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Kinder, ich will euch eine Geschichte erzählen, die Geschichte von einer Fahne: mit welcher Mühe ich mir eine Fahne zu Simchas-Thora Simchas-Thora, der letzte (Freuden-) Tag der Herbstfeier. besorgte und wie leicht ich sie wieder losgeworden bin. Nachher wurde ich – Gott hat es gewollt – schwer krank.
Als ich ein kleiner Knabe war, wurde ich »Toppel Tutaretu« genannt, obgleich ich »Koppel Kukareku« hieß, erstens, weil ich eine dünne, kreischende Stimme hatte, wie ein junger Hahn, der soeben zu krähen anfing, zweitens, weil ich weder »k« noch »g« aussprechen konnte. Wie zum Trotz hieß mein Vater Kalmann, meine Mutter Gittel Kalmann, ich hieß – Koppel Gittel Kalmann und mein Lehrer – Herschen Gorgel aus Galaganowka.
»Junge, wie heißt du?«
»Ich? Toppel Dittel Talmann.«
»Etwas lauter!«
»Toppel Dittel Talmann.«
»Noch lauter!«
Ich schrie mit voller Stimme: »Toppel Dittel Talmann!«
»Bei wem lernst du?«
»Ich lerne bei dem Lehrer Derschen Dördel aus Daladanowta.«
Gelächter. Alle lachten, nur ich weinte.
Ich weinte nicht deswegen, weil ich ausgelacht wurde, sondern weil ich geschlagen wurde. Jeglicher, der nur an Gott glaubte, schlug mich: der Vater, die Mutter, die Schwestern, der Lehrer, die Schulkameraden. Sie wollten mir alle beibringen, »menschlich zu sprechen«. Eines Tages steckte mir der Lehrer einen Holzkeil in den Mund, eine Art Zaumstück, und befahl den Schülern, mir in den Mund zu spucken, – vielleicht würde das helfen … Reb Zeime, der Tischler, der mit dem Lehrer unter einem Dach wohnte, mischte sich in die Sache.
»Warum quälen Sie ihn? Geben Sie ihn mir für eine Minute her, Sie werden sehen, er wird »menschlich sprechen«.
Reb Zeime rief mich, faßte mich beim Kinn und sagte: »Sieh mich an, Junge, und sage: ›Kopf an Kopf‹.«
Ich sah ihn an und sagte:
»Topf an Topf.«
»Nicht so,« sagte Reb Zeime: »sieh mir in den Mund und sprich mir nach: »Eine gut gebratene Gans.«
Ich sah ihm auf den Mund und wiederholte nach ihm:
»Eine tut tebratene Dans …«
»Nein, mein Dummchen, du sollst nicht sagen: dut tebraten, sag vielmehr: »gut gebraten, gut gebraten, gut gebraten …«
»Dut tebraten …«
Reb Zeime machte schließlich eine abwehrende Bewegung mit der Hand und erklärte:
»Wissen Sie, was ich Ihnen sagen werde? Da ist alle Mühe umsonst. Kein Teufel kann ihm helfen. Ein Krüppel für alle Zeiten! …«
*
Zu Simchas-Thora ein Fähnchen zu haben, ein echtes Fähnchen mit einem Stock, auf dem Stock einen Apfel, auf dem Apfel eine Kerze – schien mir ein solch gipfelsteiles Glück, daß ich nicht einmal davon zu träumen wagte. Gibt es denn nicht genug schöne Dinge in der weiten Welt? Es gibt zum Beispiel in der Schule Knaben, die eigene Federmesser, Geldbeutel, Lineale haben; es gibt Knaben, die jeden Tag Konfekt essen, Nüsse knacken, von Bretzeln und Fladen erst gar nicht zu reden; es gibt sogar auch solche, die am Wochentag Weißbrot essen … Manche Menschen haben Glück! Ich habe niemals Weißbrot am Wochentag gegessen, Kinder! Ich war glücklich, wenn ich mich mit Schwarzbrot satt aß. Wir waren, nicht wissen soll man davon, furchtbar arme Leute, obgleich wir alle arbeiteten: der verstorbene Vater war in der Unterabteilung des Fleischer-Bethauses als Bethausdiener angestellt, die verstorbene Mutter war eine Meisterin im Backen von Roggenbretzeln und Pfefferkuchen, die Schwestern strickten Strümpfe. Glaubt mir, auf Ehre, ich wußte nicht, was es heißt, sich satt essen, das heißt, soviel essen, daß man keine Lust mehr hätte, sofort wieder weiter zu essen.
Bares Geld in der Tasche zu haben, eine eigene Kopeke zu besitzen – daran dachte ich nicht einmal im Traum.
Nun stellt euch einmal vor, daß ich, Koppel Kukareku, plötzlich reich werde und zweiundzwanzig Kopeken erwerbe, die mir ganz allein gehören.
Ihr denkt: vielleicht hat jemand Geld verloren und ich habe es gefunden, oder gar ich habe es irgendwo genommen, etwa aus der Wohltätigkeitsbüchse herausgefischt? Gott schütze vor solchem Gedanken. Ich kann beschwören, daß es mühsam erworbenes Geld war, daß ich es mit meinen eigenen … Füßen verdient habe.
Es war zu Purim. Ein Festtag zur Erinnerung an die Befreiung der Juden durch Esther von dem ihnen drohenden Untergang zur Zeit des Königs Artaxerxes. Der Vater schickte mich zu den Besucher der Unterabteilung des Fleischerbethauses, »Schalach monois« Geschenke – Süßigkeiten, die als Gratulation geschickt werden. austragen. Früher besorgte das meine Schwester; aber als ich herangewachsen war, entschied der Vater, daß auch ich für das Haus mitarbeiten könne. Ich nahm ein Tablett mit einigen Pfefferkuchen und süßen Striezeln und trug es in die Häuser der Bethausbesucher, zerstampfte mit meinen bloßen Füßen den kalten, glitschigen Schmutz, und aus den Kupfermünzen, die ich geschenkt bekam, entstand ein Zwanzigkopekenstück und zwei Kopeken.
*
Als ich im Besitz dieses Kapitals war, ging ich umher und überlegte: Was fange ich wohl mit solcher Menge Geld an?
Es begann in mir ein Kampf des guten Genius mit dem bösen. Der böse Genius sagte:
»Wozu willst du das Geld aufheben? Kauf dir lieber etwas! Kauf dir Mohnstangen; bei der Pironditschka, der Verkäuferin, liegen sie auf dem Tisch, schöne, süße, dicke Stangen; oder kauf dir Pfefferkuchen mit Honig; oder einen gefrorenen Apfel, – da kannst du wenigstens einmal nach Herzenslust naschen!«
»Wenn ich auf dich höre,« sagte ich, »dann läuft mir das ganze Geld davon, eh ich was gemerkt hab. Ich will nicht.«
»Das ist wahr,« sagte der gute Genius, »borg das viele Geld lieber der Mutter, die kann es gebrauchen.«
»Sehr schlau,« entgegnete ich, »damit das Geld verfällt? Woher soll sie es nehmen, um es mir wiederzugeben?«
»Sie quält sich doch, die Arme, und zahlt für dich das Schulgeld.«
»Was hat das mit dem Schulgeld zu tun,« sagte der böse Genius, »kauf dir lieber eine Pfeife aus weißem Ton mit roten Punkten, oder ein Federmesser mit zwei Klingen und Kupfereinfassung, oder ein Portemonnaie mit einem festen Schloß.«
»Was wirst du ins Portemonnaie hineinlegen?« sagte der gute Genius, »dein Pech?«
»Knöpfe!« sagte der böse Genius, »du wirst das Portemonnaie mit Knöpfen vollstopfen, die Leute werden glauben, daß Geld drin ist, und sie werden dich beneiden …«
»Was hast du für einen Nutzen davon?« sagte der gute Genius, »hör lieber mich an, verteile das Geld unter die Armen, du tust ein gutes Werk: Die Armen sterben vor Hunger.«
»Die Armen,« versetzte der böse Genius, »du bist vielleicht keiner? Du hast ja selber immer Hunger. Ein Wohltäter – ausgerechnet! Warum hat dir kein Mensch etwas gegeben, als du bedürftig warst?«
*
Eines Tages hatte der böse Genius fast gesiegt.
Ich hatte in der Schule einen Kameraden Eilik, den Sohn eines reichen Mannes. Seine Taschen waren stets mit Süßigkeiten vollgestopft, aber er bot nicht gern anderen etwas davon an. Ob man ihn bat oder nicht,– es kam nichts dabei heraus. Plötzlich begann Eilik mich zu umschmeicheln, er schloß mit mir Freundschaft, wir waren bald ein Herz und eine Seele. »Weißt du?« sagte Eilik zu mir, »du bist ein netter Junge. Ich habe dich gern, weil du dich nicht randrängelst, wie die anderen mit ihrem ewigen »Gib mir ein Stückchen! Gib mir ein Krümchen!« Ich kann die Bettelhänse nicht ausstehen! Willst du ein Stückchen Bonbon?«
»Ein Stückchen Bonbon?« sagte ich, »gewiß …«
»Nun, und möchtest du Nüsse knacken?«
»Wenn ich Nüsse hätte, würde ich sie knacken.«
Eilik ließ die Hand in seine Tasche versenken, ich wartete, daß er mir etwas anbiete.
»Ich gehe dir ein Stück Kandiertes und drei Nüsse, wenn du mit mir tauschen willst. Willst du tauschen?«
»Tauschen?« sagte ich, »womit denn tauschen?«
»Ich gebe dir mein Federmesser, du weißt doch, mein weißes Messerchen.«
Ob ich Eiliks Messer kenne? Wer kennt es nicht? Wie oft hat es meinen Neid erweckt? Wie oft habe ich es im Traum gesehen?
»Nun, und ich?« sagte ich, »was soll ich dir dafür geben?«
»Und du?« sagte er, »gib mir dein silbernes Zwanzigkopekenstück.«
»Nimm«, flüsterte mir der böse Genius zu, »nimm! Ein ausgezeichnetes Messer, alle Jungens werden dich darum beneiden.«
Ich war schon bereit, nach dem Geld in die Tasche zu langen, aber ich besann mich wieder.
»Sieh mal, wie schlau er ist! Für zwanzig Kopeken kann ich mir ein neues Messer kaufen!«
»Solches Federmesser? Übermorgen früh! Aber wenn du willst, lege ich dir ein halbes Dutzend Knochenknöpfe zu.«
»Für Geld,« erwiderte ich, »kann man zehn Dutzend Knöpfe kaufen.«
»Und Bonbons und Nüsse – ist das denn gar nichts? Ich verspreche dir, jedesmal, wenn du mich darum bittest, etwas zu geben, ich schwöre es dir! Hier habe ich einen eisernen Nagel, siehst du? Ich schenke dir diesen Nagel, ich gebe ihn dir umsonst, guck mal, ein feiner Nagel!«
»Was fange ich mit dem Nagel an!« sagte ich.
»Wie kann man so reden! Alles mögliche! Du kannst ihn hineinschlagen, wohin du willst; du kannst damit auch in der Erde buddeln.«
»Wozu soll ich in der Erde buddeln?« sagte ich.
»Nun, ich erlaube dir, in meinem kleinen Gebetbuch zu beten.«
»Wozu brauche ich fremde Gebetbücher?« sagte ich.
»Ich lasse dich meine Sabbatmütze aufprobieren!«
»Wozu brauche ich fremde Mützen anzupassen?«
»Du willst also gar nichts haben! Dann nimm das!« Eilik versetzte mir einen Stoß in die Seite. »Wie gefällt euch dieser Bettelhans? Ich gebe ihm soviele Sachen: Ein Messer, Knöpfe, Konfekt, Nüsse, einen Nagel, ein Gebetbuch und die Mütze zum Anprobieren, – und er will immer noch nicht! Das ist ja der reine Wolfsdarm, den man nicht satt bekommen kann. Er glaubt, weil er zwanzig Kopeken hat, darf man nicht mehr an ihn rühren. Warte nur, Toppel Tutaretu, du wirst noch bei mir betteln … Nechem, da! Nimm den Nagel! …«
Eilik gab den Nagel Nechem mit den krummen Beinen und löste mit mir die Freundschaft.
*
Ihr fragt, was ich mit meinem Geld angefangen habe? Ein Teil ist beim Schmaus am »Lag-Baumer« Ein Schulfest am 33. Tag der Ernte. draufgegangen. Zu diesem Schmaus pflegt jeder Junge etwas in den »Cheder« mitzubringen: entweder Geld, oder etwas zum Essen, Süßigkeiten. Ich war der einzige, der an diesem Tage gewöhnlich nichts weiter als das übliche Frühstück mitbrachte, – ein Stück Brot mit Knoblauch. Ich wurde immer rot vor Scham. Man ließ mich aus Mitleid an dem Schmaus teilnehmen, aber ich fühlte es und die ganze Freude war mir dadurch verdorben … Jetzt war ich ein vermögender Mann! Wenn der reiche Eilik vier Kopeken spendierte, brauchte ich mich nicht zu schämen, eine Kopeke zu geben, ich war doch im Vergleich mit ihm gar nichts. Und wenn ich fünf Kopeken gab, so war das doch sicher genug? Aber ich werde zehn Kopeken geben, ihr sollt den Koppel Kukareku kennen lernen, oh! … Das übrige Geld legte ich beiseite.
Es wurde Spätsommer. Die Verkäuferin Pironditschka hatte immer neue Beeren auf ihrem Tisch. Der böse Genius erwachte wieder in mir.
»Sieh mal!« sagte er, »Stachelbeeren! Schau mal die roten Johannisbeeren!«
»Der Sommer ist noch lang genug, ich werde noch genug kaufen können. Es kommen noch Kirschen und Pflaumen, Äpfel und Birnen, Kürbisse und Wassermelonen. – Ich spare mir das Geld lieber für die Herbstfeiertage auf und kaufe mir dann eine Fahne.«
*
Die Feiertage kamen! Ich kaufte mir eine Fahne, eine große, gelbe, zweiseitige Fahne.
Auf einer Seite waren zwei Tiere gemalt, die wie Katzen aussahen, – aber es waren in Wirklichkeit Löwen – mit offenen Rachen und langen, ausgestreckten Zungen. Auf den Zungen hatten sie Rollen mit der altjüdischen Aufschrift: »Mit Posaunen und Hornklängen.« Unter dem einen Löwen auf der rechten Seite stand geschrieben: »Das Banner des Lagers Judas«, unter dem andern – links: »Das Banner des Lagers Ephraims«. Auf der anderen Seite waren Moses und Aron so treffend abgebildet, als wenn sie leben würden: Moses mit riesigen Hörnern auf dem Kopf und Aron mit einem goldenen Reif auf den roten Locken. Zwischen Aron und Moses sah man eine Menge kleiner Jüdchen, dichtgedrängt, mit Testamentrollen in den Händen, alle mit demselben Gesicht, alle in langen einförmigen Kaftans, alle in weißen Strümpfen, alle mit lang herabhängenden Gürteln. Die Jüdchen tanzten und sangen: »Freut euch und frohlockt am Thorafest!«
Nachdem ich mir das Banner verschafft hatte, ging ich auf die Suche nach einem Stock. Ich mußte mich an den Tischler Zeime wenden, der mir früher einmal beibringen wollte, »menschlich zu sprechen«.
»Was willst du, Toppel Tutaretutu?«
»Einen Stott für das Banner!«
»Was für einen Stott?«
»Einen Stott,« sagte ich, »ein Stütt Holt, damit ich die Fahne traden tann.«
Reb Zeime neckte mich, ich fing an zu weinen. Da wurde Reb Zeime weich, legte seine Arbeit nieder, nahm ein Stück Holz, fuhr mit dem Messer hin und her – fertig!
Jetzt fehlte noch der Apfel und die Kerze. Es mußte ein Wachslicht sein, kein Talglicht; wenn Talg auf den Apfel tropfte, war der Apfel verloren, – nicht mehr zu essen, treife, während Wachs nichts schadete. Ich hatte mehr Wachs, als irgendein anderer Knabe. Wenn ein Junge ein Stück Wachs brauchte, wandte er sich an mich. Dafür war doch mein Vater zweiter Bethausdiener in der Unterabteilung des Fleischerbethauses. Das Wachs, das am Versöhnungstag von den Kerzen übrigblieb gehörte ihm. Aus diesem Wachs bereitete er Lichter für Chanuka Chanuka – das Fest der Makkabäer., Habdole Habdole – das Gebet am Sabbatausgang.;–die Stümpfe dieser Kerzen gehörten mir.
So hatte ich also alles, was ich brauchte.
*
Ich befestigte die Fahne am Stock, setzte auf den Stock einen roten Apfel, zündete das Licht an und begab mich froh und lustig, wie nie, nach der Synagoge. Ich stellte mir vor, wie ich in der Synagoge auf der Bank an der Ostseite neben allen herrschaftlichen Kindern stehen würde. Die Lichter brannten, meine Fahne war die schönste, mein Apfel der roteste, meine Kerze die größte. In der Synagoge herrschte eine furchtbare Enge und Hitze. Die Frauen kamen, die Thorarollen zu küssen. Nun begann der Gang mit den Rollen. An der Spitze erschien der Kantor Reb Meilach mit wallendem Gebetmantel, ein echter General-Feldmarschall, hinter ihm die Andächtigen. Reb Meilach begann mit rührseliger, blecherner Stimme: »Oj-ser da-a-a-lim Hoischio no!«, die Frauen und Mädchen krochen ihm direkt vors Gesicht, küßten die Thorarollen und schrien mit kreischender Stimme: »Ihr sollt erleben das nächste Jahr! Erleben sollt ihr das nächste Jahr!« – »Ihr ebenfalls! Ihr ebenfalls!« antworteten die Männer.
Auf meinem Wege mußte ich an mehreren Synagogen und Bethäusern vorüber: die kalte Synagoge, die Betstätte der Schneider, die erste Betstätte, die chassidische Betstätte, die Betstätte der Misnagden, Eine Sekte. die neue Betstätte, die gelbe Betstätte, endlich das Bethaus der Schlächter … Dann mußte ich mich erst in die untere Abteilung begeben. Bei uns in Masepowka tut sich etwas: sämtliche Synagogen befinden sich in einer Straße, an einer Stelle, fast auf einem Hof, der daher der »Schulhof« genannt wurde. Das Bethaus wird auch »Schule« genannt.
Unser Schulhof war wie eine einzige, große durcheinandergeratene Synagoge. Wenn im Sommer während der Andacht alle Fenster offen standen, wußte man nicht, was man machen sollte: aufstehen, leise auf den Zehen hin- und hergehen und Gebete vor sich hinmurmeln, oder sich verneigend den Segen empfangen, oder als Antwort auf ein irgendwo ertönendes Gebet »Amen« sagen. An einer Stelle sangen sie: »Os ojschir Moische,« an einer anderen: »Ech-o-o-od!« dort ertönte der Talmudensingsang, unterbrochen von dem »Kadisch«-Gebet; Kadisch – das Gebet für die Verstorbenen. irgendwo erklang ein »Halleluja«.
Unser Synagogenhof sieht an Wochentagen ganz anders aus, als am Sonnabend und an Feiertagen. Am Wochentag ist hier eine Verkaufsstelle, wo Bücher, Betmäntel und anderer Betbedarf, faule Apfel, Kirchhofsbirnen, Sonnenblumen und Bohnen, Mohnstangen, Brezeln und Pfefferkuchen verkauft werden; Ziegen und Ziegenböcke liegen reihenweise und kauen ihr Frühstück und schütteln ihre Bärte. Wenn der Sonnabend oder ein Feiertag kommt, gibt es keine Verkaufstelle, keinen Handel, keine Ziegen, statt dessen stehen Juden in Gruppen, lachend und schwatzend und erzählen einander Neuigkeiten von der ganzen Woche, vom ganzen Jahr, von allen Weltereignissen. Hier versammeln sich auch die Schuljungen aus sämtlichen Chedern, Religiöse Schulen. sie rennen, springen, tollen herum; sie dürfen hier Unsinn treiben; sie fühlen sich frei wie die Fische im Wasser, wie die Vögel in der Luft: der Sonnabend ist ein Geschenk Gottes an die Schüler. Sie begucken einander, wessen Rock länger, probieren mit den Feiertagsmützen, wessen Kopf größer, und messen mit den Fingern, wessen Schläfenlocke kürzer ist. Jemand kreischt, jemand wird gekniffen, gestoßen, Katzenköpfe, Faustschläge, Fußstöße fliegen – eine lustige Welt!
Am Laubhüttenfest geht es noch lustiger zu als sonst. Am Tag vor Simchasthora versammeln sich hier die Jungen aus allen Schulen und marschieren in Reihen auf und ab. Die größeren Jungen und die kleineren von einander getrennt. Sie besehen gegenseitig ihre Fahnen und stellen fest, wessen Stock länger, wessen Apfel röter, wessen Kerze größer ist, wer eine Wachskerze und wer eine Talgkerze hat. Worte fallen, Scherze, spöttische Bemerkungen, man neckt sich, löscht dem andern das Licht aus, jemand schleicht sich heran und beißt ein Stück Apfel ab, bekommt dafür eine Ohrfeige – bis sie sich in den verschiedenen Synagogen verteilen.
*
»Ich gratulire! Frohen Feiertag! Toppel Tutaretutu hat eine Fahne! Zeig mal, mein Lieber, aber putz dir vorher die Nase!« so begrüßten mich die Jungen auf dem Schulhof.
Ich besah mir die fremden Fahnen, verglich sie mit meiner. Ach! Keine hielt den Vergleich aus!
Niemand hatte die Fahne so kerzengerade angemacht wie ich. Niemand hatte einen so geraden, runden, gehobelten Stock! Keiner hatte einen so großen, roten Apfel und ein so gut geratenes Licht! Wo sollten sie auch soviel Wachs hernehmen? Wer hatte auch soviele Knüffe und Ohrfeigen bekommen wie ich von meinem Vater, als er bemerkte, daß ich am Versöhnungstag das Wachs von allen Kerzenstümpchen sammelte? Ich verglich meine Fahne mit den andern, und mein Herz war voll Freude; es schien mir, daß ich in die Breite und in die Höhe wuchs, meine Füße gingen von selbst; ich wollte lachen, schreien, pfeifen, tanzen …
»Zeig mal!« drehte sich Eilik, der Sohn des Millionärs, zu mir und erstarrte im Augenblick. Ich beguckte seine Fahne, er – meine. »Auch 'ne Fahne,« dachte ich, »nennt sich: 'ne Fahne! Und der Stock! Ein krummer Feuerhaken!« Ich sah, wie er vor Ärger wütend war, aber ich tat, als ob ich nichts bemerkte, und wandte mich ab.
»Koppel!« sagte er zu mir, »wo hast du solchen Stock hergenommen?«
»Wie?« fragte ich, indem ich mich zu ihm wandte.
»Wo hast du diesen hübschen, reizenden Stock hergenommen?«
»Warum denn? Möchtest du ihn vielleicht gegen deinen Nagel eintauschen?«
Eilik hatte verstanden, wohin ich die Unterhaltung lenkte; er ließ seine Blicke umherschweifen, fuhr sich mit der Hand über die Nase, legte die Hand in die Tasche und ging davon. Ich freute mich, verfolgte ihn mit den Blicken und sah, wie er Nechem mit den krummen Beinen beiseite nahm, mit ihm tuschelte und mit den Augen auf mich zeigte. Ich sah das alles, aber ich tat, als ob ich nichts bemerkt hätte. Nach einer Weile trat Nechem zu mir heran, Eiliks Fahne, die ich an dem krummen Stock erkannte, in den Händen, und sagte:
»Laß mich das Licht anstecken. Meins ist ausgelöscht.«
»Ist das denn deine Fahne?« sagte ich und neigte mein Licht zu ihm.
»Ich weiß nicht, wessen Fahne das ist! …«
Bevor ich mich versah, erhob Nechem sein Licht zu meiner Fahne, und … meine Fahne brannte lichterloh. Die Flamme loderte auf, verlöschte … die Fahne war nicht mehr! …
*
Wäre ein Stein vom Himmel mir auf den Kopf gefallen, hätte sich ein wildes Tier auf mich gestürzt und mich zerbissen, wäre ich um Mitternacht einem Toten im weißen Totenkittel begegnet, – mein Schreck wäre nicht so groß gewesen, wie beim Anblick meiner abgebrannten Fahne. Aus meiner Brust entrang sich ein Stöhnen:
»O! Meine Fahne! Meine Fahne! Meine Fahne!«
Tränen stürzten aus meinen Augen. Die ganze Welt verdüsterte sich in einem Augenblick. Der Stock mit dem Apfel und der Kerze entfiel meinen Händen. Ich rannte davon, ich wußte selbst nicht, wohin und irrte umher, vergoß heiße Tränen, rang die Hände und beweinte meine Fahne, wie man einen Toten beweint, verkroch mich in einen Winkel, saß dort im Finstern, den Kopf zwischen den Knien, und weinte leise, damit es niemand höre und niemand sehe. Ich fragte Gott den Herrn:
»Gott, mein Herr! Wofür wurde ich so bestraft? Wofür? Wofür? …«
Wißt ihr, Kinder, jede Erzählung hat ein Ende, ein gutes oder ein schlechtes Ende. Die jüdischen Erzählungen haben gewöhnlich ein trauriges Ende. Wir haben sogar ein Sprichwort: Ein Jude, besonders ein armer Jude, ist nicht geschaffen, um Freude zu erleben … Was ist darüber zu disputieren? – Wenn ihr größer werdet, werdet ihr es selber erfahren …
Die Geschichte mit der Fahne ist auch nicht so glatt abgelaufen. Ich bin danach lange und schwer krank gewesen, ich lag in hohem Fieber, ich sah schaurige Dinge, Schlangen und Skorpione mit flammenden Zungen, wilde Tiere in Gestalt von Menschen … In meinen Ohren tönte das Geschrei von Katzen und fremdartigen Vögeln. Ich warf mich herum, phantasierte wild und war dem Tod nah. Man zählte mich schon zu den Toten. In der Unterabteilung des Fleischerbethauses wurde für mich sogar ein Psalm gelesen …
Aber ich möchte die Erzählung doch zuversichtlicher ausklingen lassen. Ihr sollt also wissen, daß ich mit Gottes Hilfe am Leben geblieben bin. Außerdem will ich euch sagen, daß ich im nächsten Jahr eine andere Fahne hatte, schöner als die erste, und daß ich meinen Platz neben den herrschaftlichen Kindern hatte. Die Kerzen brannten. Meine Fahne fiel allgemein auf. Die Juden gingen mit den Thorarollen um den Altar herum. Der Kantor Reb Meilach ging voran, mit wallendem Betmantel, ein echter General-Feldmarschall, – und sang mit seiner blechernen Stimme: »Ojser dalim Hoi-schi-o-no!«
Die Frauen und Mädchen küßten ohne Ende die Thorarollen, drängten sich ihm vor's Gesicht und kreischten und schrien: »Erleben sollt ihr das nächste Jahr! Erleben sollt ihr das nächste Jahr!«
»Ihr ebenfalls! Ihr ebenfalls!« antwortete man ihnen.