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Möge der Donner grollen, der Sturmwind brausen, die Erde drehe sich um und um! Braucht eine alte Eiche, die viele Jahrhunderte überdauert und kräftige Wurzeln in die feuchte Erde getrieben hat, Wind und Wetter zu fürchten?
Die alte Eiche ist kein Symbol. Es ist ein lebendiger Mensch, namens Nachman Werebowski aus Werebowka. Ein hochgewachsener, breitschultriger Jude, ein Kraftmensch. Die Juden aus der Stadt staunen ihn an, beneiden ihn um seine Gesundheit, aber sie spötteln gleichzeitig über ihn, indem sie ihn fragen: »Guten Tag, wie geht es gesundheitlich?« Nachman weiß, daß man über ihn und seine Gestalt spottet, er will sich krumm machen, um dadurch einem Juden ähnlicher zu sehen, – aber das hilft nicht viel: er ist nun einmal so groß geboren.
In Werebowka war Nachman der – allgemeine Wächter. Die Bauern von Werebowka nennen ihn: »Unser Lachman«, sie schätzen ihn als einen guten und klugen Menschen und sprechen mit ihm gern über wirtschaftliche Dinge. Sie beraten mit ihm, was sie mit dem Getreide machen sollen, – denn »Lachman« hat einen Kalender und weiß immer, ob das Brot in diesem Jahr teuer oder billig sein wird … Auch über allerlei andere Angelegenheit reden sie mit »Lachman« … Er kommt oft nach der Stadt, sieht dort Menschen und weiß, was in der großen Welt vorgeht …
Es ist schwer, sich Werebowka ohne Nachman Werebowski vorzustellen. Nicht nur sein Vater, Feitel Werebowski, ist in Werebowka geboren und gestorben, sondern auch sein Großvater Aria, Friede sei mit ihm, war ein kluger Jude, der gern scherzte und zu sagen pflegte, daß das Dorf deshalb Werebowka hieße, weil er, Feitel Werebowski, dort lebte, – denn es hat noch kein Werebowka gegeben, als es schon lange einen Aria Werebowski gab … So pflegte sein Großvater zu reden. Und das hat Aria Werebowski nicht nur einfach so hingesagt! So dumm war Aria nicht, daß er in den Wind reden sollte. Er dachte, als er das sagte, an die Gesetze gegen die Juden.
Auch zu seiner Zeit wurden Gesetze gegen die Juden herausgegeben. Schon damals wurde davon gesprochen, daß die Juden aus den Dörfern ausgewiesen werden sollten. Sämtliche Juden wurden zur Übersiedlung gezwungen. Nur mit dem alten Werebowski konnten sie nicht fertig werden. Man sagt, daß der Gouverneur mit ihm nichts ausrichten konnte. Denn Aria Werebowski wies »gesetzlich« nach, daß man ihn nicht so leicht aus Werebowka hinausjagen konnte. Ja, das sollten sie nicht erleben!
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Da Nachman so unbestrittene Privilegien, sozusagen ein Erbrecht hatte, in Werebowka zu wohnen, durfte er sich so ruhig fühlen, wie »auf dem Weinberg«. Was gingen ihn, Nachman Werebowski, alle »Gesetze«, »Zirkulare«, »Ansiedlungszonen« an? … Was gingen ihn zum Beispiel all die Märchen an, mit denen Kurotschka jedesmal aus dem Bezirk zurückkam!?
Kurotschka ist ein kleiner Mann, mit kurzen Fingern, einer silbernen Kette an der Uhr, mit Wams und hohen Stiefeln angetan, wie ein »Gutsbesitzer«. Kurotschka liest außerdem alle Zeitungen, die die Juden anzeigen und sie mit Schmutz besudeln … An und für sich ist Kurotschka ein ziemlich braver Kerl. Er lebt mit Nachman in Nachbarschaft, sie sind sogar befreundet. Wenn Kurotschka Zahnschmerzen hat, kommt er zu »Lachman«, sich Mundwasser holen. Wenn Kurotschkas Frau niederkommt, schickt sie nach Frau »Lachmanchen«. Aber seit einiger Zeit, seitdem er in den Zeitungen allerlei gelesen hat, ist er ein ganz anderer Mensch geworden, – der »Eisaw« Eisaw: Esau, Bezeichnung für Nichtjuden. hat sich in ihm gemeldet … Fortwährend kommt er zu Nachman mit einer Neuigkeit: »Der neue Gouverneur …«, »das neue Rundschreiben aus dem Ministerium …« … »Die neue Verordnung gegen die Juden« … »Die neuen Vorschriften …«
Dem Juden wurde bei diesen Neuigkeiten natürlich ungemütlich zumute; unwillkürlich bemächtigte sich seiner Seele eine Unruhe, das Blut gerann ihm in den Adern: aber er ließ es sich nicht anmerken, daß es auf ihn irgend einen Eindruck gemacht hatte. Nachman hörte alles lächelnd an und zeigte auf seine Handfläche, als wollte er sagen: »Wenn mir hier Haare wachsen …«
Mögen Gouverneure wechseln, mögen die Minister Zirkulare erlassen, – was ging das Nachman Werebowski aus Werebowka an?
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Nachman Werebowski aus Werebowka führte ein ganz erträgliches Leben. Natürlich lebte es sich nicht so, wie einst in vergangenen Zeiten. Als sein Großvater Aria noch lebte, ging es ganz anders zu. Das waren Zeiten! Ganz Werebowka, kann man sagen, war damals in ihren Händen. Welchen Handel haben sie damals geführt! Da gab es eine Schenke, einen Laden, eine Mühle, einen Speicher mit allerlei Getreide. Und wie hat man damals verdient! Das Gold wurde mit Schaufeln gemessen. Das alles war nun vorbei. Nichts war geblieben; es gab keine Schenke mehr, keinen Laden, keine Speicher mit Getreide, gar nichts. Ihr werdet fragen: Warum bleibt Nachman unter solchen Umständen in Werebowka? – Wo soll er bleiben? … In der Erde? … Mag Nachman nur versuchen, sein Haus zu verkaufen, – dann ist er kein Werebowker mehr. Dann gilt er als Angesiedelter, als Fremder. So aber hat er immerhin noch seinen eigenen Winkel, einen Ort, wo er seinen Kopf niederlegen kann. Am Haus einen Garten. Die Frau und die Töchter arbeiten im Garten. Gott wird eine gute Obsternte geben, das Gemüse reicht für den ganzen Sommer, Kartoffeln haben sie noch für den Winter genug, selbst nach Ostern werden sie davon essen. Von Kartoffeln allein kann der Mensch zwar nicht leben, man muß auch Getreide haben … Da er aber kein eigenes Getreide hat, muß man den Stock in die Hand nehmen, im Dorf herumgehen und einkaufen. Nachman kommt von seiner Wanderschaft nie mit leeren Händen zurück. Er kauft alles, was Gott ihm zuweist: altes Eisen, ein Maß Hirse, ein altes Fell, manchmal ein Schaffellchen. Das Schaffellchen dehnt er, lüftet es ordentlich und bringt es dem Hutmacher Abraham-Elia in die Stadt. Manchmal verdient er mit dieser Ware, manchmal verliert er auch, – dafür ist er ja Kaufmann. »Ein Kaufmann ist wie ein Jäger,« pflegte Nachman zu sagen, der in der Unterhaltung gern russische Sprichwörter zitierte. Der Hutmacher Abraham-Elias mit ewig blauer Nase und schwarzen, wie mit Tinte beklecksten Fingern, lachte darüber und behauptete, daß Nachman, der unter den Bauern lebte, sich vom Judentum so entwöhnt habe, daß er nur noch russische Sprichwörter anwenden könne.
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Ja, er hatte sich tatsächlich entwöhnt! Nachman fühlte, daß er sich immer mehr entwöhnte. Wenn sein Großvater, Aria Werebowski, – Friede sei mit ihm – jetzt aufstehen und seinen Enkel sehen würde! Ei, ei, ei! Der war auch ein kerngesunder Mensch, aber er kannte die Bibel, die Festverordnungen und die Psalmen auswendig! Was wußte er, Nachman, von diesen Dingen? … Zu seiner Schande sei es gesagt, – er konnte nur mit Mühe ein Gebet auswendig hersagen! Aber auch dafür sei Gott gepriesen: seine Kinder hatten nicht einmal mehr ein Gebet gelernt … Wenn er seine Kinder betrachtete, wie sie heranwuchsen, groß und breitschultrig wie er, aber nicht gleich ihm lesen und schreiben konnten, da wurde ihm schwer ums Herz. Am meisten grämte er sich um den jüngsten, Feitel, der nach seinem verstorbenen Vater hieß. Ein begabter Bursche war sein Feitel. Er war auch nicht so groß wie die andern, – ein zarteres Kind, jüdischer aussehend, – ein jüdisches Kind … Und ein Köpfchen hatte er, ein Gedächtnis! Ein einziges Mal hatten sie ihm im Scherz im Gebetbuch »A« und »B« gezeigt. Er kannte die Buchstaben noch bis heute, irrte sich niemals und zeigte mit dem Finger direkt darauf. Solch ein goldenes Kind wuchs nun im Dorfe auf, wälzte sich mit den Schweinen und Kälbern zwischen den Misthaufen herum und gab sich mit Kurotschkas Söhnchen Fedka ab. Sie ritten zusammen auf einem Stock, jagten derselben Katze nach, gruben an demselben Graben und trieben beide all das, was kleine Jungen zu treiben pflegen. Wenn Nachman sah, wie sein Junge mit dem »Bauernburschen« spielte, tat er ihm leid; er vertrocknete wie ein gefällter Baum …
*
Fedka, des Bauern Sohn, ist wie zum Trotz ein prächtiger Bursche, ein »anziehendes Gesichtchen«, ein sympathisches Frätzchen mit weißem Flachshaar. Er ist in demselben Alter wie Feitel und hat nicht das Geringste gegen ihn. Feitel hat ihn ebenfalls gern: Den ganzen Winter liegen die Kinder auf der Ofenbank, jeder bei seinem Vater, sie recken sich nach dem Fenster, aber nur selten gelingt es ihnen, einander zu erspähen. Aber nun ist der Winter, der lange, strenge Winter vorüber. Die Erde hat ihre weiße, kühle Decke abgeworfen. Die Sonne guckt hervor. Ein trockner Wind weht. Die Gräser sprießen. Und dort, unter dem Berg, rauscht das Flüßchen. Das Kälbchen bläht die Nüstern auf und keucht. Der Hahn hat ein Auge geschlossen und steht in Gedanken versunken. Alles ringsumher atmet neues Leben, alles freut sich, alles bringt Kunde von dem herannahenden Osterfest. Jetzt hält es weder Feitel, noch Fedka länger zu Hause. Beide springen in Gottes Welt hinaus, die sich für beide gleichzeitig aufgerollt hat. Sie fassen einander bei den Händen und rennen zu dem Berg hin, der ihnen beiden zulächelt.
»Kinder, hierher!«
Sie hüpfen der Sonne entgegen, die sie mit gleicher Liebkosung begrüßt und zu sich lockt:
»Kinder, hierher!«
Vom Rennen erschöpft, setzen sich beide auf Gottes grüne Erde nieder, die weder den Hebräer, noch den Kleinrussen kennt.
»Kinder, zu mir! Zu mir!«
*
Sie haben sich beide eine Menge zu erzählen. Den ganzen langen Winter haben sie sich kein einziges Mal gesehen. Feitel rühmt sich, daß er fast das ganze Alphabet schon kennt. Fedka prahlt, daß er eine Peitsche hat. Feitel erzählt seinem Kameraden, daß das Osterfest bei ihnen heute abend beginnt. Sie haben bereits Mazze – den Sauerteig – für alle acht Ostertage und Wein für den »Seider« Abendfeier am ersten und zweiten Ostertag. zu Hause.
»Erinnerst du dich, Fedka, ich habe dir im vorigen Jahr von unserer Mazze gegeben?«
»Mazze?« sagt Fedka, während ein breites Lächeln über sein liebliches Gesichtchen fließt; ganz augenscheinlich erinnert er sich des Geschmacks der vorjährigen jüdischen Mazze …
»Möchtest du etwas Mazze essen, Fedka? Frische Mazze?«
Ob Fedka gern Mazze aß? Welche Frage!
»So laß uns dorthin gehen!« sagt Feitel, indem er auf den Berg zeigt, der sich mit dem ersten Grün bedeckt und ihnen zuruft:
»Hierher, Kinder, hierher!«
Beide steigen den Berg hinauf. Eine Weile stehen sie bezaubert, blicken durch die Finger auf die spielenden Strahlen der milden Sonne und werfen sich auf die noch feuchte Erde, die schon nach frischem Grün duftet. Feitel zieht hinter seinem Kaftan ein Stück frische, weiße, runde Mazze heraus, die lang und quer, auf beiden Seiten mit kleinen Löchern durchstochen ist. Fedka läuft das Wasser im Mund zusammen, während Feitel die Mazze in gleiche Teile bricht und die Hälfte Fedka überreicht.
»Nun, Fedka, wie schmeckt die Mazze?«
Wie soll Fedka antworten, wenn er den Mund voll Mazze hat, die zwischen den Zähnen knistert und im Mund zergeht, wie Schnee? Noch eine Minute – und die Mazze ist zu Ende.
»Hast du nicht mehr?« fragte Fedka und blickt mit seinen großen, grauen Augen unter den Kaftan des Kameraden und beleckt sich, wie eine Katze nach dem Speck.
»Möchtest du denn noch mehr?« fragt Feitel, indem er das letzte Stückchen Mazze kaut und ihn mit seinen schlauen, listigen Äuglein ansieht.
Als ob man erst fragen zu brauchte!
»Warte ein bißchen!« sagt Feitel, »im nächsten Jahr gibt es wieder welche!«
Beide lachen über den Ulk und freuen sich darüber; dann schmeißen sie sich, ohne ein Wort zu sagen, als hätten sie sich verabredet, auf die Erde hin und kollern rasch, ganz rasch den Berg hinunter, bis sie strampelnd und lachend zu dessen Füßen liegen.
Unten schauen sie auf das rauschende Flüßchen, das irgendwo links um die Ecke biegt. Sie selbst schlagen den Weg nach rechts ein und wandern immer weiter und weiter, über eine große, freie Wiese. Sie ist noch nicht überall grün, aber sie verspricht, sehr bald grün zu werden. Es duftet noch nicht überall nach Gras, aber es verspricht zu duften. Die Kinder gehen und gehen, sie reden kein Wort mehr, sie sind jetzt stumm und nachdenklich, wie verzaubert, über den weichen, duftenden Boden, unter der hellen, leuchtenden und lächelnden Sonne. Sie gehen nicht, sie scheinen zu schwimmen, sie schwimmen nicht, sondern sie fliegen vielmehr, zusammen mit den Vögeln, die vor ihren Augen dahinschweben und durch die grüne, gute Welt ziehen, die der liebe Gott für alles geschaffen hat, was da lebt … Nun sind sie an der Mühle angekommen. Es ist die Windmühle des Dorfältesten Opanas. Einstmals gehörte sie Nachman Werebowski. Jetzt ist sie Eigentum des Dorfältesten. Opanas ist ein listiger Bauer, mit einem Ohrring in einem Ohr … Ein wohlhabender Hausherr, der in seinem Haus sogar einen Samovar benützt … Außer der Mühle hat er im Dorf auch einen Laden. Es ist derselbe Laden, der einst Nachman Werebowski gehörte … Er hat den Laden und die Mühle dem Juden bei der Versteigerung durch List abgenommen. Um diese Zeit arbeitet die Mühle sonst immer. Heute steht sie still. Es ist kein Wind. Ein seltsamer Frühling ist in diesem Jahr. Ein Frühling ohne Wind …
Die Mühle steht. Feitel und Fedka ist das gerade recht. Wenn die Mühle steht, kann man sie besser begucken. Und zu sehen gibt es eine Menge in der Mühle! Die Mühle selbst ist noch nicht ein so großes Wunder, wie der Klotz mit dem Rad am Ende, mit dessen Hilfe man die Mühle dorthin wenden kann, wo der Wind weht. Auf diesen Klotz haben die Kinder sich niedergesetzt, und nun erst fangen sie ein Gespräch an. Eines jener Gespräche, das keinen Anfang und kein Ende hat. Feitel erzählt Wunderdinge von der Stadt. Der Vater hatte ihn unlängst in die Stadt mitgenommen. Er war mit ihm auf dem Markt und hat viele Läden gesehen. Dort gibt es nicht einen Laden, wie bei ihnen in Werebowka, sondern eine Menge Läden. Dann, gegen Abend, – erzählt Feitel – gingen sie in die Synagoge. Der Vater hat nach seinem Vater »Jahrzeit« abgehalten. »Also nach meinem Großvater … verstehst du, Fedka, oder nicht?«
Vielleicht hätte Fedka verstanden, aber er hat nicht zugehört. Er unterbricht Feitel plötzlich mit einer Erzählung, die sich weder auf Feitels Erzählung von der Stadt, noch vom Dorf bezog. Fedka erzählt, wie er im vorigen Jahr einmal ein Vogelnest auf einem hohen Baum erblickt hat. Er wollte hinaufsteigen, aber er konnte nicht. Er wollte das Nest mit einem Stock herunterholen, aber es gelang ihm nicht. Da warf er mit Steinen nach dem Nest, warf und warf so lange, bis er zwei kleine, blutende junge Vögelchen herunterholte.
»Getötet?« fragt Feitel erschrocken, indem er ganz zusammenkauert.
»Ja, sie waren noch ganz winzig,« rechtfertigt sich Fedka.
»Und du hast sie getötet?«
»Ja, sie waren noch ohne Federchen, mit gelben Schnäbelchen und dicken Bäuchelchen …«
»Aber getötet hast du sie? Getötet? …«
*
Es war schon ziemlich spät, als Feitel und Fedka an der Sonne und am Himmel merkten, daß es Zeit war, nach Hause zu gehen.
Feitel hatte ganz vergessen, daß heute abend das Osterfest begann. Jetzt erinnerte er sich, daß die Mutter ihm das Haar waschen und auskämmen und ihm neue Höschen anziehen wollte. Er sprang rasch auf, Fedka folgte seinem Beispiel. Sie liefen vergnügt und übermütig nach Hause. Damit der eine nicht früher und der andere später ankomme, faßten sie einander bei den Händen und schossen wie ein Pfeil dem Dorfe zu.
Als sie im Dorf ankamen, war das Haus Nachman Werebowskis von einer Schar Bauern und Bäuerinnen, Burschen und Mädchen, umstellt. Der Schreiber Kurotschka, der Dorfälteste Opanas, der Vogt, der Wachtmeister – alle waren sie hier. Alle redeten und schrien durcheinander. Nachman beugte sich und wischte sich mit beiden Händen den Schweiß vom Gesicht. Neben ihm standen die älteren Kinder Nachmans, düster wie die Nacht, schwarz wie die Erde … Aber plötzlich änderte sich das Bild. Irgend jemand zeigte mit der Hand auf unsere Burschen. Das ganze Volk mit dem Schreiber, dem Dorfältesten, dem Vogt und dem Wachtmeister waren wie erstarrt. Nachman richtete sich mit einemmal ermutigt auf, zuckte mit seinen breiten Schultern, als wollte er sagen: »Nu???« und begann zu lachen. Frau Nachman klatschte in die Hände und brach in Tränen aus …
Der Dorfälteste, der Vogt und der Wachtmeister lösten sich von der Menge und beugten sich über die Kinder:
»Wo habt ihr euch herumgetrieben, Schlingel?«
»Wir waren bei der Mühle.«.
*
Die beiden Freunde, Feitel und Fedka, wurden tüchtig bestraft, beide wußten nicht, wofür.
Der Vater versetzte Feitel zunächst mit dem Käppchen eine ordentliche Tracht, – »damit der Junge es sich merke«, … Was sollte er sich merken? … Aber die Mutter entriß augenscheinlich aus Mitleid den Jungen den Händen des Vaters, teilte ihm von sich aus einige Schläge aus und ging sofort daran, ihm sein Haar auszukämmen. Dann steckte sie ihn aus Anlaß des Feiertags in neue Höschen – Seine einzige Neuanschaffung zum heiligen Fest. Sie seufzte ununterbrochen. Warum seufzte sie nur? …
Feitel hörte, wie die Mutter zum Vater sagte:
»Ach, wenn Gott nur gäbe, daß alles gut vorüberginge! Wenn nur die Feiertage erst vorüber wären!«
Feitel wollte es nicht in den Sinn, warum das Osterfest so schnell vorübergehen sollte … Es hatte doch kaum erst begonnen. Feitel spannte seinen Verstand an, aber er konnte nicht begreifen, weshalb der Vater ihn geprügelt, weshalb die Mutter ihn geschlagen hatte. Er konnte es sich nicht erklären, was das für ein sonderbarer Osterabend in diesem Jahr war …
*
Feitel war nicht der einzige, der nicht begriff, um was es sich handelte. Fedka verstand auch nicht besser, wenn nicht noch schlechter, was er verbrochen hatte. Fedkas Vater, Kurotschka, fing damit an, daß er ihn beim Schopf faßte, das weiße Flachshaar raufte und ihm ein paar Nackenstöße als Zugabe austeilte. Die Nackenstöße nahm Fedka wie ein Philosoph entgegen. Er war von klein auf daran gewöhnt. Er belauschte die Unterhaltung seiner Mutter mit den Nachbarinnen. Eine von ihnen erzählte von einem Kind, das die Juden vor Ostern in die Stadt gelockt hatten: sie hatten es einen ganzen Tag und eine ganze Nacht im Keller gehalten und wollten schon an die Sache herangehen, als die Leute laute Schreie vernahmen. Die Menge sammelte sich und rettete das Kind. Auf seinem Körper fand man Zeichen, – vier Stichwunden in Form eines Kreuzes …
So erzählte eine der Nachbarinnen, ein forsches Weib mit rotem Gesicht und breiter Haube, während die anderen Frauen zuhörten, mit den eingewickelten Köpfen nickten und sich bekreuzigten: »O, wie gräßlich! O, wie furchtbar! O, wie schlecht!«
Fedka konnte es sich nicht erklären, warum die Weiber ihn so mitleidig ansahen? Welche Beziehung hatte diese Geschichte zu ihm und Feitel? Und warum hat ihm der Vater am Haar gebeutelt, warum hat er ihn mit Nackenstößen traktiert? Aber wegen des ausgerauften Haares und des mißhandelten Schopfes machte er sich keine Gedanken, auch die Nackenstöße machten ihn nicht traurig … Es waren nicht die ersten Hiebe, die er bekam. Er dachte nur darüber nach, warum er gerade jetzt so verprügelt worden war, warum sie ihn gerade heute beim Schopf gezogen und ihm Genickstöße ausgeteilt hatten … Wofür? Wofür?
*
»Nun?« hörte Feitel, wie der Vater unmittelbar nach Ostern mit so strahlendem Gesicht, als hätte er Gott weiß welches Glück erfahren, zur Mutter sprach: »Also siehst du? Hat es sich gelohnt, so zu weinen? War es nötig, solche Angst auszustehen? Ein Weib bleibt ein Weib. Unser Ostern ist vorüber und
ihr Ostern ist vorüber, und es ist nichts vorgefallen …«
»Gott sei gepriesen,« erwiderte die Mutter. Feitel verstand noch immer nicht, wovor die Mutter Angst gehabt hatte … Und warum war sie so vergnügt, daß Ostern vorüber war? … Wäre es nicht besser, wenn das Osterfest länger gedauert hätte?
Feitel begegnete Fedka vor dem Haus und konnte nicht umhin, seinem Freund zu erzählen, wie bei ihnen zu Hause gebetet, dann zu Abend gegessen wurde, immer gegessen und gegessen! Er berichtete Fedka von sämtlichen Ostergerichten, die die Mutter vorbereitet hatte, wie sie schmeckten, und von dem süßen Wein, den sie tranken. Fedka lauschte aufmerksam und blickte spähend unter Feitels Kaftan. Er erinnerte sich noch des Geschmacks der Mazze. Plötzlich erscholl in der Straße eine langgedehnte, kreischende Sopranstimme:
»Fed–ka! Fed–ka!«
Die Mutter rief Fedka zum Mittagessen. Aber Fedka hatte keine Eile. Jetzt würden sie ihn nicht mehr schlagen, sie waren ja nicht hinter der Mühle, auch war ja Ostern schon vorüber, und man brauchte sich nicht mehr vor den Juden zu fürchten …
Fedka legte sich also mit dem Bauch platt auf die Erde, das weiße Köpfchen auf die Hände stützend; ihm gegenüber streckte sich in genau derselben Stellung Feitel aus. Der Himmel war blau. Die Sonne wärmte. Der Wind wehte und spielte mit dem Haar der Knaben. Das Kälbchen sprang neben ihnen herum. Der Hahn spazierte mit allen seinen Frauen. Und die beiden Köpfchen, das weiße und das schwarze, lagen, auf die Ellenbogen gestützt, und plauderten und plauderten und konnten sich nicht satt plaudern …
*
Nachman Werebowski befand sich auch außer dem Hause. Er hatte den Stock zur Hand genommen und war am frühen Morgen in das Dorf handeln gegangen. Vor jeder Hütte blieb er stehen und begrüßte den Wirt, den er beim Namen nannte. Er redete über dies und jenes, nur von der Ostergeschichte erwähnte er kein Wort … Nicht ein Wort von der Angst, in der er und sein Weib gelebt hatten … Bevor er weiterging, versuchte er wegen Ware anzuklopfen.
»Hast du nicht ein überflüssiges Stück, das du nicht gebrauchen kannst?«
»Nein, Lachman.«
»Altes Eisen, etwas Hirse, alte Säcke oder vielleicht ein Lammfell?«
»Nein, verzeih, Lachman, es ist nichts da. Schlechte Zeiten!«
»Warum denn schlecht? Hast du etwa alles vertrunken? … In den Feiertagen?«
»Ach, wo denn … Vertrunken? Was für Feiertage? Einfach schlechte Zeiten!«
Der Bauer seufzte und Nachman seufzte ebenfalls. Dann fingen sie wieder an, von unwichtigen Dingen zu sprechen, damit es nicht aussehe, als wäre er gekommen, um dem Bauern etwas abzukaufen. So wanderte Nachman von einer Hütte zur zweiten, von der zweiten zur dritten, bis es ihm schließlich gelang etwas zu kaufen. Ohne Ware kam Nachman nie nach Hause.
Beladen und schweißbedeckt wanderte Nachman Werebowski mit seinen langen Füßen nach Hause und dachte nur an eins: wieviel könnte er an der Ware verdienen oder wieviel müßte er verlieren? An die Ostergeschichte dachte er nicht mehr. Die überstandene Angst hatte er längst vergessen. Der Nachbar Kurotschka mit seinen Gouverneurs, den Rundschreiben und Vorschriften ist ihm auch längst wieder entfallen … Das alles ging ihn nichts an …
Mag der Donner grollen, der Sturmwind brausen, das Weltall drehe sich um und um, – er hat feste Wurzeln in die feuchte Erde getrieben … Was braucht er Wind und Wetter zu fürchten? …