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Tage, Monate und Jahre verstrichen; der Weiße Bison – welchen Namen der Unbekannte angenommen hatte – schien seiner Heimat gänzlich entsagt zu haben, da es ihm verwehrt war, diese je wieder zu betreten. Er hatte die indianischen Sitten vollständig angenommen und sich in die seltsamen Bräuche eingelebt, die bei seinen neuen Freunden herrschten. Dank seiner Weisheit hatte er sich in so hohem Grad die Achtung und die Anerkennung des Volkes der Kenhas erworben, daß es ihm gelungen war, unter dessen angesehenste und geachtetste Sachems aufgenommen zu werden.
Der Sperber hatte bei manchen Gelegenheiten unverkennbare Beweise seines Mutes und seiner militärischen Fähigkeiten abgelegt und dadurch gleichfalls eine ehrenhafte und angesehene Stellung beim Volk erlangt. Wenn es bei einem gefährlichen Unternehmen eines bewährten Führers bedurfte, fiel die Wahl des Rates der Sachems stets auf ihn, weil man wußte, daß seine Unternehmungen den besten Erfolg zu haben pflegten. Der Sperber war ein Mann von geradem, offenem Sinn, der den geistigen Wert seines europäischen Freundes gar bald erkannte, und den Lehren des Greises gehorsam, handelte er nie in irgendeiner Lebenslage, ohne sich zuvor bei ihm Rat geholt zu haben, und er nahm stets die Ratschläge des klugen Mannes zu seiner Richtschnur an. Er hatte nie Ursache, es zu bereuen, sondern erntete bald die Vorteile eines so klugen Benehmens.
Nachdem ihm zwei Jahre nach seiner Verheiratung mit einem jungen Mädchen seines neuen Volkes – eine Verbindung, die er gleichfalls auf den Rat seines Freundes eingegangen war – ein Sohn geboren wurde, nahm er das Kind in seine Arme, brachte es dem Greis und sagte bewegt: »Mein Vater, der Weiße Bison, sieht diesen Krieger; es ist sein Sohn, und er wird ihn zum Mann bilden.«
»Ich schwöre es«, antwortete der Greis in festem Ton.
Sobald das Kind entwöhnt war, hielt der Vater das Versprechen, das er seinem Freund gegeben hatte, und übergab ihm seinen Sohn mit dem Versprechen, ihm volle Freiheit zu lassen, diesen nach eigenem Gutdünken zu erziehen. Der Greis fühlte sich durch das in Aussicht gestellte Erziehungswerk verjüngt und hoffte, in einer gewissen Zeit sich einen Sohn nach seinem Herzen heranzubilden, weshalb er die Pflicht gern auf sich nahm.
Das Kind hatte von seinen Eltern den Namen Natah-Otann erhalten, welcher Name für alle bedeutungsvoll war, da die Indianer das gefürchtetste Tier ihrer Wälder, den Grauen Bären, so nennen. Der Weiße Bison gelobte sich innerlich, daß der junge Mann die Erwartungen nicht täuschen solle, die sein Vater für ihn zu hegen schien. Der Weiße Bison war ein Kind des achtzehnten Jahrhunderts und beschloß auf das junge, seiner Pflege übergebene Wesen das Erziehungssystem anzuwenden, das Jean-Jacques Rousseau in seinem »Emile« entwickelt und befürwortet hat.
Natah-Otann machte unter der Leitung des Weißen Bisons schnelle Fortschritte. Der Greis hatte etliche Bücher bei sich, die dazu dienten, seinem Zögling ausgebreitete Kenntnisse und eine seltene Belesenheit zu geben. Es ereignete sich der seltsame Fall, daß ein Indianer, der genau den Gewohnheiten seiner Väter folgte, jagte und kämpfte wie sie, ohne jemals seinen Stamm zu verlassen, doch zu einem bedeutenden Mann erzogen wurde, der sich nicht scheuen durfte, sich in irgendeiner europäischen Gesellschaft zu bewegen, und dessen umfassender Verstand alles begriffen, alles gewürdigt und alles in sich aufgenommen hatte.
Von der Zeit an hatte das Leben Natah-Otanns ein Ziel, einen Zweck, der das fortwährende Streben seines Lebens blieb: Er wollte nämlich die Indianer wieder zu der Bildungsstufe erheben, von der sie herabgestiegen waren, indem er sie vereinigte und zu einem einzigen großen, starken und freien Volk machte.
Sonderbarerweise empfand Natah-Otann, sobald er zum Mann herangereift war, für seine rohen und unwissenden Landsleute keine Verachtung, sondern eine glühende Liebe, die ihm den aufrichtigen Wunsch eingab, sie aus ihrer Erniedrigung zu reißen.
Der Weiße Bison, der notgedrungen der Vertraute der innersten Gedanken des jungen Mannes war, nahm anfangs dessen Pläne mit dem ungläubigen Lächeln des Alters auf, das, über alles enttäuscht und aufgeklärt, im Grunde des Herzens den Glauben an alles verloren hat. Er glaubte, daß sich Natah-Otann durch sein jugendliches Feuer und seine Begeisterung für alles Große und Erhabene, die ein Attribut aller edlen Seelen ist, zu einer unbesonnenen Hoffnung hinreißen lasse, deren Unmöglichkeit er nur zu bald erkennen würde. Als er aber bemerkte, wie tiefe Wurzeln jene Ideen in seinem Herzen geschlagen hatten, als er sah, wie entschlossen der junge Mann ans Werk ging, erbebte der Greis und erschrak vor seinem eigenen Werk. Er fragte sich selbst, ob er berechtigt gewesen sei, so zu handeln, wie er es getan hatte, oder ob er nicht vielmehr unrecht gehabt hätte, einen so befähigten Geist so gewaltig zu entwickeln, da dieser allein und ohne andere Hilfe als die Kraft seines eigenen Willens einen Kampf unternehmen wollte, in dem er unfehlbar untergehen mußte.
Derselbe Mann, der in seiner Jugend während der sturmbewegten Zeit der Revolution die Menschen wie reife Ähren um sich her hatte fallen sehen, ohne zu beben; der sich nicht gescheut hatte, die Hand nach dem Heiligsten und Ehrwürdigsten auszustrecken, um den Triumph seiner Ideen zu sichern; der endlich, vom allgemeinen Haß verfolgt und vom Tadel seines Volkes beladen, genötigt gewesen war, sich wie ein Missetäter zu verbergen, um sich den Nachstellungen einer ebenso mächtigen als unversöhnlichen Reaktion zu entziehen, und doch frei und stolz das Haupt erhob und mit der kräftigen Hand auf die breite Brust schlug, indem er sagte: »Ich habe meine Pflicht getan; mein Gewissen ist rein, denn an meinen Händen klebt kein Blut, und mein Herz ist stark geblieben!« – jener Mann bebte, wenn er an die unberechenbaren Folgen dachte, die die Grundsätze mit sich bringen konnten, die er dem jungen Mann fast spielend beigebracht hatte. Er sah ein, daß eine solche Erziehung, die mit derjenigen seiner Umgebung im größten Widerspruch stand, Natah-Otann unbedingt in sein Verderben reißen mußte. Er begann daher mit eigenen Händen das Gebäude niederzureißen, das er selbst so mühsam errichtet hatte, und bemühte sich, den feurigen Tatendrang, der seinen Zögling verzehrte, auf einen anderen Gegenstand zu leiten und dessen Leben ein anderes Ziel zu setzen, indem er ihn von seinen Plänen abbrachte. Aber es war zu spät – das Übel war unheilbar. Sobald Natah-Otann bemerkte, daß sich sein Lehrer auf solche Weise selbst verleugnete, schlug er ihn mit seinen eigenen Waffen und nötigte ihn, unter der unbarmherzigen Logik, die er ihn selbst gelehrt hatte, errötend und beschämt das Haupt zu senken.
Natah-Otann vereinigte in sich ein seltsames Gemisch von Gutem und Bösem, und alle seine Empfindungen äußerten sich leidenschaftlich. Zuweilen schien es, als ob er den edelsten Grundsätzen huldige: Er zeigte sich gütig und großmütig. Zu anderen Zeiten aber erreichten seine Grausamkeit und seine Roheit eine unbegreifliche Höhe, ohne daß man erklären konnte, wie es zugehe. Im allgemeinen aber zeigte er sich gegen seine Landsleute mild und wohlwollend, und ohne den Grund seiner Güte zu begreifen, empfanden letztere die Gewalt seines entschieden bedeutenden, magnetischen Einflusses und fürchteten ihn und zitterten beim geringsten Wort oder dem Runzeln seiner Brauen.
Die Weißen – namentlich die Spanier und die Nordamerikaner – waren die erbittertsten Feinde Natah-Otanns; er bekämpfte sie ohne Gnade und Barmherzigkeit, überfiel sie, wo er nur immer konnte, und brachte diejenigen, die das Unglück hatten, in seine Hände zu fallen, unter den schrecklichsten Qualen ums Leben. Sein Ruf war daher in den Prärien weit verbreitet, und sein Name flößte Schrecken ein. Schon mehrere Male hatten die Vereinigten Staaten versucht, sich von einem so furchtbaren und unversöhnlichen Feind zu befreien, aber alle ihre Bemühungen waren vergebens, und der indianische Häuptling näherte sich kecker und übermütiger denn je mehr und mehr den amerikanischen Grenzen, herrschte unumschränkt in der Wildnis, deren König er vollständig war, und drang zuweilen mit Feuer und Schwert bis in die Städte der Union, um den Tribut zu fordern, den er den Weißen unbedingt auferlegen wollte.
Vielleicht wird man uns der Übertreibung anklagen, doch versichern wir, daß wir nur die reinste Wahrheit gesagt und, wo wir die Tatsachen verändert, diese eher gemildert als übertrieben haben. Wenn wir das Inkognito, das die Personen unserer Erzählung umgibt, aufheben wollten, so würden viele auf den ersten Blick die geschilderten Menschen erkennen und die Wahrheit unserer Behauptungen bestätigen können.
Ganz besonders war die allgemeine Entrüstung durch eine furchtbare Abschlachtung erweckt worden, deren Urheber Natah-Otann war. Die Sache verhielt sich folgendermaßen:
Eine amerikanische Familie, die aus dem Vater, der Mutter, den zwischen zehn und zwölf Jahre alten Söhnen sowie einem kleinen, drei- bis fünfjährigen Mädchen und fünf Dienern bestand, hatte die westlichen Staaten verlassen, um ein Grundstück auszubeuten, das sie am oberen Missouri angekauft hatte. Zu der Zeit, in der unsere Erzählung spielt, wurde jenes Gebiet, das man ausschließlich den Indianern überließ, von den Weißen höchst selten betreten, und die Eingeborenen nebst etlichen Jägern und kanadischen Trappern durchstreiften es allein nach allen Richtungen.
Als die Familie die Ansiedlungen verließ, empfahlen ihre Freunde die größte Vorsicht; ja sie rieten sogar, sich nicht in so geringer Anzahl in die Wildnis zu wagen, sondern auf andere Auswanderer zu warten, die bald eintreffen und dieselbe Richtung einschlagen sollten, wobei man ihnen zu bedenken gab, daß eine Karawane von fünfzig bis sechzig Personen die Indianer leicht fernhalten und ungefährdet über ihre Ländereien ziehen könne.
Das Oberhaupt jener amerikanischen Familie war ein alter Soldat aus dem Befreiungskrieg, der nicht nur einen wahren Löwenmut, sondern auch einen echt britischen Trotzkopf besaß. Er antwortete jenen wohlmeinenden Ratgebern, daß seine Diener und er vollkommen ausreichend wären, um sämtlichen Indianern der Prärien die Spitze zu bieten; daß sie gute Büchsen und unerschrockene Herzen hätten und ihre Besitzung trotz aller Hindernisse glücklich erreichen würden. Hierauf traf er seine Vorbereitungen mit dem Eifer eines Mannes, der von keinem Aufschub hören will, sobald er einen Entschluß gefaßt hat, worauf er – von dem Tadel seiner Freunde begleitet, die ihm unzähliges Unglück prophezeiten – abreiste.
Die ersten Tage verstrichen aber ohne Störung; nichts schien die Befürchtungen, die die Freunde ausgesprochen hatten, bestätigen zu wollen. Die Auswanderer reisten langsam durch eine herrliche Gegend, ohne daß die geringste Spur der Indianer entdeckt worden wäre, die sich unsichtbar gemacht zu haben schienen.
Die Amerikaner gehören zur Zahl derjenigen Menschen, die am leichtesten von der äußersten Vorsicht zur törichtesten und größten Sorglosigkeit übergehen. Auch im gegenwärtigen Fall machten sie keine Ausnahme von der Regel.
Als sie sahen, daß alles in ihrer Umgebung ruhig war und sich ihnen kein Hindernis entgegenstellte, fingen sie an, die Befürchtungen ihrer Freunde zu belachen und zu verspotten; nach und nach versäumten sie die gewohnte Wachsamkeit, vernachlässigten die in der Prärie üblichen Vorsichtsmaßnahmen und fingen schließlich sogar an zu wünschen, daß die Rothäute sie angreifen möchten, um an diesen die Vorzüglichkeit ihrer Waffen zu erproben.
Diese Ruhe dauerte beinahe zwei Monate, und die Auswanderer waren kaum noch zehn Tagesreisen von ihrer neuen Besitzung entfernt und hofften, diese bald zu erreichen. Sie dachten nicht mehr an die Indianer, und wenn des Abends vor dem Schlafengehen die Rede auf diese kam, so geschah es nur, um über die lächerliche Ängstlichkeit ihrer Freunde zu spotten, die sich einbildeten, daß man den Fuß nicht in die Wildnis setzen könne, ohne in einen Hinterhalt zu geraten.
Eines Abends hatten sich die Auswanderer nach einer ermüdenden Tagesreise hingelegt, nachdem sie mehr aus Pflichtgefühl oder um die reißenden Tiere fernzuhalten als aus irgendeinem anderen Grund Wachen um das Lager aufgestellt hatten. Die ermüdeten Wachen, die bisher noch nicht beunruhigt worden waren, erfüllten nur kurze Zeit, die Augen auf die Sterne gerichtet, ihre Pflicht, dann überließen sie sich allmählich dem Schlaf, der ihre Augen fest schloß.
Ihr Erwachen sollte furchtbar sein.
Ungefähr in der Mitte der Nacht schlichen sich etwa fünfzig Schwarzfüße unter der Führung Natah-Otanns wie Kobolde durch die Finsternis, erkletterten die Verschanzungen des Lagers und knebelten die Amerikaner, ehe diese Zeit gefunden, nach ihren Waffen zu greifen und sich zur Wehr zu setzen.
Hierauf folgte ein schrecklicher Auftritt, den zu schildern sich die Feder sträubt und kein Wort imstande ist, hinreichend auszusprechen.
Natah-Otann leitete die Abschlachterei – wenn man sich eines solchen Wortes bedienen kann – mit beispielloser Kaltblütigkeit und Grausamkeit. Der Anführer der Karawane und seine fünf Diener wurden nackt an Baumstämme gebunden, gegeißelt und gemartert, während die Knaben vor ihren Augen buchstäblich bei langsamem Feuer gekocht wurden.
Die vor Entsetzen halb wahnsinnige Mutter flüchtete mit dem kleinen Mädchen in ihren Armen; nachdem sie aber geraume Zeit gelaufen war, verließen sie ihre Kräfte, und sie sank bewußtlos zu Boden. Die Indianer ereilten sie; da man sie für tot hielt, verschmähte man, sie zu skalpieren, doch entriß man ihr das Kind, das sie mit übermenschlicher Kraft an ihre Brust gedrückt hielt. Das Kind brachte man zu Natah-Otann.
»Was soll damit geschehen?« fragte der Krieger, der die Kleine überbrachte.
»Ins Feuer!« erwiderte jener lakonisch.
Der Schwarzfuß schickte sich kaltblütig an, den unbarmherzigen Befehl zu vollziehen, als der Vater des Kindes in herzzerreißendem Ton ausrief: »Halt! Tötet ein unschuldiges Geschöpf nicht auf so furchtbare Weise; ist es nicht genug der unmenschlichen Qualen?«
Der Schwarzfuß blieb unschlüssig stehen und blickte seinen Häuptling fragend an.
Letzterer schien sich zu bedenken. »Wartet!« sagte er, indem er sich aufrichtete; hierauf wandte er sich zu dem Auswanderer und sagte: »Du wünschst, daß deine Tochter leben bleibe, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete der Vater.
»Gut«, versetzte jener; »ich will dir ihr Leben verkaufen.«
Bei diesem Vorschlag schauderte der Amerikaner. »Unter welcher Bedingung?« fragte er.
»Höre«, antwortete der Indianer, und indem er ihn so durchdringend anblickte, daß er bis ins Innerste erbebte, sagte der Häuptling mit nachdrücklicher Betonung: »Meine Bedingungen sind folgende: Ich bin Herr über euer aller Leben; es gehört mir, und ich kann es abkürzen oder verlängern, je nach meinem Wunsch und Willen, ohne daß ihr es hindern könnt. Indessen fühle ich mich, ohne zu wissen warum«, sagte er mit spöttischem Lächeln, »heute aufgelegt, mild zu sein, und deine Tochter soll leben. Aber das eine gebe ich dir zu bedenken: Bei dem ersten Schrei, den du ausstößt – welcher Art die Qualen auch sein mögen, die man dir auferlegt –, wird deine Tochter umgebracht; mithin mußt du schweigen, wenn dir daran liegt, sie zu retten.«
»Ich bin es zufrieden«, antwortete der Weiße. »Was kümmern mich die grausamsten Qualen, wenn nur mein Kind lebt!«
Ein düsteres Lächeln flog um die Lippen des Häuptlings. »Es ist gut«, sagte er.
»Noch ein Wort!« fuhr der Auswanderer fort.
»Rede!«
»Gewähre mir eine Gnade. Laß mich das arme Geschöpf küssen!«
»Gebt ihm sein Kind!« befahl der Häuptling.
Ein Indianer reichte dem Unglücklichen das kleine Mädchen.
Das unschuldige Mädchen schien zu ahnen, was vor sich ging, denn es schlang seine Arme um den Hals seines Vaters und schluchzte. Letzterer war so festgebunden, daß er nur mit Küssen antworten konnte, in denen sein ganzes Herz zu liegen schien.
Der Anblick hatte etwas Abstoßendes und erinnerte fast an einen Hexensabbat. Die fünf Männer, die nackt an Bäume gebunden waren; die beiden Kinder, die sich unter herzzerreißendem Geschrei über glühenden Kohlen wanden, und die gleichmütigen, vom rötlichen Schein des Feuers beleuchteten Indianer bildeten das furchtbarste Schauspiel, das die ausschweifendste Phantasie eines Malers nur immer ersinnen konnte.
»Genug!« sagte Natah-Otann.
»Eine letzte Gabe – ein letztes Andenken!«
Der Häuptling zuckte die Achseln. »Wozu?« sagte er.
»Um mir den Tod, den du mir zugedacht hast, zu erleichtern.«
»Mach ein Ende; was willst du noch?«
»Hänge meiner Tochter diesen mit meinem Haar umschlungenen Ohrring um den Hals.«
»Ist das alles?«
»Alles.«
»Es sei.« Der Häuptling trat heran, nahm den Ohrring aus dem rechten Ohr des Auswanderers, schnitt ihm mit seinem Skalpmesser eine Haarlocke ab und sagte, indem er ihn spöttisch anlächelte: »Höre: du und deine Gefährten, ihr sollt lebendig geschunden werden, und ich werde den Riemen, an dem ich deinen Ohrring um den Hals deiner Tochter befestigen will, aus deiner Haut schneiden. Ich bin großmütig, wie du siehst, denn ich gewähre dir mehr, als du verlangt hast. Erinnere dich aber unseres Vertrages.«
Der Auswanderer warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Halte dein Versprechen ebenso, wie ich das meinige zu halten weiß. Laß die Marter beginnen, Henker; du sollst sehen, wie ein Mann stirbt.«
Und es geschah. Der Auswanderer und seine Diener wurden vor den Augen der armen Kinder lebendig geschunden. Der Auswanderer ertrug die Marter mit einer Standhaftigkeit, der der Häuptling selbst seine Bewunderung nicht versagen konnte. Kein Schrei, keine Klage, kein Seufzer entrang sich seiner blutenden Brust; er war wie aus Stein.
Als die Haut vollständig abgezogen war, trat Natah-Otann zu dem Unglücklichen, der immer noch lebte. »Du bist ein Mann«, sagte er. »Stirb in Frieden; ich werde mein Versprechen halten.« Hierauf fühlte er wahrscheinlich Mitleid mit soviel Standhaftigkeit, denn er schoß ihm eine Kugel durch den Kopf.
Die furchtbare Hinrichtung hatte vier Stunden gedauert. (Um uns von dem Vorwurf zu befreien, daß wir uns in der Erfindung von Greuelszenen gefallen, erklären wir hiermit, daß der eben berichtete Vorfall in allen seinen Einzelheiten streng faktisch ist.) Die Indianer raubten und zertrümmerten alles, was den Amerikanern gehört hatte, und was sie nicht mitnehmen konnten, gaben sie den Flammen preis. Natah-Otann hielt das Versprechen, das er seinem Opfer gegeben hatte, gewissenhaft. Seiner Drohung gemäß fertigte er aus einem Stück der Haut des Amerikaners – die er, so gut es ging, zu dem Zweck vorbereitete – ein Futteral, in das er den Ohrring nebst der Haarlocke steckte, und hängte es dem Kind an einem ebenfalls aus der Haut seines Vaters geschnittenen Riemen um den Hals. Während der Rückreise nach dem Dorf übernahm Natah-Otann allein die Pflege des armen kleinen Wesens, dem er die größte Aufmerksamkeit widmete.
Sobald der Häuptling wieder zu seinem Volk zurückgekehrt war, erklärte er öffentlich, daß er die Kleine an Kindes Statt annehme, und gab ihr den Namen Lianenblüte.
Zu der Zeit, wo unsere Erzählung beginnt, war Lianenblüte ungefähr vierzehn Jahre alt. Sie war ein reizendes, sanftes und natürliches Wesen, schön wie die Madonna der letzten Liebe. Ihre großen, offenen blauen Augen schienen den Himmel widerzustrahlen, und sie durchstreifte sorglos und munter die unerforschten Pfade der Urwälder, die ihr Stamm durchzog; ruhte zuweilen träumend unter dem Schatten der hundertjährigen Bäume; lebte wie die Vögel; vergaß die Vergangenheit, unter der sie nur den gestrigen Tag verstand; kümmerte sich nicht um die Zukunft, die für sie noch nicht vorhanden war, und gedachte der Gegenwart nur, um sich bewußt zu sein, daß sie glücklich wäre.
Das liebliche Kind war, ohne es zu ahnen, der Abgott des Stammes geworden. Besonders widmete ihr der greise Weiße Bison eine unbegrenzte Zärtlichkeit; doch hatten ihm die an Natah-Otann gemachten Erfahrungen den Mut genommen, sich wieder dem Erziehungsfach zu widmen. Er begnügte sich daher, das Kind mit väterlicher Sorgfalt zu bewachen und die kleinen Mängel, die er zuweilen an ihm entdeckte, mit Geduld zu rügen.
Der alte Volkstribun hatte – wie alle energischen und unbeugsamen Naturen – ein lammfrommes Herz. Nachdem er sich von der Welt, die ihn verkannte, zurückgezogen und seinen Geist durch das Leben in der Wildnis erfrischt und verjüngt hatte, kehrten die Illusionen und die großmütigen Regungen seiner Jugend in sein Herz zurück. Er folgte der Entwicklung jener kräftigen Natur, deren Wachstum die schönsten Hoffnungen für die Zukunft gab, mit inniger Freude und unaussprechlichem Genuß.
Lianenblüte hatte von ihren Kinderjahren keine Erinnerung bewahrt, und da sie nie durch ein Wort an das furchtbare Ereignis gemahnt wurde, in dessen Folge sie zum Stamm gekommen war, wurde die Erinnerung daran durch neuere, frischere Eindrücke verwischt.
Lianenblüte wurde von allen so geliebt und verzogen, daß sie ein Kind des Stammes zu sein glaubte. Weder ihre langen goldenen Locken noch die blendende Weiße ihrer Haut konnte ihr ihre Abkunft verraten; denn bei unzähligen Indianerstämmen stößt man auf solche Naturspiele. Unter den Mandanern findet man viele, die leicht für Weiße ausgegeben werden könnten, wenn sie europäische Kleidung trügen.
Die Schwarzfüße waren so bezaubert vom Reiz des lieblichen jungen Mädchens, daß sie das Schicksal ihres Stammes von ihrer Nähe abhängig glaubten. Sie betrachteten sie wie ihren Schutzgeist und ihren Talisman und setzten ein ebenso festes als inniges und unbegrenztes Vertrauen in sie.
Lianenblüte war in der Tat die Beherrscherin der Schwarzfüße; ein Wink ihrer rosigen Finger, ein Wort ihres lieblichen Mundes genügte, um ihr ebenso unbedingten als augenblicklichen Gehorsam zu sichern. Sie konnte alles tun, sagen und verlangen, ohne einen Augenblick der Befürchtung Raum zu geben, daß ihr Wille angefeindet oder ihre Taten gerügt werden würden. Sie übte ihren despotischen Einfluß aus, ohne sich dessen bewußt zu sein, und war die einzige, die nicht ahnte, wie groß ihre Gewalt über jene rohen und ungezähmten Menschen war, die sich in ihrer Nähe in willige, treue Diener verwandelten.
Natah-Otann hing an seiner Pflegetochter mit aller Wärme und Innigkeit, deren eine Natur wie die seine fähig ist. Anfangs hatte er mit dem Kind gespielt wie mit einem unbedeutenden Gegenstand; allmählich aber, und je mehr das Kind heranwuchs, wurden die Spiele ernster, bis er zuletzt fühlte, daß sein Herz gefangen sei. Der unbeugsame Mann fühlte zum erstenmal in seinem Leben eine unerklärliche Regung in seinem Innern, deren Kraft und Heftigkeit ihn zugleich erschreckte und in Erstaunen setzte.
Da entspann sich ein geheimer Kampf zwischen dem Kopf und dem Herz des Häuptlings. Er wollte sich gegen das Gefühl, das ihn beherrschte, auflehnen; er, der bisher jedes Hindernis überwunden hatte, fühlte sich einem Kind gegenüber schwach; und wenn er zuweilen versuchte, ihm rauh zu begegnen, entwaffnete es ihn durch ein Lächeln. Der Zwiespalt in seinem Innern dauerte lange, aber endlich mußte sich der furchtbare Indianer als besiegt bekennen, d. h. er überließ sich willenlos der Strömung, die ihn mit fortriß, und gab, ohne längeren Widerstand zu versuchen, der heftigen Leidenschaft nach, die ihm das junge Mädchen einflößte.
Zuweilen aber, wenn ihm einfiel, auf welche Weise Lianenblüte sein Pflegekind geworden war, empfand er so heftige innerliche Qualen, daß er sich voll Schrecken fragte, ob nicht die glühende Liebe, die sich seiner bemächtigt hatte und ihn vollständig beherrschte, eine Strafe sei, die ihm der Himmel auferlegte. Zu solchen Zeiten erfaßte ihn eine sinnlose Wut; er verfolgte die Unglücklichen, deren Pflanzungen er verheerte, mit noch größerer Grausamkeit und kehrte mit Blut bedeckt und mit einer reichen Beute von Skalps in das Dorf zurück, wo er sich vor dem jungen Mädchen seiner Greueltaten rühmte.
Lianenblüte war verwundert, einen Mann, den sie zwar nicht für ihren Vater, aber doch für einen Verwandten hielt, in einem solchen Zustand zu sehen, und überhäufte ihn mit allen Tröstungen und kindlichen Liebkosungen, die ihr ihre Neigung zu ihm eingab. Unglücklicherweise erhöhten diese Liebkosungen nur die Qualen des Häuptlings, und er entfernte sich halb sinnlos vor Schmerz, während sie traurig und fast erschrocken über ein Benehmen zurückblieb, dessen Ursache sie sich nicht erklären konnte.
Es kam so weit, daß der Weiße Bison, der auf seinen Zögling stets ein wachsames Auge hatte, meinte, daß es um jeden Preis notwendig sei, das Übel mit der Wurzel auszurotten und den Sohn seines Freundes dem verderblichen Einfluß zu entziehen, den die ahnungslose Zauberin auf ihn ausübte. Sobald er gewiß zu sein glaubte, daß Natah-Otann Lianenblüte liebe, verlangte der alte Volkstribun eine geheime Unterredung mit seinem Zögling, die ihm letzterer bewilligte, ohne zu ahnen, aus welchem Grund der Weiße Bison einen solchen Schritt tue.
Der Häuptling erschien eines Morgens an der Tür der Wohnung seines Freundes. Der Weiße Bison lag in halb liegender Stellung am Feuer, das in der Mitte der Hütte brannte.
»Ich heiße dich willkommen, mein Sohn«, sagte er, »und habe dir nur wenige Worte zu sagen; ich halte diese aber für wichtig genug, um zu wünschen, daß du sie sofort anhören möchtest. Setz dich neben mich!«
Der junge Mann gehorchte.
Nun schlug der Weiße Bison ein ganz anderes als das bisherige Verfahren ein. Er, der bisher die Pläne seines Freundes in Hinsicht auf Erhebung und Veredelung der Indianer stets bekämpft hatte, ging jetzt mit solchem Feuer und solcher Überzeugung auf die Ideen des Häuptlings ein, daß letzterer staunte und nicht umhin konnte, ihn zu fragen, wie es komme, daß er seine Meinung so plötzlich geändert habe.
»Der Grund ist sehr einfach«, antwortete der Greis. »Solange ich glauben mußte, daß jene Ideen nur das Erzeugnis jugendlicher Begeisterung und Schwärmerei waren, habe ich sie – wie es meine Pflicht ist – als Träume eines edlen Herzens angesehen, das sich selbst täuscht und das, indem es seinen eigenen Standpunkt erkennt, sich nicht die Mühe nimmt, zu überlegen, ob Hoffnung auf Erfolg vorhanden sei.«
»Und jetzt?« fragte der junge Mann lebhaft.
»Jetzt sehe ich ein, wie aufrichtig und wahrhaft edel und großherzig deine Pläne sind, und halte diese nicht nur für ausführbar, sondern ich will deren Verwirklichung dadurch sichern, daß ich dir meine Hilfe anbiete.«
»Ist es Euer Ernst, mein Vater?« fragte der junge Mann begeistert.
»Ich schwöre es dir; aber wir müssen ungesäumt Hand ans Werk legen.«
Der Häuptling blickte den Greis forschend an; dieser blieb unerschütterlich ruhig. »Ich verstehe Euch«, sagte er endlich langsam und bewegt, »Ihr reicht mir die Hand am Rande des Abgrunds. Ich danke Euch, Vater; ich werde mich Eurer würdig zeigen, das schwöre ich meinerseits.«
»Gut, daran erkenne ich meinen Sohn. Glaube mir«, fügte der Greis mit traurigem Kopfnicken hinzu, »das Vaterland ist häufig eine sehr undankbare Geliebte, aber es ist die einzige, die uns wahre Seelenfreuden bereitet, wenn wir ihr um ihrer selbst willen uneigennützig dienen.«
Die beiden Männer drückten sich herzlich die Hand; der Bund war geschlossen.
Wir werden bald erfahren, ob Natah-Otann seine Liebe wirklich so vollständig überwunden hatte, wie er glaubte.