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Wäre die Feder des Schriftstellers der Pinsel eines Malers oder wenigstens ein photographischer Apparat, dann würde ich Ihnen, lieber Freund, eine kostbare Gruppe als Geschenk darbringen: drei anmutige, wunderhübsche, schwarze Köpfchen, mit gelocktem Haar und hellen, leuchtenden Äuglein. Alle drei schauen verwundert drein, als möchten sie die Welt fragen: »Warum?« Und Sie sehen die Kinderköpfchen an, staunen über sie und fühlen sich ihnen gegenüber schuldig, als wären Sie wirklich daran schuld, daß diese Wesen geboren wurden – noch drei überflüssige Seelchen mehr in der Welt.
Die drei lieblichen Köpfchen gehören Abramtschik, Mosejtschik und Dworka – zwei Brüdern und ihrem kleinen Schwesterchen. »Abramtschik«, »Mosejtschik« – diese Namen mit den russischen Endungen gab ihnen der Vater, der Buchbinder Pejsa. Hätte er nicht Angst vor seiner Frau und wäre er nicht so bettelarm, dann hätte er auch seinen Namen geändert und wäre aus »Pejsa« ein »Petja« oder »Peter« geworden.
Vorläufig muß er sich jedoch mit »Pejsa« begnügen, bis jene glücklicheren Zeiten kommen werden, von denen Bebel, Karl Marx und alle guten, klugen Menschen sprechen. – Dann, ach! dann wird alles anders werden! … In der Erwartung dieser Zeiten muß Pejsa vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein in seiner Werkstatt stehen, Pappe schneiden und Schachteln kleben … So steht er also den ganzen Tag, schneidet und schneidet, klebt und klebt und singt dabei alte und neue, jüdische und nichtjüdische Liedchen, am häufigsten fröhlich-wehmütige mit einem fröhlich-wehmütigen Refrain.
»Möchtest du nicht endlich aufhören, deine russischen Lieder zu singen!« pflegt seine Frau oft zu ihm zu sagen. »Du scheinst ja ganz vernarrt zu sein in die Russen oder was sonst? Seitdem wir in die große Stadt gezogen sind, bist du ganz christlich geworden.«
Alle drei – Abramtschik, Mosejtschik und Dworka – sind an derselben Stelle, zwischen der Wand und dem Ofen, geboren und groß geworden. Alle drei sehen immer ein und dasselbe: den lustigen Vater, der Pappe schneidet, Schachteln klebt und Lieder singt, und die sorgenvolle, ausgedorrte Mutter, die kocht, backt, fegt und putzt und mit ihrer Arbeit nie fertig wird. Alle beide sind immer bei der Arbeit, die Mutter beim Herd, der Vater bei den Schachteln. Wer braucht die Schachteln? Wozu werden so viele gemacht? Die ganze Welt scheint von Schachteln voll zu sein! … So denken die lieblichen Köpfchen und warten ungeduldig, bis der Vater viele, viele Schachteln fertiggestellt hat. Dann bindet er sie zusammen, bringt sie auf den Markt und kommt ohne Schachteln zurück, aber dafür mit Geld für die Mutter und mit Semmeln, Kringeln und Süßigkeiten für sie, die Kinder … Einen Vater haben sie, der ist gut, ach, wie gut, wie Gold! Die Mutter ist auch gut, aber aufgeregt: manchmal schlägt sie oder stößt oder zieht am Ohr. Sie verträgt keine Unordnung im Zimmer, wünscht nicht, daß die Kinder »Papa und Mama« spielen, daß Abramtschik die Pappreste zerschnipsle, daß Mosejtschik dem Vater den Kleister fortschleppe, daß Dworka Brot aus Sand und Wasser backe … Sie will, daß die Kinder still und anständig sitzen.
Die Mutter scheint nicht zu wissen, daß die Kinderköpfchen arbeiten, daß die jungen Seelen hinausstreben, hinaus, hinaus – wohin? Nach draußen! Zum Licht! Zum Fenster! Zum Fenster!
Ein einziges kleines Fenster haben sie. Alle drei Köpfchen drängen sich an das Fenster. Was gibt's denn dort zu sehen? Eine Mauer, eine hohe, lange, graue, feuchte Mauer. Sie ist immer feucht, selbst im Sommer! … Schaut die Sonne wohl herein? – Manchmal zeigt sich, wenn auch nicht die Sonne, so doch ihr Licht. Dann ist es Feiertag für die Kinder. Alle drei Köpfchen recken sich zum Fenster, schauen hinauf, so hoch wie möglich, und sehen einen schmalen, langen, blauen Streifen, ein langes blaues Band. »Seht ihr, Kinder? Dort ist der Himmel!«
Das sagt der älteste, Abramtschik. Abramtschik weiß es. Abramtschik besucht die Religionsschule. Abramtschik kennt schon das Alphabet. Die Schule befindet sich im Nachbarhaus, im zweiten Stockwerk. Ach! Was für wunderbare Erzählungen bringt Abramtschik aus der Schule mit! Abramtschik erzählt, daß er mit eigenen Augen ein großes steinernes Haus mit lauter Fenstern von oben bis unten gesehen habe. Abramtschik schwört, so wahr wie er alles Gute sehen möge, daß er eine lange, lange Röhre gesehen habe, aus der schwarzer Rauch hervorbrach … Abramtschik erzählt, er habe mit eigenen Augen eine Maschine gesehen, die ohne Hände näht. Abramtschik erzählt, er habe einen Wagen gesehen, der sich ohne Pferde bewegt … und jedesmal schwört er, wie seine Mutter: »So wahr er alles Gute sehen möge …«
Mosejtschik und Dworka lauschen, seufzen und beneiden Abramtschik. Alles weiß er, alles! …
Abramtschik weiß zum Beispiel, daß irgendwo ein Baum wächst. Zwar hat er ebensowenig wie sie alle jemals gesehen, wie ein Baum ausschaut. In ihrer Straße gibt es keine Bäume Aber er weiß – er hat es in der Schule gehört –, daß von dem Baum Früchte kommen, deshalb müsse man, wenn man Früchte ißt, die Lobpreisung sagen: »dem Schöpfer der Baumfrüchte!« Abramtschik weiß – was er nicht alles weiß –! – daß Kartoffeln, Gurken, Zwiebeln und Knoblauch in der Erde wachsen – deshalb preist man, wenn man sie ißt, den »Schöpfer der Erdfrüchte!« Alles weiß Abramtschik. Er weiß nur nicht, wo und wie ein Baum wächst. Er hat es nie gesehen, denn in ihrer Straße gibt es weder ein Feld, noch einen Garten, weder Wiesen, noch Gras! In ihrer Straße gibt es riesige Häuser, graue Wände und hohe Röhren, aus denen sich Rauch herauswälzt; in dem Hause gibt's eine Menge Fenster, tausende und tausende; es gibt Maschinen, die ohne Hände nähen; es gibt Wagen, die sich ohne Pferde bewegen, – o, nicht oft genug kann er das alles erzählen, aber – sonst gibt es nichts, gar nichts!
Selbst ein Vögelchen kann man hier selten sehen. Nur zufällig verirrt sich hie und da ein Spatz hierher, grau wie die graue Wand, pickt ein oder zweimal an einem grauen Stein und fliegt davon … Von größeren Vögeln bekommen sie manchmal am Sonnabend ein viertel Huhn mit einem mageren, ausgestreckten Beinchen zu sehen.
»Wieviele Füße hat das Huhn?«
»Vier, wie das Pferd!« behauptet Abramtschik, und Abramtschik weiß doch alles.
Zuweilen bringt die Mutter vom Markt ein Hühnerköpfchen mit vorstehenden, von einer dünnen, weißen Haut überzogenen Augen.
»Es ist tot,« sagt der älteste, Abramtschik, und alle drei Köpfchen schauen einander mit ihren großen, schwarzen Augen an und seufzen.
In der Großstadt, in einem großen Hause, in furchtbarer Engigkeit, Armut und Einsamkeit geboren und erzogen, hatten sie keine Gelegenheit, lebende Vögel, Tiere, nicht einmal Haustiere, außer Katzen zu sehen. Sie haben eine eigene Katze, eine muntere, graue Katze, grau, wie die graue, feuchte Mauer, gegenüber ihrem Hause. Die Katze ist ihr einziges Vergnügen. Sie spielen stundenlang mit der Katze, binden ihr ein Tuch um den Kopf, nennen sie »Gevatterin« und lachen, lachen, lachen ohne Ende! Die Mutter beneidet sie und traktiert sie: den einen mit einer Ohrfeige, den anderen mit einem Rippenstoß, die dritte mit einem kleinen Kniff.
Die Kinder kriechen in ihren Winkel, hinter dem Ofen. Der ältere erzählt, die jüngeren lauschen. Sie schauen den älteren Bruder mit großen Augen an und hören zu. Abramtschik sagt, daß die Mutter recht hat, denn die Katze sei ein unsauberes Tier: der böse Geist lebt in ihr, deshalb darf man mit der Katze nicht spielen! Alles weiß Abramtschik! Es gibt nichts in der Welt, was er nicht wüßte!
Alles weiß Abramtschik. Abramtschik weiß, daß es irgendwo in weiter Ferne ein Land gibt, das man Amerika nennt. Dort in Amerika haben sie viele Freunde und Bekannte. Dort, in jenem Amerika, führen die Juden ein gutes, freies Leben. Dorthin werden sie reisen, sobald sie Schiffskarten bekommen. Ohne Schiffskarten kann man nicht hinreisen, denn das Meer liegt dazwischen, und auf dem Meer gibt es Stürme, – die schaurig brausen! – Alles weiß Abramtschik!
Alles! Sogar, was in »jener Welt« geschieht. Er weiß zum Beispiel, daß es in jener Welt ein Paradies gibt, natürlich für die Juden; im Paradies gibt es viele Bäume mit wundervollen Früchten; dort fließt die Sahne in Strömen. Diamanten und Brillanten kollern auf der Straße herum, man braucht sich nur zu bücken, sie mit beiden Händen aufzulesen und sich damit die Taschen voll zu stecken, so viele nur hineingehen.
Gottesfürchtige Juden sitzen dort Tag und Nacht, studieren und ergötzen sich an dem Strahlen des Heiligen Geistes …
So erzählt Abramtschik. Mosejtschik und Dworkas Augen funkeln. Sie beneiden den älteren Bruder, der alles weiß. Alles weiß er! Er weiß sogar, was am Himmel vorgeht. Abramtschik schwört, daß der Himmel sich zweimal im Jahre, an Festtagen, öffnet. Er hat es selbst nie gesehen, weil man von ihrer Wohnung aus den Himmel nicht sehen kann. Aber seine Kameraden haben es gesehen. Sie schwören, sie haben es, so wahr, wie sie alles Gute sehen möchten, mitangesehen. Sie werden doch nicht falsch schwören. Das ist doch Sünde! Schade, daß bei ihnen über der Straße kein Himmel ist, nur ein langes, schmales, blaues Band. Was kann man auf einem so kleinen Himmelsausschnitt anderes sehen, als ein paar kleine Sternchen und den Widerschein des Mondes? … Um seinen jüngeren Bruder und sein Schwesterchen zu überzeugen, daß der Himmel sich öffnet, nähert Abramtschik sich der Mutter und zupft sie am Rock.
»Mama, nicht wahr, heute am Vortag des Pfingstfestes öffnet sich der Himmel mit lautem Krachen?«
»Ich geb' dir eins auf den Schädel, daß es kracht, dann wirst du es wissen!«
Nachdem er von der Mutter einen Klaps bekommen hat, wartet Abramtschik auf den Vater. Der Vater ist mit einem Schock Schachteln auf den Markt gegangen.
»Ratet, was für ein Geschenk der Vater uns heute mitbringt?« fragt Abramtschik. Die Kinder beginnen zu überlegen, was der Vater ihnen wohl vom Markt mitbringen könnte. Sie zählen an den Fingern alles auf, was das Menschenauge sehen und das Menschenherz sich wünschen kann: Semmeln, Kringel, Bonbons, – aber sie haben es doch nicht erraten. Der Buchbinder Pejsa brachte diesmal weder Semmeln, noch Kringel, auch nicht einmal Süßigkeiten vom Markt nach Hause: er brachte Gras, grünes, duftendes Gras.
Alle drei Köpfchen, Abramtschik, Mosejtschik und Dworka, drängen sich um den Vater.
»Papa, was ist das hier?«
»Das ist – Grünes.«
»Was heißt – Grünes?«
»Grünes für den Feiertag. Zum Pfingstfeiertag muß man Grünes haben!«
»Und wo nimmt man es her, Papa?«
»Wo man es hernimmt? Hm … Man kauft es auf dem Markt.«
So antwortet der Vater und streut das grüne, duftende Grün auf dem soeben gefegten Fußboden umher. Er ist froh, daß sie duftendes Grün haben und wendet sich lustig an seine Frau:
»Ich wünsche dir fröhliche Feiertage! Sieh mal das Grüne an!«
»Ich gratuliere! Kannst aber auch ausfegen! Nun haben die Hungermäuler wieder etwas, um die Stube schmutzig zu machen!« antwortet die Frau in mißmutigem Ton und bedenkt, wie gewöhnlich, ein Kind mit einer Ohrfeige, das andere mit einem Rippenstoß, das dritte mit einem kleinen Kniff. Eine sonderbare Mutter haben sie! Immer ist sie unzufrieden, immer traurig, immer sorgenvoll. Gar nicht so, wie der Vater.
Und die drei kleinen Köpfchen blicken auf die Mutter, blicken auf den Vater, blicken aufeinander. Als Vater und Mutter sich umgedreht haben, legen sie sich alle drei auf den Fußboden, schmiegen die Gesichtchen in das duftende Gras und küssen das weiche, wonnesame, wunderschöne, das man »Grünes« nennt, das man zum Festtag braucht und auf dem Markt kauft …
Alles bekommt man auf dem Markt, sogar Grünes. Alles kauft der Vater, alles benützen sie, alles haben sie! Sogar Grünes! Sogar Grünes! …