann mag er doch noch klein sein?«
»Er greift nicht in die Dachrinnen. Gott hat ihn davor bewahrt, daß die Kinder ihm nachlaufen und rufen: Seht den hohen Philister! Der Allmächtige hat ihn nicht in die Höhe schießen lassen – was soll ich sagen? Er ist als kleines Kind gefallen und biegt sich ein wenig zur rechten Seite. Wenn du neben ihm gehn wirst, wird man meinen, er biegt sich zu dir – er will dir leise etwas sagen.«
Miriam sah sehr ernst und nachdenklich geradeaus. Die Mutter brachte mit Hilfe der Peitsche den Gaul wieder zum Traben; es schien ihr richtig, nachdem Miriam sich aufs Fragen verlegt hatte, die Zeit bis zum Treffen des Bräutigams möglichst abzukürzen. Auf dem übeln Landwege wurden sie so heftig zusammengerüttelt, daß sie nicht sprechen durften, um sich nicht auf die Zunge zu beißen.
Lange Zeit widerfuhr dem Braunen keine Nachsicht. Andre Fuhrwerke begegneten ihnen – dürftige Gespanne, kleine fuchsfarbne russische Steppenpferde, schlecht gefüttert und ungeputzt, sodaß sie magern Ziegen ähnlich sahen. Ruthenische Bauern – einmal ein jüdischer Dorfgeher, der es bis zum Fuhrwerksbesitzer gebracht hatte – lenkten sie. Die Sonne warf ihr Licht über den stahlblauen Himmel und über die ungeheure Ebene, in deren Einerlei nur Wald und zahlreiche Wasserstellen Abwechslung brachten. Des Rosses Fell feuchtete sich, und damit hielt es den Beweis für erbracht, daß es auf bedächtigen Schritt wieder Anspruch habe. Auf dem ganzen Wege wurde ihm keine Teilnahme, kein freundliches Wort von den beiden Insassinnen; Mitempfinden mit Tieren lag wenig in ihrer Art.
Nun aber war Miriam wieder mit einer neuen Frage da: »Ist er klug?« forschte sie.
Darauf konnte Frau Malke freudig antworten. »Und ob er klug ist!« rief sie. »Du weiß doch, daß er zwei Jahre war ein Jeschina-Bocher Talmudschüler., bis er zum Daniel Feiwel in die Schreibstube kam! Er hat Verdienst vor Gott mit seiner Klugheit! Er hat in der Auslegung dem Lehrer widerstanden und auch dem alten Mendel, der doch auch ist ein feiner Kopf! Und nun hat der Herr Alexander Welt nichts Besseres gewußt, als seinen Verwandten in sein Geschäft nehmen. Warum? Weil er klug ist!«
Miriam kroch in sich zusammen. Ja wahrlich, wie hätte sie, die über das Städtchen niemals hinausgeschaut hatte, selbst über sich entscheiden sollen?! Sie hatte als rechtschaffen erzognes Kind Israels bis dahin weder den Leichtsinn der Jugend noch ihre Schwärmerei gepflegt und hatte ihren Eltern noch niemals Kummer gemacht, außer dem einen großen, daß sie als Mädchen zur Welt gekommen war und als Anführerin von noch vier Töchterlein sie um das Kaddisch Gebete für das Seelenheil verstorbner Eltern. Nur ein Sohn kann sie verrichten. betrogen hatte. Dem Vater hatte sie besonders nahegestanden, sodaß er selbst über ihr unnützes Bücherlesen ein Auge zudrückte. Das Schnorrertum, das seltsame Wanderleben eines Botengängers, Volkserzählers, Gelegenheitshändlers und rundreisenden Gastes hatte sein geistiges Gesichtsfeld erweitert. Von dieser Zeit, die seinem Einheiraten in die Schenkwirtschaft vorausgegangen war, sprach er zu seinen Kindern selten, aber seine Älteste genoß ihretwegen den Vorzug, verstohlen in Abendstunden auf ihrer Kammer lesen zu dürfen. Außer Schillers Werken waren es nur kleine talmudische Traktathefte, die vom König David und von der Königin von Saba erzählten, und ein Buch, das die Verfolgungen schilderte, die das Volk Gottes von je in allen Ländern erduldet hatte. Aber diese Bücher schürten die milde Glut edler Leidenschaften, die auch in ihr unbedeutendes Herz gelegt waren, und machten ihren Geist ein wenig stolzer und freier, ohne daß sie doch recht wußte, wohin damit.
»Dein ganzes Heiratsgut ist eine Aktie von der versoffnen Theresiengrube, die der Herr von Konczysta deinem Vater – mit dem der Friede sei – aufgehängt hat. Er wollte sie schon ins Feuer werfen, aber ich habe sie weggerissen; man kann doch nicht wissen. Sie soll gelten dreihundert Gulden und gilt nicht zwei Gulden, aber wenn etwas damit zu machen ist, so wird Schlome es machen. So klug ist er.« Ein ansteigender Sandweg war zu nehmen. Frau Malke ließ die Zügel hängen und suchte aus einer Ledertasche ein Papier hervor, das sie auf ihren Knien ausbreitete. Es war der Verlobungsvertrag – es schien ihr nützlich, noch einmal darauf hinzuweisen. »Du wirst deines armen Vaters – mit dem der Friede sei – Jahrzeit halten lassen können, und an Mitteln dazu fehlt dirs nicht. Hier lies noch einmal alles, damit du es recht im Gedächtnis hast, wenn er kommt.«
Miriam beugte ihren rotbraunen Kopf über das Schriftstück, und über der Mutter Gesicht zog nun, da sie sich eine Weile unbeachtet wußte, ein verängsteter und vergrämter Ausdruck. Ihre demütigen Augen suchten in der Ferne den Schornstein, der zu der großen Dampfsägerei des Herrn Alexander Welt gehörte – des reichen Mannes, der die Hochzeit ausrichten wollte, damit diese nicht im Trauerhause stattzufinden brauchte. Ob es ihrem Kinde gelingen würde – schön und lieblich, voll guter Gaben und guten Willens, wie es war, all die Klugheit und das Geld auf der andern Seite aufzuwiegen? Reichlich schmächtig war sie. Vielleicht aber gewann sie in dem bequemen Leben, das sie neben einem wohlgestellten Manne führen konnte, mit der Zeit noch die Fülle des landesgemäßen Schönheitsideals. Sie selbst, Frau Malke, hatte nur niemals Ruhe und Pflege genug gehabt, sich demgemäß zu entwickeln. – Mit dem Finger zeigte sie endlich auf die Unterschrift, diese laut lesend: »In der Stadt der Verbannung Desnice am siebenten des Monats Adar im Jahre 5665 nach Erschaffung der Welt. Malke Rosenstock, des Schenkwirts Chaim Rosenstock Witwe – Salomon Naphtali.« Und sie fügte hinzu: »Der Herr Alexander Welt hat den Vertrag auch gesehen und gutgeheißen. Bis zu hundert Jahr soll er dafür leben!«
»Das soll er – und noch mehr! Weil er ganz Israel hilft!« rief Miriam, sich wieder aufrichtend, mit plötzlichem Eifer. »Er ist ein großer und guter Mann und gibt beinahe sein ganzes Leben und alles, was er hat, für Israel – ich habe von ihm gelesen. Es war in einem Blatt, das Reb Levy mir auch gegeben hat – von den Zions – von den Zionisten. Er ist einer von denen, die sagen, Israel soll sein Land wiedernehmen, unsre Propheten haben es gesagt, und jetzt ist es an der Zeit! Er macht Reisen zu den Versammlungen und ist in Jerusalem gewesen, und er führt Auswandrer und bringt sie ins Schiff und zahlt für viele. Er ist einer von den Häuptern. Und dafür soll er stark und gesund sein und hundert Jahr leben!«
»Ja, Gott geb ihm a Sach!« stimmte die Mutter bei. »Wir sind arme Leut und können so weit nicht fortdenken. Wir sind still, wenn der Einige uns selbst erhält, und dein Bräutigam wird von solchen Gedanken nichts halten.«
Miriam tat die Flügel wieder zusammen. Das eben noch erhellte Gesicht wurde von dem frühern Schatten bedeckt. »Ich weiß noch immer nicht, wie er aussieht«, sagte sie ergeben.
»Was brauchst du es genau zu wissen? Du wirst es früh genug sehen. Ein jüdisch Herz ist die Hauptsache, und ein jüdisch Herz hat er.« Der Mutter eigne Unruhe war groß, und sie wünschte, die nächste Stunde hinter sich zu haben. Es war ihr wahrlich nicht einerlei, ob ihr Kind dann zufrieden und mit sanfter Fröhlichkeit neben dem Bräutigam saß oder – erschrocken. »Du wirst bange sein, aber so bist du noch vor allen Menschen«, sagte sie, und nach einer Pause, in der nur das Mahlen der Räder und das Schnauben des Pferdes hörbar war, fügte sie klopfenden Herzens, aber im Tone gleichmütiger Selbstverständlichkeit hinzu: »Das eine kann ich dir noch sagen: Gott hat seine Augen nicht gleich geschaffen; er hat ihm ein gerades gegeben und eins, das zur Seite schaut. Aber du wirst bald wissen, in welches du sehen mußt. Und wenn er nun bald da ist – hinter dem Wald, dann wirst du dich halten, wie sichs ziemt, und ihn nicht merken lassen, daß du nicht voll Freude bist. Kannte Rebekka ihren Verlobten, als sie ihm entgegenzog? Und doch fiel sie von ihrem Kamel, als er über die Höhe kam, und betete an zur Erde.«
Miriam sagte nun nichts mehr – blaß und beklommen spähte sie voraus nach einer menschlichen Gestalt. Die Mutter gab dem Braunen kräftig die Peitsche; keine von beiden achtete auf den Duft des Nadelwaldes, an dessen Rande sie entlang fuhren.
Nun schien der Tag durch die letzten Stämme. Schlome Naphtali schien nicht da zu sein, und Miriam atmete auf. Dann aber wurde am Graben ein schwarzer, etwas zur Seite gesunkner Pfahl lebendig, den sie zuweilen ins Auge gefaßt und für eine Wegbezeichnung gehalten hatte. Der Erwartete erhob sich leibhaftig von der Wegkante, auf der er geruht hatte, stand und schaute ihnen entgegen – eine kleine, engbrüstige Gestalt, schräg nach vorn übergeneigt. Der zugeknöpfte Kaftan ließ ihn noch dünner und verbogner erscheinen.
Miriam sah hin – schaute weg – und mußte wieder hinsehen. In einer Sekunde erfaßte sie das Besondre dieser Erscheinung. Sein Gesicht war blaß und hager, und zwei rasche dunkle Augen funkelten darin. Weil sie sich durch ihre Farbe und ihre Beweglichkeit so stark von dem übrigen Gesicht abhoben, fiel um so mehr ihre unrechte Stellung auf, und es schien Miriam zuerst, als sehe er sie gar nicht an. Sie zwang sich zur Ruhe. Frau Malke hielt an, er reichte beiden die Hand und kletterte beschwerlich wie ein alter Mann auf den Wagen, wo er auf dem Hauptsitz hinter den beiden Frauen Platz nahm. Diese rückten sich ihm zu, sodaß ein bequemes Gespräch möglich wurde.
Ernsten Angesichts fragte er nach der Gesundheit von Schwiegermutter und Braut und konnte dann auf Befragen auch über das Ergehn seines Vetters Rühmliches berichten. Ihm vermischte sich die Gesundheitsfrage eng mit dem geschäftlichen Gedeihen, über das er genau unterrichtet war.
Alexanders Dampfsägerei blühte – war das nicht Gesundheit? Der Löhnungstag machte nur ein kleines Loch in der stetig anschwellenden Kasse – waren das nicht rote Wangen? Er mußte zur Ausdehnung seiner Lagerplätze Land hinzukaufen – war das nicht Kraft? Und das geschah sogar fast zu Unrecht, nämlich obgleich der Mann – Schlomes Meinung nach – seinem Betriebe nur halbe Aufmerksamkeit schenkte, ihn eigentlich nur als Mittel zu einem ganz abgelegnen Zweck gebrauchte. Er war nämlich ein höchst sonderbarer Mensch: dem Glauben hing er nicht mehr richtig an und doch seinem Volke mehr als irgend jemand, den Schlome kannte. Er – Schlome Naphtali – stand für nichts ein; er hatte sich nur vorgenommen, sich fest auf den Füßen zu halten, wenn er eines Tages hören würde, daß der Vetter sich geschmadt Die Taufe genommen, sich ausrotten lassen. habe. Freilich richtig schmadden wolle er sich doch nicht! Das Tollste und geradezu Unverständliche bei der Sache sei nämlich, daß der Vetter wohl die Taufe nehme, aber dennoch nicht den Vorteil davon. »Wenn er will ein Geschäftsmann im Großen sein mit Verbindungen überall, warum dann nicht den Vorteil davon nehmen? Dann steht ihm alles frei und offen – nu hat er immer Kampf, immer Hindernis und Zurücksetzung, denn die Anti – der Schlag soll se treffen! – haben die Macht! Ist das ein Geschäftsmann? Er hält Sabbat und Feste so streng wie ein Chassid – denkt den Stuß: taufen und doch von der Jüdischkeit nicht lassen!«
»Und die Sünd, daß er nicht geheiratet hat!« bemerkte Miriam schüchtern, um der Entrüstung des Bräutigams irgendwie beizupflichten. Sie fand es in Wirklichkeit keine Sünde, hätte es auch von Schlome keine Sünde gefunden, fand sich nur selbst sehr töricht, als sie es gesagt, und schämte sich.
»Es ist wegen dem Gedanken – mit unserm Volk.«
»Der Einige verzeih ihm die Sünd!« rief auch Frau Malke schmerzlich. »Das Volk? Nichts ist ihm wohlgefälliger als die Vermehrung seines Volks.«
»Mir kanns freilich recht sein.« Schlomes gerade, dünne Lippen zogen sich zu leisem Schmunzeln. »Und fünfunddreißig ist er schon! Nähere Verwandte als mich hat er nicht! Aber denkt, welchen Vorteil er könnt haben. Am Sonntag darf er jetzt nicht arbeiten – am Sabbat will er nicht. Wenn er Sabbat nicht zu halten brauchte – wie wird aufblühen das Geschäft. Noch ganz anders!«
»Gott erhalt den Verstand jedem Ben Israel«, sagte Frau Malke inbrünstig, »und bewahr euch vor dem Schimpf, daß er noch wird ein Meschummad! Abtrünniger. Was ist denn nun Ihre Sach im Geschäft – Herr Schwiegersohn?«
Jetzt lächelte Schlome wirklich. Mit unbeschreiblichem Lächeln in den Augen, den Schultern, den Händen, dem ganzen schiefen Körper – wie nur einer von Israel lächeln kann, genoß er die Mitteilung, die er machen wollte, vorher auf der Zunge. Auf diese Frage hatte er gewartet. Miriam betrachtete ihn scheu. Bisher hatte sie nur mit flüchtigen Streifblicken wahrgenommen, daß sein Kaftan fast neu und fast wie der eines Rabbiners geschnitten, daß seine Schläfenlöckchen sorgfältig gedreht waren, daß die Stiefel erst kürzlich gewichst und die Hände rein gewaschen waren, wenngleich die Fingernägel dieser plötzlichen Reinigung noch widerstanden hatten. Das alles gab ihm etwas noch Feierlicheres und Bedeutsameres und verbriefte für sie jedes Wort, das er sprach. Er wandte sich hauptsächlich an Frau Malke, wie der gute Brauch nicht anders gestattete, aber mehrmals antwortete irrtümlich Miriam mit bescheidner Zustimmung, wenn sein links wegschießendes Auge sie gestreift hatte. Es war ihr peinlich, daß sie oft nicht wußte, ob er sie oder die Mutter angesehen hatte.
O sie wußte, daß es unverdientes Glück war, wenn ein so ausgezeichneter junger Mann sie begehrte, der alle Dinge so klug und scharf zu beurteilen wußte!
Schlomes Verstand war durch seine frühen Talmudstudien in außerordentlicher Weise geschliffen und zugespitzt worden. Er holte nun weit aus und begann zu sagen, welche vorzügliche Schule er lange Zeit auch noch bei dem Agenten und Winkelschreiber Morgenrot durchgemacht habe, denn jetzt fühle er sich den verwickeltsten Geschäftslagen gewachsen. Sein Reichwerden im Geschäft Alexander Welts sei jetzt nur noch eine Frage der Zeit. »Was hat die großen Leute von Amerika heraufgebracht aus dem Straßenstaub?« rief er eifrig, »die eiserne Energie – die Sparsamkeit – und der feine Kopf!« Und er schilderte mit leidenschaftlicher Beredsamkeit die Mühen und Plagen und die Siege aufstrebender junger Geldleute. Von jedem einzelnen der Milliardäre kannte er auf das genauste die Lebensgeschichte; er wußte, was jeder entbehrt und gewagt hatte. In Schulterhöhe griffen seine Finger und Hände dabei erläuternd durch die Luft; das Cheder Die jüdische Volksschule Polens. mit seinen oft nicht mehr ganz in Worte zu fassenden Spitzfindigkeiten hatte bei ihm wie bei den meisten jüdischen Männern diese Angewohnheit bewirkt, und seine verlängerte Schulzeit hatte sie noch gesteigert. Säcke Goldes phantasierte er so zusammen. Miriam fühlte sich wie gebannt und dennoch nicht angezogen. Jedoch Bewunderung für seine Geisteskraft weckte er in ihr. So weitschauend – so hochstrebend – so siegessicher hatte sie noch niemand reden hören. Sie und ihre Mutter wären zu bescheiden gewesen, von mehr als dreihundert Gulden überhaupt zu sprechen – ja ihre Phantasie hätte versagt. Ihr schwindelte, wenn sie sich diese Zahlen vorzustellen versuchte. Sie dachte an die Säcke voll Korn, die verschuldete Bauern zuweilen dem Vater zur Zahlung gebracht hatten, und konnte sich doch an der Vorstellung gar nicht freuen, daß auf dem Flur von ihrem und Schlomes Hause diese Säcke einmal mit Gold und Silber gefüllt stehn würden – wußte nicht, was man damit anfangen werde. »Arbeit, eiserne Arbeit gehört dazu«, hörte sie ihren Bräutigam sagen, »und zweitens Entsagung, Verzicht auf den Schlaf am Morgen und am Abend und auf die Ruhe nach dem Mittag, auf unnützes Reden und Spielen und Dummheiten und Liebe und Freundschaften. Herr Welt hat wohl gewußt, was er tat, als er mich genommen hat zu seinem Gehilfen. Ich habe eine glückliche Hand, und das Geschäft wird werden ein Riesengeschäft, und daß ichs nur gleich sage im Vertrauen: es soll später doch einmal werden mein eigen!«
»Gott über Israel! Ist es möglich?« rief Frau Malke ganz entsetzt.
»Nu – for wus net? Wird es nicht sein nur gerecht, wenn ich ihm hab sein Geschäft so in die Höh gebracht? Er wird noch mehr tun für mich, wenn nämlich Miriam ihm gefallen wird, er vergißt dann seinen Vorteil ganz. Haben Sie die Grubenaktie bei sich, die das Heiratsgut ist von Ihrem Kind? Geben Sie nur schon her, er wird sie mir abkaufen zum vollen Wert, denn ich meine wirklich, Miriam wird ihm gefallen.« Es war die erste mittelbare Äußerung seines eignen Gefallens, und Miriam senkte den Kopf.
Die Mutter hielt das Pferd an, suchte aus der Handtasche das Papier hervor; die Erwartung, daß der Eidam noch etwas daraus machen werde, erregte sie so, daß ihre Hände zitterten. Auch Miriam gefiel es, daß ihr Heiratsgut noch einen Wert bekommen sollte, und sie sah interessiert der Übergabe zu. Nun erhielt sie auch die erste gerade Anrede ihres Verlobten. »Du mußt zugleich zutraulich und lieblich sein, Miriam, dann wird es sich schon machen, und ich sage, er kennt keine fremden Papiere. Du mußt ihm gut zuhören, wenn er dir erzählt seine meschuggen Ideen und fragen und dich lassen belehren, dann gefällst du ihm, und dann kauft er das Papier.
Wenn er eingeht auf meinen Plan, werden wir nicht bei ihm wohnen auf schlesischem Boden, sondern hinter der Grenz bleiben. So ist etwas zu machen! Er muß noch eine Stuhlfabrik bauen, und ich handel bei uns das Holz und nachher wieder die Möbel. Das Holz wächst bei uns – Erlen und Nußbaum und Tannen genug, aber wer hat bei uns Geld und Verstand, Möbel daraus zu machen im Großen? Die Bäume gehn über die Grenz und kommen von Schlesien zurück für teures Geld als Hausrat; daher ist die Armut bei uns! So ist es auch mit unsrer Wolle und den schlesischen Tuchwaren: wer hat bei uns Verstand und Geld zusammen, etwas zu wagen? Denkt – wenn das Geschäft wird sein ein und dasselbe vor und hinter der Grenz! Gott soll es noch wachsen lassen! Und daneben – was ist sonst alle Tage zu verdienen! Wo verkauft wird ein Rittergut oder Bauernhof, wo gemacht wird ein Geldgeschäft vom Schlachziz, wo er Vieh kauft und Korn verkauft und einen Vertrag schließt. Er braucht uns, denn warum soll er sich selbst zerbrechen seine ritterliche Stirn mit Kopfrechnen?« Schlome war sehr klug. Er ermahnte auch Miriam und sagte, wie ein gutes Weib den Mann mit aller Zähigkeit unterstützen müsse, wie es sich und die Kinder immer auf das Notwendigste beschränken müsse; dann werde auch sie das goldne Glück hereinquellen sehen. Er wußte genau, was er von sich und seinem Weibe zu verlangen hatte.
Auf dem ganzen Wege sprach er fast allein. Miriams Gesicht wurde immer schmaler und blässer neben ihm, ihre Augen immer größer, während Schlome zu wachsen und in die Breite zu gehn schien. Sie vermutete, daß er dank seiner besondern Augenstellung noch besondre Umsicht besitze. Wenn er mit dem geraden Auge das Kaufgeschäft regierte, konnte er mit dem schrägen sicherlich zugleich noch immer ein Nebengeschäft aufspüren, das sich machen ließ. Seine Klugheit und Zuversicht erschienen ihr als etwas Großes, und sie dachte darüber nach, weshalb Schiller, der soviel Großes kannte, von dieser Größe in seinen Spielen nichts gesagt habe.
Und Schlome redete keineswegs scharf mit ihr; er war voll guten Vertrauens, daß auch sie wollen würde, wie er wollte. Er konnte nicht wissen, daß sie sich jeden Abend, seitdem die Mutter mit dem Verlobungskontrakt nach Hause gekommen war, über ihrem Gebetbuch mit Tränen auf die Trauung vorbereitet hatte, und daß ihr Hirn jede Nacht eine Walstatt ängstlicher Träume gewesen war.
»Es wird gut sein, wenn Miriam dem Vetter gefällt«, betonte er noch einmal. »Er kann wenig geben und kann viel geben, wie er will – bis er einmal alles geben muß, weil ers nicht mitnehmen kann ins Grab.«
»Sie reden vom Grab, und er ist doch selbst noch jung«, mahnte Frau Malke bescheiden.
»Aber viel älter, als ich! Ich mein, es kommt darauf an, ob Miriam helfen kann, ihm auszutreiben seine Zionsgedanken, daß er zufrieden wird, sich zu freuen am Geschäft und an unserm Glück – oder ob die Gedanken am Ende gar noch mächtiger werden und noch mehr Geld verzehren. Er ist sehr fest in den unsinnigen Gedanken, er hat gedeutet, daß er kein Weib nehmen kann für sein unruhiges Leben, es müßte einen zu starken Geist und Mut haben und nicht kindisch sein.« Hier sah er Miriam an und bemerkte eine Träne an ihrer Wimper.
»Wie haißt? wer wird denn weinen? Wenn meine Braut nicht vernünftiger aussieht, wird der Vetter nichts von der Heirat wissen wollen.«
»Gott soll uns behüten!« rief Frau Malke erschreckt.
Nun wischte Miriam das Naß weg. Ihre Gedanken waren flink zu den Büchern des Schiller fortgeschlüpft, und ihr war eingefallen, daß vielleicht des Herrn Welt Art zu Schiller paßte. Sie hatte schon früher manchmal an den Befreiungskrieg der Makkabäer denken müssen, als sie die Jungfrau von Orleans las. Nun aber war sie wieder bei Schlome.
Eine still begeisterte Erregung hatte ihre Lider feucht gemacht.
So fuhren sie zwei Stunden auf ausgefahrnen Wegen dahin. Endlich gegen Sonnenuntergang kamen sie an das Sägewerk, dessen Surren weithin durch die ländliche Stille schnitt. In der Nähe des Werkes lag in schattigem Garten das Wohnhaus des Besitzers, ein hübsches, anspruchsloses Gebäude. Die beiden Frauen setzten sich zurecht, die Mutter zupfte an ihrer und Miriams Kleidung, auch Schlome nahm eine gerade Haltung an, soweit es ihm möglich war.
An der Gartenpforte stand Alexander Welt – ein hoher, aufrechter Mann mit schwarzem Vollbart – in westeuropäischem, nur etwas länger geschnittnem Rocke und weichem Hut. Die Wangenlöckchen fehlten. Für Schlome war dieses Aussehen eine Überraschung; halblaut rief er aus: »Er hat sich geschmadt! Während ich weg bin, hat er sich geschmadt – grad zu meiner Hochzeit!«
»Gott soll ihn vernünftig sein lassen!« murmelte Frau Malke. »Wenn es der Rabbi wüßt, wär es aus mit der Hochzeit. Aber Sie werden sich verguckt haben.«
»Vielleicht hab ich mich verguckt, und er wird nur modisch werden wollen zur Hochzeit.«
Nun kletterten sie von Rad und Achse. Der Fabrikherr lieh seine stützende Hand Frau Malke und führte sie gleich ins Haus. Miriam hatte ihn schüchtern betrachtet. Sie fand, daß sein Auge gütig sei, und faßte ein wenig Vertrauen, während sie mit dem Bräutigam folgte. Eine schon weißhaarige Haushälterin führte Mutter und Tochter in den ersten Stock, wo sie ihnen zwei Zimmer anwies. Frau Malke wagte in den vornehmen Räumen zuerst nur auf den Fußspitzen zu gehn. Sie säuberten sich; die Mutter achtete darauf, daß Miriam frisch und gut aussehe, und ein Strahl von Stolz brach aus ihren trauervollen Augen, als sie vor dem Hinabgehn zur Mahlzeit ihr Kind noch einmal beschaute. Daheim hatte die Armseligkeit sie beschattet, hier konnte sie in ihrem hellen Kleide über die Treppenläufer gehn, als sei sie an Bequemlichkeit und Schönheit gewöhnt. Noch hatte Frau Malke in keinem jüdischen Hause solchen Wohlstand gesehen.
Klopfenden Herzens führte sie ihr Kind hinab – in leiser Unruhe auch wegen des Herrn Alexander selbst. Sollte irgend etwas nicht richtig mit ihm sein, so konnte das für Miriams Sache üble Bedeutung gewinnen. Zu ihrer Erleichterung jedoch entdeckte sie an der Tür zu des Hausherrn Zimmer die Mesusah Die am Türpfosten befestigte Gesetzesrolle., und demütig küßte sie sie.
Das Abendessen wurde eingenommen; sie bemerkte, daß keine trefe Speise auf den Tisch kam. Alexander Welt erwies Mutter und Tochter alle Höflichkeit, ohne wortreich zu sein. Schlome bemächtigte sich bald des Gesprächs. Er redete von einem sehr vorteilhaften Hölzerkauf, den er für den Vetter abzuschließen wünschte: der verschuldete Herr von Konczysta mußte Wald abholzen, und Schlome gedachte offenbar, ihm für Miriams Grubenaktie zwanzigfachen Ersatz abzupressen. Miriam verwunderte sich wieder seines Verstandes und sah, daß der Chef auf sein Urteil Wert legte. Freilich als Schlome Allgemeines redete über die traurigen Erwerbsverhältnisse der Juden, wies Alexander ihn darauf hin, daß diese keine vereinzelten Erscheinungen seien, sondern die ganze soziale Frage im jüdischen Volke bildeten. Und als Schlome diese in seiner Weise zugleich mit der allgemeinen sozialen Frage des Landes lösen wollte, mußte er sich mit großem Ernst sagen lassen, daß das Judenvolk seine eigne habe – daß sie sich nach göttlichem Ratschluß entwickelt und verschärft habe und nach göttlichem Ratschluß, der klar in den Propheten zutage liege, gelöst werde würde, und daß die Lösung Zionismus heiße.
Miriam hielt den Atem an und war ganz Auge und Ohr. Das war das Wort, das sie niemals ganz verstanden und nur mühsam im Gedächtnis behalten hatte! Das Wort, das mit seinem halb verstandnen Sinn sie doch schon so mächtig angezogen hatte!
Sie hatte nicht nötig, ausdrücklich um Erklärung zu bitten. Der Hausherr las ihre Gedanken und beantwortete sie schon mit leisem freundlichen Lächeln. »Ich habe nach Jerusalem Anweisung gegeben, für dich, Miriam, und für deinen Bräutigam an euerm Trautage zwei Ölbäume zu pflanzen. Ob sie jemals euch selbst beschatten werden, weiß ich nicht. Wenn aber nicht, so werden sie doch andern Heimgekehrten Schatten und Früchte spenden und helfen, Regen und Tau über das Land zu führen. Es ist schon ein kleiner junger Wald, den die Fremdlinge der Welt dort haben pflanzen lassen. Freut es dich? Wußtest du, daß die Unsern das tun?«
Miriam hatte noch niemals davon gehört, aber dankte dem gütigen Manne mit glänzenden Augen dafür, daß er ihren unbedeutenden Namen in das Heilige Land getragen habe. Auch Schlome dankte, obwohl es ihm wenig Eindruck zu machen schien. Ihre Bescheidenheit aber wollte der Hausherr nicht gelten lassen. »Unbedeutender Name? Keines jüdischen Kindes Name ist unbedeutend. Miriam, dein Name ist hinter der Wolke und der Feuersäule gewandelt!« Der Bräutigam stimmte hier eifrig zu und sandte der Braut einen verweisenden Blick. Sie erinnerte sich plötzlich, daß sie bei diesem Thema Interesse zeigen sollte, war jedoch davon in Wirklichkeit so gepackt, daß sie gerade deshalb nicht mehr davon sprechen konnte und höfliche Redensarten ihr nicht über die Lippen wollten. Sie hoffte nur sehnlich, Alexander werde von selbst fortfahren.
Er tat es nach einer Pause, und Frau Malke horchte nun ängstlich auf, ob der Meschummad oder der Appikoires »Aufgeklärter« gottloser Mensch – Epikureer. endlich deutlich zum Vorschein kommen werde. Schlome zeigte erkünstelten Eifer und bemühte sich, seinen unruhigen Blick auf seines Verwandten Antlitz festzuhalten. Dieser wandte sich hauptsächlich zu den beiden Frauen: »Wißt ihr, wie es sich jetzt hat mit unserm Volk? Ihr habt nicht viel davon sehen können – aber vielleicht habt ihr gelesen –«
»Wir lesen nicht, was nicht recht ist – wir haben genug an dem, was ein jüdisch Kind lesen soll«, rief die Mutter und hob ihre hagern braunen Hände empor, als müsse sie sich gegen einen Verdacht wehren. Miriam aber wußte nicht, daß ihre Augen den Sprecher anleuchteten, und daß ihr rasches innerliches Frohlocken für eine Sekunde ihre Mienen verklärte und dem Hausherrn deutlich ihr Einverständnis ankündigte.
»So habt ihr doch vielleicht gehört,« fuhr dieser fort, »und – ich selbst habe es seit meiner Kindheit gesehen, wie die Unsern eingepfercht in Eisenbahnwagen und in die Zwischendecks der Schiffe über die Erde fliehen, als wären sie Verbrecher! In letzter Woche kamen hier zweihundert von der Grenze und wollten zu Fuß nach Hamburg – kurz vorher noch ein größerer Trupp. Schildern will ichs nicht, aber von der Hilfe will ich euch sagen. Wie sich in der Erde tief die unsichtbaren Kräfte sammeln und steigern und spannen, bis sie mit einemmal das Gestein sprengen und hervorschießen lassen den heißen Strom, so schlug plötzlich aus den jüdischen Herzen die langgetragne Sehnsucht nach dem Heimatboden wie eine Flamme gen Himmel. Wir sind jetzt losgekommen von der Meinung, daß unsre Not zeitlich und örtlich sei und vorübergehn könne – wir wissen jetzt, daß sie allumfassend ist und nur durch ein einziges großes Mittel kann geheilt werden. Wir bekennen uns jetzt als Volk! In Zehntausenden ist Stolz und Mut und Pflichtgefühl gegen die Brüder im Elend wieder aufgewacht. Man muß ihn mit erlebt haben – den Aufschwung und Umschwung; es ist eine Bewegung, die nicht mehr stillstehn kann! Unsre Verbindung mit Palästina kann nicht mehr zerrissen werden; sie wird von Tag zu Tag tiefer und stärker. Alle unsre Führer wissen, daß wir das Ziel werden erreichen, und zweifeln nicht! Sie wissen es, obgleich sie meist den stärksten Grund noch nicht einmal kennen, weshalb es geschehen muß.«
»Was for einer?« fragte Schlome, um seine Teilnahme zu bezeugen.
»Daß Messias, als er kam, selbst es gesagt hat – und es ebenso gesagt hat wie die Propheten.«
»Der Allmächtige soll uns beschützen!« schrie Frau Malke und fuhr von ihrem Stuhl. »Meschiach! Von wem reden Sie das? Sie sind Christ geworden – o über die Charpe! Schmach.«
Alexander Welt aber erwiderte ruhig: »Darüber wollen wir hernach reden, zuerst wollen wir danken.« Und er breitete die Künde aus und sprach andächtig das altherkömmliche Dankgebet, das in den meisten jüdisch-gläubigen Familien nach der Hauptmahlzeit gebetet wurde. Danach standen sie auf.
Frau Malke wußte nicht, wie ihr geschah, und was sie von dem Gehaben des Gastfreundes denken sollte. In ihrer Seele erhob sich ein schwerer Kampf. Ihre Demut und Armseligkeit, ihre Dankbarkeit – und ihrer Tochter Zukunft rangen in ihr mit dem Glaubensgehorsam. Ihre Gedanken jagten sich im Kreise, und sie atmete schwer. Der Respekt vor dem Charakter und den Geistesgaben des Herrn Alexander – die Furcht vor des Eidams Entrüstung, die sie leicht wecken konnte, ließen sie nicht zu klarer Überlegung kommen. Nur die Stimme ihres Gewissens behauptete sich in der aufgeregten Wirrnis ihres Innern und schwebte über den Wassern. Diese Stimme bestand auf ihrer Forderung. Mochte daraus entstehn, was da wollte – mochte sie mit ihrem Kinde auf der Stelle hinausgejagt werden und mit Schimpf ins Elend heimkehren müssen, mochte Schlome seine Stellung verlieren und das Verlöbnis zerbrechen und Miriam sich vor dem Mitleide und dem Spott verbergen müssen, eines Dinges mußte sie sich vergewissern. – Und sie trat vor den Hausherrn, als alle in sein Zimmer gegangen waren, sah ihm klagend ins Auge und sagte: »Sie sennen a großer Wohltäter und wollten uns tun a sehr große Mizweh Wohltat.. Aber so weiß ich net mehr, ob Sie a Jud sind, oder ob Sie kein Jud sind! Der Einige soll bewahren Sie und uns!«
Miriams Herz schmolz in Dankbarkeit darüber, daß er diese verzweifelte Rede der Mutter freundlich hinnahm. Eine besondre Milde sogar breitete sich über sein Wesen, und er erwiderte ruhig: »Das ist es, was ich erklären wollte! Ich bin ein Jude und bleibe ein Jude mit jeder Faser; aber ich habe erkannt, daß Jesus der Meschiach ist, und habe ihn angenommen. Ich werde vielleicht auch bald die Taufe nehmen, aber ich werde mich niemals – niemals ausrotten lassen aus meinem Volk. Ich bin frei vom Gesetz, aber ich halte es freiwillig, denn ich will die Gemeinschaft mit meinen Brüdern nicht verlieren. Ich habe mich von der Gemarah Talmud. geschieden, weil sie ist das Werk verblendeter Menschen, aber nimmermehr werde ich mich vom Sabbat und von den Festen scheiden. Ich will teilhaben an der Erlösung durch das Blut des heiligen Gehenkten, aber ich will auch teilhaben an den Verheißungen unsers Volkes, die noch ausstehn. Begreift ihr das?! Unser Volk ist ewig, und ich will darin sein ein nagender Wurm, der ihm keine Ruhe läßt, bis es seinen Meschiach hat und sein Land, und bis es ein Israel des Alten und Neuen Bundes zugleich wird. Ich selbst will ein armer Jude bleiben, wenn ich nur dazu helfe. Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen; meine Zunge müsse an meinem Gaumen kleben, wo ich deiner nicht gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein! Versteht ihr nun, was ich will?«
Nein, ganz verstand Frau Malke noch nicht. Ihr schwindelte zwischen diesen unerhört scheinenden Gegensätzen, jedoch das eine faßte sie heraus: daß von Abtrünnigkeit hier nicht die Rede sein konnte. Sie griff sich an den geängsteten Kopf und bat demütig: »Verzeihen Sie mir meine unkluge Red, ich merke wohl, daß der Herr Wohltäter recht haben wird. Ich bin nun sehr dumm, aber der Einige soll Sie benschen.«
»Und Sie! Es war schon recht zu fragen. Aber nun hört auch alles und seht diesen Mann an, in dem die Organisation unsrer Bewegung entstanden ist.« Er führte die drei an das Bild Theodor Herzls, das von der eignen Hand des Verstorbnen die Unterschrift trug: »Ich weiß nicht, wann ich sterben werde, aber der Zionismus wird nie sterben.« »So hat sich seit langen langen Zeiten kein Jude in die Geschichte und in die Kerzen der Unsern eingegraben, und das Echo seines Rufs rollt von Seele zu Seele und wächst in die Ewigkeit! Diese unumstößliche Gewißheit hatte dieser Seher, obwohl auch er den hauptsächlichsten Rechtsgrund nicht klar erkannte. Er wurde erweckt zum Propheten für sein Volk, daß er ihm dies eine zeigen und predigen sollte, wie auch Jonas nur das eine kannte, und predigte: Ninives Schicksal, und andres ihm verborgen blieb? Und Alexander Welt begann zu reden von Mose und allen Propheten und öffnete den Frauen das Verständnis der Schrift – zugleich auf den Messias wie auf die Endbestimmung Israels.
Schwerlich hätte man jemand hören können, der so in der Bibel lebte wie er. Er bedurfte nicht der Hagada, nur das Neue Testament nahm er von feinem Schreibtisch, um wörtlich daraus Stellen anzuführen. Die tiefsinnigsten, überraschendsten Beziehungen und Zusammenhänge wußte er zu zeigen. Seine Künde sprachen ebenso mit wie seine willensgewissen Feueraugen. Die Schriftgedanken glühten und brodelten in ihm. Sowie seine Zuhörer zu ermatten schienen, berührte er ihren Arm, ja im Eifer ließ er sich einmal auf einen Schemel gleiten, um Malkes Blick einzufangen, der beim Hören von Evangeliumworten zuweilen ängstlich abirrte. Wegen Miriams hätte er sich über mangelnde Aufmerksamkeit nicht beklagen dürfen; sie hatte heiße Wangen, und in ihrem Kerzen war ein Flämmchen von seiner Glut aufgegangen.
»Die Gläubigen Moses gewinnen im Zionismus immer mehr die Oberhand«, so schloß er. »Es ist eine innere geistige Sammlung. Und wir wehren uns gegen die Schaliachs Apostel, Missionar., die unsre Brüder zugleich abspenstig machen wollen, indem sie sie zum christlichen Glauben bekehren. Israel – es müsse wohlgehn denen, die dich lieben! Und Gott vergebe den Irrtum denen, die sich zu einem Werkzeug des Abfalls machen – fangen weg die einzelnen und verstören unser Volk.«
»Sie sind selbst ein Schaliach und doch ein treuer Ben Israel.« Mit diesen Worten gab Frau Malke am Schluß ihr Verständnis kund, obwohl sie von der Not, das Unerhörte in sich zu verarbeiten, ein verzagtes Gesicht hatte.
Schlome hatte seine dünnen Lippen fest zusammengekniffen, um sein inneres Widerstreben zu verbergen. Sein geradestehendes Auge aber hing oft an Miriam, und er sah mit Befriedigung, daß sie schön war und ihr aufmerksames Verhalten gegen den Chef keiner Aneiferung mehr bedurfte. –
Es war ein holder warmer Abend im Mondlicht. Die Mutter zog sich mit Miriam früh zur Nachtruhe zurück, denn des Tages Mühsal war groß gewesen. Sie legte sich erschöpft ins Bett, während Miriam im Nebenzimmer noch ein wenig am offnen Fenster blieb und von der würzigen Abendluft ihr Gesicht anfächeln ließ.
Miriam hätte noch nicht schlafen können. Die stolzen herrlichen Gedanken brandeten und wogten in ihrem Gemüt, darüber konnte sie nicht so einfach einschlafen. Ihren Vater hatten betrunkne Gäste manchmal an Bart und Schläfenlöckchen gezaust, mit Zähneknirschen hatte sie es erfahren, und seine Leiche hatte sie am Boden liegen sehen mit der schwarzen Decke verhüllt und mit dem Licht zu Häupten, hatte mit ihren Schwestern händeringend und haarraufend um ihn gesessen. Und nun hörte sie diese neue Mär von Hoheit und Würde des Kindes Israel! –
Im Weingang unten am Hause wandelte jemand langsam auf und ab. Es war Alexander Welt, der vor dem Schlaf auch wohl den Abendfrieden noch ein Weilchen allein genießen wollte. Sie zog ihren Kopf zurück, hörte aber bald, daß ihr Bräutigam unten zum Vetter kam, und mußte nun halb absichtslos wieder achtgeben. Schlome trug ihm irgendein Anliegen vor. Sie hörte jedesmal, wenn sie unter ihrem beschatteten Fenster vorüberwandelten, Bruchstücke ihres Gesprächs, sodaß sie merkte, um was es sich handelte. Er trug ihm den Zukunftsplan vor, den er ihr und der Mutter unterwegs entwickelt hatte, und schilderte, wie Alexander infolge solcher Geschäftsleitung mehr Zeit für seine patriotischen Ziele gewinnen werde – und auch mehr Geld. Als wirklicher Teilhaber werde er – Schlome – den Besitzern, Förstern und den Holzindustriellen gegenüber viel wirksamer operieren können. Er schlug gegen den Chef einen Ton an, der Miriam mißbehagte. Er schien ihn in dem wichtigen Gespräch des Abends gar nicht oder nur halb verstanden zu haben und hatte jedenfalls den Judenchristen nicht begriffen; es war, als halte er seinen Verwandten für beschränkt-gutmütig, da er ihn für einen Idealisten halten mußte. Miriam schämte sich für ihren Bräutigam und entrüstete sich in der Seele Alexanders. Er ließ den jungen Mann ruhig ausreden, was diesen immer zuversichtlicher machte; doch Alexander hielt wohl nur an sich, es war eine sonderbare Mischung von unbescheidnen Worten und demütigem Tonfall. Und nun stockte ihr der Atem – Schlome ließ unter allerlei Winkelzügen durchblicken, daß er nicht abgeneigt sei, dem Vetter seinen Schritt nachzutun – wie er sich ausdrückte – und sich dem Geschäft zuliebe zu schmadden. »Warum tragen wir Juden allein unrasierte Bärte und lange Röcke?« fragte er. »Sind wir darum bessere Menschen? Nein. Darum weg mit dem veralteten Gesetz –«
Sie standen gerade unter ihrem Fenster, und nach diesem Wort entstand eine erschreckte Stille. Dann brach von des Hausherrn Lippen in prächtigem Zorn die Antwort, die Miriam allein gefallen konnte. Er fragte Schlome, ob er wirklich schon so tief herabgekommen sei. Er sagte ihm, daß er nichts sein würde als ein erbärmlicher Verleugner, daß ihm der Schritt nur die Verachtung aller redlichen Leute eintragen werde, und obenein noch ohne Nutzen, denn Jude werde er heißen bis an sein Lebensende, und als Juden werde jeder ihn auf hundert Schritt erkennen. Wer denn sein Geschäft ihm abnehmen werde? Während er jetzt als Jude sich wohl die Achtung ehrlicher Menschen erwerben könne – sowohl unter Juden als unter Christen –, sei es damit hernach bei beiden aus. Er selbst könne einem Manne nicht trauen im Geschäftlichen, der ums Geschäft an seinen Volksgenossen wie ein Lump handle, wie ein Verräter! Er hielt dabei Schlome gepackt und riß ihn hin und her. Zum erstenmal ging es Miriam auf, was ein echter Mann sei. Sie hatte vom Alkohol verdummte Bauern, hatte scheue und gedrückte Juden, hatte übermütige Edelleute gesehen, einen Mann aber, der ganz und gar etwas andres wollte als faulenzen, schachern oder genießen, hatte sie noch nicht gesehen. Sie dachte, wie Schiller diesen lieb gehabt hätte –
Schlome kroch noch kleiner in sich zusammen und nahm auch des Vetters Zusatz: »Die Braut bist du nicht wert!« still hin. Als aber Alexander noch rief: »Und fürchtest du dich nicht vor Gott?« hatte Schlome plötzlich gewonnenes Spiel, denn bei dieser Erinnerung wurde der Chef selbst merklich sanfter und ließ sein Gewand los. Der junge Mann wurde nun wieder beredt und rückte seine Meinung so zurecht, als sei er nur mißverstanden worden. Sie wandelten nochmals den Gang hinauf, und Alexander Welt sprach in viel milderm Ton, als bedaure er seine Heftigkeit.
Miriam schloß leise das Fenster und schlüpfte zu der Haushälterin hinunter, in deren Stube sie noch Licht gesehen hatte. Sie konnte noch nicht schlafen, und die freundliche Frau war ihr mit viel Güte entgegengekommen. Sie mußte noch mehr hören vom Herrn Alexander, neben dem Schlomes Weisheit so platt und klein erschien! Sie hörte von ihr, daß der Trauhimmel zum übernächsten Tage schon aus der Schule geholt worden sei und bereitstehe. Und danach erfuhr sie allerlei Züge und Geschichten zum Lobe des von der Alten mütterlich geliebten Hausherrn. Vor Jahresfrist hatte er in schwerer Krankheit aber auch Dank und Liebe aus weitem Kreise erfahren. Die Frau des alten Gemeindedieners war umhergegangen, Tage für ihn zu sammeln, Tage, die die Menschen im Gebet vom eignen Leben dem seinen zuzulegen bereit waren, weil es ein so gar wertvolles war. Sie hatte eine Menge Zusagen bekommen, eine ganze Reihe von Jahren hatte sie so zusammengebettelt. Und Alexander Welt war von schwerer Krankheit genesen. Als Miriam dies hörte, überzog rasche Röte ihr Gesicht, und sie rief: »Ich wäre willig gewesen, ihm mein halbes Leben zu geben, wenn ich ihn schon gekannt hätte! –«
Sie wußte nicht, wann es zuerst gekommen war in diesen Tagen, daß ihr das Herz hoch aufging, wenn sie den Hausherrn ins Zimmer treten sah und seiner Rede zuhörte, und daß es sich mißmutig zusammenzog, wenn Schlome erschien. Es war nicht die äußere Häßlichkeit des Bräutigams, es war das, daß Alexander über die ganze Welt, nach der er hieß, seinen Blick fliegen ließ und Gottes Diener an seines Volkes verachteter Sache sein wollte, während Schlome nichts wollte, als gebückt aus dem Staube Dukaten auflesen – Dukaten über Dukaten, bis es erstaunlich viele waren! Das war es, daß sie Schlome bei dieser Beschäftigung bis an ihr Lebensende helfen sollte, während Alexander es sich nicht verdrießen ließ, sie seines Lebens Sache verstehn zu lehren. Es kam ihr vor, als mache sie im Gefieder eines Adlers den brausenden Flug über die Lande mit und blinzelte scheu und stolz heraus! Nun tat sie doch noch einen Blick über das Ghetto hinweg – kurz bevor sie für immer an Schlomes Seite treten mußte und in die Müdigkeit eingehn, die alles ihr bekannte jüdische Leben erfüllte!
Miriams Mutter saß in diesen Tagen oft unter einer Ulme am Hause – ernst und hager und in ihr dürftiges Umschlagetuch gehüllt. Sie beobachtete schweigsam, was sie vom Getriebe des Hauswesens und des Sägewerks sehen konnte, und sah die Arbeiter kommen und gehn. Es war ihr seltsam, daß sie hier so ruhig saß, und die Menschen ihr doch in ihrem nutzlosen Dasitzen obenein noch Achtung zeigten. Alexander Welts Ansehen trug sogar noch die Schwiegermutter seines Vetters. Die Erquickung, die ihr Blumen und Bäume gaben, empfand sie nur unbewußt; sie hatte Wichtigeres zu bedenken. Sie war zufrieden, und die Furchen ihres Gesichts glätteten sich ein wenig in diesen Tagen. Sie wußte auch, daß Ivona daheim das Haus beschickte, und sah ein wenig Schimmer auf der Zukunft liegen. Zuweilen saß ihre Tochter bei ihr, und dann stellte sich oft auch Alexander ein: dann aber hatte Miriam immer wieder Neues zu fragen wegen der großen Israelsache. Und er starrte nicht mit scheuen Schwärmeraugen in die Welt; nein er sah die Wirklichkeiten und brachte sie doch alle unter seine Idee. Es bewegte auch Frau Malke.
Auch bei den Mahlzeiten wurde von jedem Thema leicht eine Brücke geschlagen zu dem wunderbaren Neuen. Schlome konnte wahrlich zufrieden sein mit dem Interesse, das seine Braut an den Tag legte, und sah deutlich, daß sie seinem Brotherrn so gut gefiel, wie er für seine Zwecke nur wünschen konnte. Er konnte wirklich hoffen, daß sie noch einmal eine kluge Geschäftsfrau werden würde.
Einmal aber fiel sie doch aus der Rolle. Die Mutter hatte im Gespräch zutraulich des Vetters Pflicht zu heiraten gestreift, und dieser hatte scherzend erwidert: Wie sollte es aber dann mit Schlomes Erbschaft gehn? Da fuhr Miriam auf und verwahrte sich und ihren Bräutigam dagegen, daß sie darauf warteten oder danach gierten. Es war bei der Mahlzeit. Schlome warf ihr einen ungehaltnen Blick zu, und als man aufgestanden war, näherte er sich ihr und raunte ärgerlich: »Wirst du Herrn Welt bitten um Verzeihung? Du redst, als ob wir sein Geld gering achten und darauf verzichten können. Willst du mir alles verderben?« Sie ging sogleich zu dem Hausherrn, der sich an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, und brachte demütig ihre Entschuldigung vor. Aber sie geriet dabei in Stammeln, denn sie erkannte, daß ihre Richtigstellung keine Verbesserung war; ihre Verlobung war tatsächlich ganz auf dieses Mannes Hilfe gebaut. Sie versicherte nun, sie und Schlome sähen das größte Glück in seinem Wohlwollen und vertrauten ganz auf seine Hilfe, ohne die sie niemals heiraten könnten. Aber während sie dies sprach, schwoll etwas Leidenschaftliches in ihrem Herzen auf, und sie dachte: Möchte er jetzt nur seine Hand von uns abziehen! Möchte er im Zorn mich heimschicken – weg von Schlome, daß meine Augen Schlome nie wiedersehen! Der Schimpf sollte mir lieber sein als die Heirat! Jedoch Alexander tat nichts dergleichen. Er sah ihr tief in die Augen, und sie fühlte, daß er wußte, daß sie nur in Schlomes Auftrag sprach! Er streckte die Hand nach der ihren aus, zog sie aber sogleich fast ängstlich wieder heran. Mit kurzem Wort beruhigte er sie.
Sie stahl sich hinaus in einen abgelegnen Teil des Gartens und weinte von Herzensgrunde. Wie schwer war es doch, an der Treue und Ehre des Verlöbnisses festzuhalten – und wie schwer auch, es zu brechen, laut nein, nein! zu rufen und heimzukehren mit einer tief erzürnten Mutter, zu vorwurfsvollen Verwandten und Bekannten, die bis an ihr Lebensende glauben würden, daß sie dem Schlome nicht gut genug gewesen sei, und sich den Kopf darüber zerbrechen würden, was sie Schlimmes verübt habe.
Sie dachte daran, daß sie einmal von einer ältern Verwandten gehört hatte, ihre Mutter habe den Vater lange lieb gehabt, als der noch sein wenig ehrenvolles unstetes Wanderleben führte, und ihre Ehe sei nur um des guten Scheins willen vom Schadchen zustande gebracht worden. Wie wenn sie darauf fußte, zu ihr ging und ihr sagte, sie habe die Liebe bekommen? Ja die Liebe – sie wußte, daß es die Liebe war oder etwas Ähnliches, obwohl sie sie bis dahin nicht gekannt hatte. Zu einem alten Manne, Herrn Alexander Welt, der wohl ihr Vater hätte sein können!
Nun wußte sie zugleich auch, was große Sünde ist, und voll Angst lief sie auf ihr Zimmer und suchte in ihrem Gebetbuch nach irgendeiner Hoffnung, einem Fingerzeig – einem Rettungsanker.
Aber ach! es nahm nicht auf Liebesnöte Rücksicht! Alles galt dem kalten fernen Herrn des Weltalls, dem gerechten Richter, der das Menschenherz und seine Versuchungen gar nicht zu kennen schien! Endlich sogen ihre Blicke sich fest auf dem Gebet in Todesgefahr: Herr über Leben und Tod, begnade mich zum Leben! Diese Worte umklammerte ihr Herz, als sie zum Abendessen hinunterging.
Sie verneigte sich fremder als sonst vor Alexander, der ihr rasch einige Schritte entgegentrat und die respektvolle Begrüßung ungern zu sehen schien. Für sie aber, die gewohnt war, Vierzehnjährige als Erwachsne zu betrachten, war solches Verhalten gegen einen Fünfunddreißigjährigen nicht ungewöhnlich. Bei Tisch sagte er mit belegter Stimme: »Ich habe mit deinem Bräutigam ausgemacht, daß er vom nächsten Ersten an Teilhaber wird. Ich selbst werde mich der Reise wegen noch ganz vom Geschäft zurückziehen müssen.« Schlome strahlte sie ermunternd an, aber sie blickte vor sich nieder, um nicht weinen zu müssen. Ungeduldig mahnte er: »So dank doch dem Vetter. Geh, küß ihm die Hand, umarme ihn. Nu, for wus net?« und auch die Mutter murmelte: »Nu, geh doch.« Beide schienen sich verschworen zu haben, Kampf und Versuchung noch zu verschärfen –
Alexanders Gesicht rötete sich. Er bog sich an die Stuhllehne zurück und warf ihr einen Blick zu, als wolle er sagen, sie möge bleiben, wo sie war – und doch war der Blick nicht zornig. Aber sie glaubte, die Höflichkeit walten lassen zu müssen, ging auf ihn zu und beugte sich über seine widerstrebende Hand. Er wünschte ihr Segen und Glück, sie selbst konnte kein Wort hervorbringen. Die Mutter aber murmelte: »Gott geb Ihnen a Sach zum Lohn!«
Nach dem Essen wurde er in seine Schreibstube gerufen. Auch die Mutter zog sich zurück, und Miriam blieb mit ihrem Bräutigam allein. Sie stand mit schlaff niederhängenden Armen und sah auf die Tür, zu der hinaus Alexander verschwunden war. Glück! – aus Büchern hatte sie gesehen, daß es etwas wie »Glück« gebe, und daß es oft mit der »Liebe« zusammen sei. Sie konnte nicht glauben, daß es jemals mit Schlome und ihr zusammen sein werde.
Der Bräutigam fuhr vergnügt mit den Händen durch die Luft und rühmte sich seines Einflusses auf den Chef. Zugleich lobte er aber auch Miriam ein wenig. »Das hat er um dich getan meistens!« rief er gedämpft. »Nur daß du zu schüchtern gedankt hast. Gut, daß die Sach schon in Ordnung war! Was er einmal gesagt hat, nimmt er nicht zurück. Aber nun will ich gleich auch noch die Aktie ihm bringen, er wird alles tun, wenn er hört, daß es ist dein Heiratsgut. Das Papier ist nichts wert – vielleicht, wenn einer kann warten wie er dreißig Jahr.«
»Ich glaube, du darfst das nicht mehr tun – es wäre undankbar, wo er dir schon so viel bewilligt hat,« wandte Miriam klopfenden Herzens ein.
»Red nicht Stuß! Er soll ja das Papier kaufen mit offnen Augen.«
»Ich bitte, tu es nicht, denn sonst muß ich mich schämen.«
»Wirst du es deinem Mann überlassen müssen, ob er sich will schämen oder nicht. Zerbrich dir nicht meinen Kopf! Ich werd mir von einem Weib sagen lassen müssen, was ich tun soll in Geschäften –«
»Denk, es ist nicht recht, dem Herrn Welt das anzutun,« beharrte Miriam, »wo er so gut gegen uns gewesen ist. Ich muß mich sonst schämen am Tag vor der Hochzeit – wegen deiner!«
Des jungen Juden Lippen zogen sich nach innen. »Wir danken jeden Morgen dem Ewigen, daß er uns nicht als Weib hat geboren werden lassen, und nun will ein Weib sich um uns schämen! Mit solchen Gedanken willst du unter den Trauhimmel gehn? Wenn ich es dem Rabbi sagte, würde er vorher dir schärfen das Gewissen. Froh sein solltest du, daß ich mich nicht schäme wegen der Tochter des Chaim Rosenstock aus der Schenke. Und froh solltest du sein, daß der Lappen, wo heißt dein Heiratsgut, einen Wert bekommen soll. Aber was kannst du freilich von Geschäften verstehn? Hat dein Vater verst–«
»Mit dem der Friede sei«, warf Miriam heftig ein.
»– etwas vom Papiergeschäft verstanden? Er hatte seine Gedanken zuviel beim Unnützen. Wer vom Rosenstock die Tochter heiratet, soll wissen, was er tut! Und wärest du etwas zärtlicher gewesen gegen unsern Brotherrn, würde ich es jetzt leichter haben mit dem Papier, denn er mag dich.« Er wandte sich zur Tür, um dem Vetter zu folgen. Wie ein Wiesel schlüpfte sie ihm in den Weg. »Ich kanns nicht leiden!« rief sie leise. Er drückte sie aber mit beiden Händen beiseite und trat ein.
Nur einige Minuten stand sie unschlüssig, dann wußte sie, was sie zu tun hatte. Geräuschlos ging sie Schlome nach, blieb aber im Arbeitszimmer an der Tür stehn; er stand den Rücken ihr zugekehrt, indem er auf seinen Verwandten einredete. Dieser aber bemerkte sie, sah sie aus gütigen Augen an und schien zu fühlen, daß sie noch unbeachtet bleiben wollte. Schlome suchte ihm die Vortrefflichkeit des Papiers und seine eigne reine Absicht darzutun. Ein leichtes Lächeln flog dabei mehrmals um Alexanders Mund, er wußte ohne Zweifel, was er von dem Vorschlage zu halten hatte; aber Schlome war nicht der Mann, der einen solchen leisen Zug verstand.
»Einerlei, wie sie steht«, sagte Alexander Welt sich erhebend. »Ich werde sie zum Nennwert kaufen und kann dir das Geld sogleich geben.« Damit trat er an seinen Geldschrank.
Miriam hielt sich nicht länger. Sie trat rasch vor und rief: »Herr Welt, tun Sie's nicht, das Papier taugt nichts, ich weiß es!«
Schlome fuhr wütend herum; er sah aus, als würde er sie schlagen, wenn er mit ihr allein wäre. »Sei still du! Muß ein Mädchen Herrn Alexander Welt sagen, was Papiere wert sind? Soll ich gesund sein – der Vetter weiß, daß die Grube bald wieder in Betrieb sein wird, er versteht solche Sachen besser als ich und du.«
»Herr Welt, tun Sie es nicht«, erwiderte sie unbeirrt, »der Vater – mit dem der Friede sei – wollte das Papier schon einmal verbrennen!«
»Willst du Herrn Welt damit sagen, daß ich ein Lump bin? Daß ich bin ein undankbarer, eigennütziger Mensch?!« schrie Schlome. Er machte sich daran, die schon hingezählten Goldstücke aufzunehmen.
Miriam wurde plötzlich ganz kalt und ruhig. Sie sah ihn groß an und sagte: »Du nennst das Wort, nicht ich!«
»Und das soll ich mir sagen lassen?!«
»Wir haben alle beide unredlich gehandelt«, beharrte sie. Und der Geist, der den Herrn Alexander regierte, der sie angeleuchtet hatte, wie aus einer fremden Welt, zwang sie zu rücksichtsloser Beichte: »Wir haben zusammen von Ihnen nur so gesprochen, wie wir Sie ausnutzen könnten zu unserm Vorteil! Wir dachten, weil Sie nicht verheiratet sind, wären Sie dazu gerade gut, und es wäre Ihre Pflicht als Verwandter – und wir wären viel wichtiger in der Welt als Sie! O, ich weiß es jetzt anders! Aber wir dachten –«
Da traf ein Schlag von Schlomes Hand ihren rechtzeitig erhobnen Arm; er hätte sonst ihre Wange getroffen. »Sollst du ersticken mit deinem Geschwätz!« knirschte er. »Glaub ihr nicht, Vetter, sie weiß net, was sie red't – das große Glück hat ihr den Verstand genommen, denk – des Schnorrers Tochter!«
Miriam war zum Hausherrn geflohen; dieser legte seinen Arm um sie. Er war bleich, und seine Stimme grollte. »Bist du ein Mann, der sich vorgenommen hat, sein Weib zu schlagen?«
Schlome versuchte sofort, sich zu einer mildern Miene zu zwingen, erreichte jedoch nur ein Grinsen. »Ich bin zu heftig geworden – in deinem Hause, Vetter, verzeih. Es machte mich wild, Miriam solch meschugges Zeug reden zu hören. Sie wird krank sein, sie wird es jetzt schon bereuen. Komm her, Miriam, zu mir, gib mir die Hand, dann soll alles gut sein –«
Sie drehte sich jedoch von ihm ab und legte die Stirn an Alexanders Rockärmel.
»Kommst du her?«
Sie rührte sich nicht, nur daß sie mit den Händen noch Alexanders Arm umfaßte, und alle schwiegen eine Minute abwartend.
Nun überzog ein seltsames Lächeln des ältern Mannes Gesicht. Es war, als ob er sein eignes noch lebendiges Selbst fühlte und weder an seine Kreissägen noch an die Volkssache dachte; er sah aus wie ein Junger. »Schlome«, sagte er langsam, »so bald wolltest du ihr verzeihn? Ein Mädchen, das den Bräutigam so beleidigt! Was wird sie erst tun als Eheweib? du darfst deine Ehre nicht vergessen, du mußt den Kontrakt zerreißen. Wird sie zur Vernunft kommen?!« Und er legte plötzlich auch den andern Arm um Miriam und küßte sie auf die Stirn.
»Ich weiß nicht, was werden soll, aber ich kann ihn nicht heiraten«, jammerte sie auf.
Da verlor Schlome jede Selbstbeherrschung, und er rannte handschlagend umher. »Was haißt dies? Es ist verabredet! Ich bin betrogen, weil ich ein ehrlicher Mann bin, werd ich betrogen! Du bist eine Ehebrecherin, ehe du eine Frau wurdest. Um alles soll ich gebracht werden! Ei du Schlaue, du hast gesehen, daß der Chef ist noch besser als der Teilhaber, ich gratulier! Und die hat Leib Krakauer mir verschafft; 's Genick soll er brechen!«
»Schweig!« donnerte Alexander Welt, »du bist von Verstand. Ich dulde nicht, daß du sie beleidigst, sie ist mein Gast, wenn sie auch nicht mehr deine Braut ist.«
»Nicht mehr seine Braut?« jauchzte Miriam mit Freudentränen. »Herr Vetter, o helfen Sie mir, daß ich ganz loskomme. Helfen Sie mir auch bei der Mutter!«
»Und wo bleibt mein Kontrakt und meine Stelle im Geschäft – und mein Heiratsgut – mein alles? Gift soll man einnehmen!« zeterte Schlome; er konnte sich nicht fassen.
»Hör auf mit deinem Geschrei, oder du hast wirklich alles verloren«, sagte Alexander zornig. »Du siehst, daß aus der Heirat nichts werden kann, wir wollen noch heut den Gästen abtelegraphieren. Aber – deine Stelle bleibt dir.«
»Werd ich meine Stelle behalten, wird es sein des Chefs eigner Vorteil«, sprudelte Schlome immer noch im Fistelton, obgleich seine Erregung nach der letzten Zusicherung schon etwas abflaute. Jeder tut nach seinem Vorteil, der Vetter, ich und Miriam. Wer nicht nach seinem Vorteil tut, ist von Sinnen.«
»Wir wollen die Sache ruhig besprechen und keinen Lärm machen.« Alexander löste die Umschlingung, in der er Miriam gehalten hatte, und bekam plötzlich wie nach einer stillen Selbstvermahnung die Sprechweise aufrichtiger Milde, ähnlich wie Miriam es am ersten Abend vom Fenster aus beobachtet hatte. »Wir müssen besser auf uns achten als andre Leute, unsre Seelen sind vor dem Sinai gestanden und sollen vor dem Kreuz Meschiachs stehn. Schlome, du wirst alles behalten, was du wolltest, nur Miriam nicht. Und auch ihr Heiratsgut nicht!« Wieder glitt ein Lächeln um seine Augen. »Damit werden wir etwas andres beginnen. Rufe Miriams Mutter und geh.«
Schlome öffnete die Tür. Da kam sie schon von der Treppe. Sie hatte das aufgeregte Sprechen und auch ihrer Tochter Stimme darin gehört, und ihr Gesicht war so verängstet und versorgt wie nur je. Nun stürzte Schlome an ihr vorüber, und Miriam fand sie glücklich und weinend neben dem Hausherrn stehn. »Gott über Israel – ist die Hochzeit aus?!« rief sie entsetzt.
Er übernahm das Erklären allein. »Die Hochzeit ist nicht aus – aber – der Bräutigam ist ein andrer, Frau Rosenstock, wenn Sie einverstanden sind. Ich glaube, ihr Kind wird mit mir gehn. Bitten Sie für mich, daß sie mit mir geht und bei mir bleibt und Kampf und Mühe mit mir teilt. Ich glaube, sie würde dann bald auch in meinem Glauben mit mir gehn, es kann ja nicht anders sein, denn sie kann hohe Dinge fassen. Ich glaube, sie wird den vielgeplagten Mann nicht verschmähen, der ihr sein halbes Herz geben will, und sie wird mir ein halbes dafür wiederschenken. Nicht mehr! die andre Hälfte gehört von ihr und von mir unsern Brüdern.« Und er führte Miriam zur Mutter und schob sie in ihren Arm, obwohl Frau Malke, der Zärtlichkeit ungewohnt, diesen Arm zuerst gar nicht ausstrecken wollte.
Er eilte hinaus und suchte Schlome auf, um ihn zu trösten, was ihm mit Hilfe von Rechenexempeln gelang. »Hätte Miriam Geld gesucht, so hätte sie besser getan, bei dir zu bleiben«, sagte er ihm zum Schluß. »Wenn sie bei mir bleibt, wird Unruhe und viel Arbeit und Leiden ihr Los. Geh nun morgen und mach den galizischen Holzkauf, damit du fort bist. Wenn du wiederkommst, werden wir fortgehn, Miriam und ich. Dein Ölbaum soll daheim ruhig für dich weiter grünen und dich erwarten, ob du einmal, wenn du älter bist, wenn du viel mehr erlebt hast, wenn du die großen Scharen heimziehen siehst, findest, daß es auch für dich noch Besseres gibt, als hier den Handel über die Grenze. Er mag ruhig neben Miriams Baum stehn, Zion ist höher als unser Hassen und Lieben.« –
Die amtlichen Vorschriften für die Trauung Alexander Welts mit Chaim Rosenstocks Tochter wurden so rasch wie möglich erledigt. Er ging zum Rabbiner von Miriams Heimatstädtchen und sagte ihm, daß er obwohl Jude doch Christ sei. Der glaubte zuerst, er sei wahnsinnig und wollte ihm dann fluchen, aber das Ende war, daß er ihn zu trauen versprach. Miriam übergab ihrem Verlobten das von ihr genähte Sterbehemd, das er bei der Feier tragen mußte; er dagegen legte ein Papier in ihre Hand, wonach Miriams Name mit dem Betrage ihres fragwürdigen Heiratsguts in das »goldne Buch« des Nationalfonds eingetragen und damit auch noch im Golus Verbannung. mit dem jüdischen Heimzuge verknüpft worden war. Sie war von diesem Bewußtsein überglänzt wie von einem Diadem.
Aber der Rabbiner bedeckte sie mit einem Schleier, dann kam Alexander herein. Er trug auf dem Rock die Zionistenmedaille und zeigte sie ihr stumm. Sie las mühsam daraus in hebräischen Buchstaben das Wort des Ezechiel: »Siehe, ich will die Kinder Israels holen aus den Leiden, dahin sie gezogen sind, und will sie allenthalben sammeln und will sie wieder in ihr Land bringen.« Sie sah darauf die Weissagung als Engelsgestalt, die auf eine jüdische Familie niederschaut und mit der Rechten nach Osten weist, und sie gelobte sichs, ihr Leben lang alles, was sie könne, zu tun, damit dieser Engel seine Absicht erreiche, sei es auch nur dadurch, daß sie den stützte und erquickte, der seine feurige Kraft in das Werk legte. Sie traten unter den Trauhimmel.
Der Vorbeter sang mit dünner Stimme allein ein Synagogenlied. Dann sprach der Rabbiner das tägliche Gemeindegebet, worin er auch der Seele des verstorbnen Vaters gedachte, und hielt – infolge der erlittnen Überraschung noch ein wenig unsicher und mit Vorsicht – seine freie Ansprache. Er segnete den bereitstehenden Wein und reichte ihn den Brautleuten zum Trinken. Hierauf steckte der Verlobte Miriam den Ring an den Finger und sprach: »Dadurch sollst du mir geheiligt sein nach dem Gesetz Mosis und Israels und« – setzte er hinzu – »nach der Gnade Jesu Christi –«
Eine entsetzte unwillige Bewegung ging durch die kleine Versammlung, und die demütigen Augen Frau Malkes überschauten sie voll Angst und schienen sie um Verzeihung zu bitten – aber man hielt an sich. Als die Zeremonie beendet war, murrte eine Gruppe von Gästen im Winkel leise über den Rabbiner, der einer Schmach Israels seine Hilfe geliehen habe, und wurde von andern vergeblich gefragt, worin denn die Schmach liege. Niemand wußte es zu sagen, obgleich jeder über das unerhörte Wort außer sich war, und sie kamen in dem Wunsche überein, daß der Einige alle bei Verstand erhalten möge. Miriam aber hatte die glimmenden Augen und die aufgeregten Hände gesehen und ergriff noch einmal das Weinglas, wandte sich zu den Anwesenden und sagte feierlich:
»So will ich auch noch nach unsrer Sitte tun, hört es alle: Alexander Welt hat, wiewohl er ein Jude bleibt, den christlichen Glauben angenommen, ich noch nicht, aber so möge jeder zertreten werden, der zwischen uns Feindschaft zu erregen sucht!« und sie warf das Glas auf den Boden und setzte den Fuß auf die Scherben.