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Einem Wagenabteil erster Klasse des Morgenschnellzuges, der pustend vor dem Bahnhof in Lienz hielt, entstieg, freudig von Graf Botho, in ruhiger Freundlichkeit von Egon begrüßt, Gräfin Agnes Pejacsevits in elegantester, veilchenduftender Toilette, verhüllt durch einen Zobelpelz.
»Da bin ich! Onkel, Bruder, seid gegrüßt!« lachte Agnes, die von den Verwandten Nissi genannt wurde, und ließ sich unter Küssen von den Herren umarmen.
Egon bat um den Gepäckschein, denn der Eilzug habe nur wenige Minuten Aufenthalt.
»Die Scheine hat Ilka, meine Zofe! Wo ist sie?« rief scharf die Gräfin.
Ein Mädchen, unverkennbar ungarischer Typus, kam herbei, mit Handgepäck beladen, verbeugte sich vor den Herren und überreichte dem Kammerdiener Franz die Scheine.
»Rasch!« drängte Egon, und Franz sprang zum Gepäckwagen, aus welchem Koffer von riesigen Dimensionen eben ausgeladen wurden.
»Hier ist's ja völlig Sibirien! Und diese unheimlichen Berge! Hu, wie kalt! Onkel, hast Du einen Wagen hier?«
»Selbstverständlich, wiewohl in diesem Nest die Entfernungen lächerlich klein sind. Unser Junggesellenheim ist keine drei Minuten entfernt. Also zunächst schönsten Dank für Dein Erscheinen!« sprach Botho und reichte der eleganten, feschen Nichte galant den Arm.
Da Egon momentan die Gepäckausladung überwachte und ob der vielen Koffer staunte, benutzte Agnes die Gelegenheit, dem Oheim zuzuflüstern: »Was ist los? Du hast jedenfalls ein besonderes Motiv, nicht?«
Graf Botho raunte: »Ja! Mußt mir helfen, eine Mesalliance verhindern! Still, Egon kommt! Nichts verraten!«
»Ah, interessante Aufgabe!« lachte Agnes und ließ sich zum Wagen geleiten. »Ilka, auf den Bock! Das Handgepäck in den Wagen!«
»Nicht übel! Da wird für uns kaum mehr Platz sein!« meinte Botho und half die Necessaires und Täschchen versorgen.
»Erst das Gepäck, dann der Reisende! Du hast doch telegraphiert: Auf längere Zeit! Wir können übrigens, da es nur wenige Minuten sind, zu Fuß gehen! Allons!«
Nun wehrte doch Botho ab. »Unmöglich, Teuerste! Solch pedaler Einzug würde ungemessenes Aufsehen in dem Nest erregen! Bitte!«
»Fängt gut an! Na, werde schon Leben hineinbringen; Du weißt, darauf verstehe ich mich!« lachte die fesche Gräfin und stieg ein.
Botho that desgleichen. Für Egon war nahezu kein Platz, die Rücksitze sind mit Bergen von Taschen und Schachteln belegt, daher sagte der Hauptmann: »Ich komme nach! Glückliche Ankunft, Nissi!« Zum Kutscher gewendet, befahl Egon: »Fertig! Nach Hause!«
Im flotten Trab zogen die Füchse die Karosse hinweg.
Bevor Egon den Heimweg antrat, kam Franz herbei, zu melden, daß er ohne Beihilfe die Unmasse Gepäck nicht transportieren könne. »Darf ich einige Eisenbahner engagieren, Herr Graf?«
Egon nickte und schritt dann langsam den Fußweg entlang, der im Halbbogen das Städtchen umzog und in die Muchargasse einmündete. Wozu unmittelbar dem Wagen folgen, dachte Egon, Onkel wird froh sein, mit Nissi seine geheimen Pläne erörtern zu können. Ist ja doch nur ein Komplott gegen mich und mein ... Der Gedanke ward jäh unterbrochen. Egons Auge gewahrte vor sich Ida und das zierliche Mädchen kommt wahrhaftig auf ihn zu.
Welch günstiger Zufall! Seit Monaten war es Egon nicht vergönnt, Ida zu sehen, und nun im Augenblick, da Botho Hilfstruppen requiriert, führt ein gütiges Geschick dem stillen Verehrer die Geliebte in den Weg.
Erglühend kam Ida heran, auch sie hat den Grafen erblickt und heiß wallt das Blut, hoch wogt die erregte Brust.
»Fräulein Ida! Welches Glück, Sie wiederzusehen!« rief Egon innigen Tones und reichte dem Mädchen die Hand, in welche Ida die schmale Rechte legte.
»Gott zum Gruß, Herr Graf!« lispelte sie.
»Wollen Sie zur Bahn? Ich weiß nicht, wie ich das Ungefähr preisen soll, das mich Ihren Weg kreuzen läßt! Wie lang und bang war die Zeit seither!«
»Herr Graf haben sich ganz zurückgezogen!«
»Konnte ich denn anders?«
»Ach ja, jenes unglückliche Wort Papas! Es war gewiß nicht so schlimm gemeint, ein unbedachtes Wort! Wie ich Papa kenne, bedauert er den Vorfall gewiß aufrichtig.«
»O wie leidig ist es! Doch sind mir die Grenzen zu eng gezogen.«
»Dürfte ich für Papa die nötige Abbitte leisten, Herr Graf?«
»Sie, Fräulein Ida? Die unschuldsvolle Taube! Wie lieb von Ihnen!« Egons Blick tauchte in die Rehaugen des süßen Geschöpfes.
»Seien Sie nicht unerbittlich, Herr Graf! In unseren Kreisen kennt man die Etikette nicht so genau; es klingt manches Wort rauh und ischt nicht schlimm gemeint. Freilich, der Bürgerstolz spielt oft hinein, wo es nicht nötig wäre! Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich jene Wendung schmerzt!«
»Sie leiden, und ich kann solche Qual nicht hindern! Wie ich das bedaure!«
»Lassen Sie mich für Papa Abbitte leisten! Findet sich nur die Gelegenheit, so wird Papa gewiß das unglückselige Wort zurücknehmen. Ja? Ich bitte herzlichst darum!«
»Zweifeln Sie nicht, Fräulein Ida, daß es mich glücklich machen wird, einen Wunsch, der von Ihren Lippen kommt, zu erfüllen! Die amtliche Stellung jedoch fordert, daß den ersten Schritt der Beleidiger thun muß.«
Traurig senkte Ida das liebliche Köpfchen.
Egon kämpfte mit sich; aufatmend sprach er dann: »Einen Ausweg finden wir vielleicht! Glauben Sie, daß Ihr Herr Vater aus eigener Initiative zu mir kommen würde?«
»Ohne Citation kaum!«
»Ein Anlaß, mit Herrn Piffrader dienstlich zu sprechen, liegt vor. Erscheint Ihr Herr Vater aber auf Grund einer amtlichen Vorladung, so scheint es mir zweifelhaft, daß er aus eigenem Antriebe auf jenen Vorfall zu sprechen kommen und Abbitte leisten wird.«
»Und ich kann den Vater nicht darum bitten, weil ...« Ida hielt erglühend inne.
»Weil Sie nicht das Motiv verraten wollen!« jubelte Egon auf. »Heißen Dank für dieses nichtgesprochene, mich beseligende Wort! Ja, Fräulein Ida, es beglückt mich, zu wissen, daß Sie Verlangen danach tragen, mich in Ihrem Hause wieder zu sehen. Auch ich sehne mich täglich, stündlich nach dem verlorenen Verkehr mit Ihnen! Mein Herz ist erfüllt von einem Gefühl aufrichtiger Verehrung für Sie, teuerste Ida! Will es der allgütige Gott, so fügt er unser Geschick nach meinem Herzenswunsche.«
Ida weinte vor Glück und schluchzte: »Herr Graf! Ich ...«
Egon flüsterte: »Still! Man kommt! Vertrauen wir auf Gott, er wird uns beistehen, alle Hindernisse zu überwinden. Will meine Ida tapfer sein und gleich mir vertrauensvoll ausharren?«
»Ja, so wahr es einen Gott giebt, das will ich!«
»Mit einem Kuß können wir das Gelöbnis nicht bekräftigen! Gott sei mit Ihnen, Ida, auf Wiedersehen!«
Ein rasch gewechselter Händedruck, ein Versenken der Blicke ineinander, dann schied Egon, und Ida setzte ihre Wanderung fort.
In seiner Wohnung angekommen, hieß Graf Egon die üppig schöne Schwester mit einer Freude und einer Herzlichkeit willkommen, daß ob solcher Wandlung im sonst kühlen Wesen Egons sowohl Botho wie Agnes verwundert aufblickten und wie fragend eine rasche Augenkorrespondenz wechselten.
»Herzlich willkommen, liebe Nissi! Betrachte mein bescheidenes Beamtenheim als Dein Eigentum, schalte und walte nach Deinem Belieben und verschöne uns das bißchen Leben, so der Dienst mir läßt.«
» Köszenem!« (Danke) erwiderte die Gräfin-Schwester, »ich finde es gar nicht so übel hier. Freilich ausgesprochene Garçonwirtschaft trotz Onkel, der ja auch ein verbissener Jung- respektive Altgeselle ist!«
»Laß mich aus dem Spiel, Nissi!« lachte Botho, »erzähle uns lieber, was Du in Pest und Wien unterwegs Neues erfahren hast.«
»Aus Pest weiß ich nichts, bin ja nur durchgefahren. Wien? Ach, was ist in Wien los um diese Jahreszeit?! War ja nur einen Tag und eine Nacht dort.«
Botho lachte: »Zeit genug, um sich entweder gottvoll zu amüsieren oder sträflich zu langweilen!«
»Stimmt!« meinte Agnes, »für mich immer das letztere, denn Wien ist niemals Pest und schließlich bin ich den Wiener Kreisen einigermaßen entfremdet, seit ich das ›Glück‹ genieße, Gräfin Pejacsevits auf dem langweiligen Schlosse Málfa zu sein.«
Beide Grafen richteten erschrockene Blicke auf Nissi, die achselzuckend sprach: »Nun ja, was guckt Ihr so verwundert? Die Grafenkrone, die ich vorher schon besaß als eine Komtesse Rothenburg, hat allein für mich keinen besonderen Reiz und das Leben auf Málfa schon gar nicht. Aber was will ich machen?«
Botho war ersichtlich bestrebt, etwaige Bekenntnisse dieser schönen Seele zu verhindern und suchte das Thema zu wechseln: »Wen trafst Du im schönen Wien?«
»Ach, die ganze langweilige Sippe, wie sie immer dieselbe in gewissen Salons zu treffen ist. Hätte ich nicht dringende Kommissionen gehabt, ich wüßte wahrlich nicht, wie man die Zeit totschlägt. Es fehlt das Pestin, das unser Pest so verlockend macht, jene Luft, die berauscht, sich auf die Nerven legt, animierend wirkt, daß man versucht ist, die größten Dummheiten mit größter Bereitwilligkeit zu verüben.«
»Alle Achtung!« spottete Graf Botho, »aber von einem Pestin habe ich meiner Lebzeit noch nichts gehört. Du übersetzest das berühmte Parisin einfach kühn, wie Du einmal bist, ins Ungarische und singst auf Pest ein Lob, das dem Seinebabel gebührt.«
»Möglich! Paris interessiert mich nur wegen Worth und Felix!«
»Ahem! Verstehe, die großen Schneider, besser gesagt couturiers, die Gutnäher! Apropos, Nissi, kann ich Dir in dieser Beziehung dienen? Du weißt, ich bin schönen Damen gerne gefällig, und auf meine Nichte Nissi, die Herrlichste von allen, bin ich bekanntlich stolz!«
»Sehr galant, mon cher oncle! Werde zu gegebener Zeit mit Vergnügen von Deiner bewährten Noblesse Gebrauch machen. Hier, denke ich, genügt, was ich von Pest und Wien mitgenommen.«
»Der Quantität nach gewiß!« warf gutmütig spottend Egon ein.
»Mein Gott, was hat man in solcher sibirischen Einöde, wenn nicht die Freude am Toilettenwechsel! Mit Musik wird nicht viel los sein, was?«
Egon lächelte. »Ich bin dem Pianoforte völlig fremd geworden!«
»Du hast aber doch noch den Prachtflügel, was?« fragte Agnes.
»Gewiß, er steht zur Verfügung!«
»Und wie ist's mit dem quatre-mains spielen? Kann ich einen guten Partner haben?«
Botho äußerte leichthin: »Irre ich nicht, spielt Treßhof Klavier.«
»Mein Konzeptspraktikant? Das wußte ich wahrlich nicht!« meinte Egon.
»Wer ist der Mann? Jung, von Adel? Manieren?« fragte Agnes lebhaft.
Statt Egon erwiderte Botho: »Soweit ich den jungen Baron bisher kennen gelernt, ein charmanter Mann, freilich vom schauerlichen Dienst etwas mitgenommen, angekränkelter Kanzleimensch, dem eine frische Aufpolitur nur nützlich sein könnte. Ob der andere, ein welscher Nobile, musikalisch ist, weiß ich nicht. Die jungen Herren könnten wir mal zum Thee bitten, nicht?«
»Wie's beliebt, Onkel!« sprach Egon, sich verbeugend, »etwas Verkehr muß ich ja ohnehin pflegen, ich fühle, da etwas zu verschlossen gewesen zu sein.«
» Jo van! (Es ist gut!) Wir wollen morgen abend etwas arrangieren. Schade, daß wir keine Damen außer mir haben, in diesem Nest könnte der sonst Gott sei Dank verlebte ›tanzende Thee‹ vielleicht noch Succeß haben, nicht?« spottete Agnes und verdrehte die Feueraugen nach Backfischart, so daß Botho hell auflachen mußte.
Egon bat, nach Gutdünken verfügen zu wollen, und begab sich in die Kanzlei im unteren Stockwerk.
Behaglich im Fauteuil liegend, spielte Agnes mit den Brillantringen und blickte dann den Oheim fragend an. Botho rückte ein Taburett an die Seite der eleganten Nichte und begann leise zu sprechen: »Nissi! Etwas in Deiner vorigen Bemerkung hat mir eine gewisse Angst eingeflößt, sprich, lebst Du nicht gut mit Pejacsevits?«
Ein silberhelles Lachen war zunächst die Antwort: »Was mein lieber, alter Onkel nicht alles wissen möchte! Einen Menschen so ausfratscheln wollen, einfach unglaublich das! Aber ich will Dich nicht im Ungewissen lassen! Daß ich ein Gänschen war, als man mich an Pejacsevits verheiratete, ist Dir vielleicht noch in Erinnerung?«
»Ein allerliebstes ›Gänschen‹!«
»Gleichviel! In den fünf Jahren dieser standesgemäßen Ehe hat es an Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln, nicht gefehlt.«
»Ich will nicht hoffen!« stammelte Botho.
»Von meiner Seite, nein! Aber im High-life ist erlaubt, was anderswo verpönt zu sein scheint. Die erste Eskapade, welche zu meiner Kenntnis gelangte, schmerzte die Unerfahrene, die verschiedenen Reprisen stumpften jenes Schmerzgefühl ab und erzeugten lediglich die Sehnsucht nach Revanche!«
»Nissi, ich bitte Dich!« rief erschrocken der Oheim.
»Nicht in dem Sinn, wie Ihr Männer glauben zu müssen scheint! Ich lasse mir aus Revanchesucht die erwiesene Vernachlässigung teuer bezahlen. Er soll nur bluten! Hat er Geld für seine Vergnügungen und Allotria in Pest, muß er es auch für meine Künstler in Wien und Paris haben. Hierin bin ich unerbittlich!«
»Nun ja, Teuerste! Aber unerschöpflich werden Stephan Pejascevits' Mittel nicht sein –«
»Famos, Onkel! Du glaubst also, ich mit den paar Fahnen von Kleidern treibe den verehrten Herrn Gemahl in den Ruin?! Sehr freundlich von Dir! Wenn es zum Krach einmal kommt – noch hat er Geld wie Heu und einige Güter im Banat und Kroatien sogar noch schuldenfrei, es reicht also noch für einige Zeit – das Fallissement der Firma Stephan Pejascevits ist jedenfalls durch andere Ausgaben veranlaßt, ich partizipiere nicht daran. Kracht es, gut, ich werde mich darob nicht echauffieren!«
»Das verstehe ich nicht! Du bist doch in erster Linie schwer in Mitleidenschaft gezogen!«
»Ich? Nicht im geringsten! Ich habe ja einen Mann, den ich vergöttere, einen Mann, den ich mit Freuden geheiratet hätte, wenn eine Ehe zwischen Oheim und Nichte nicht soviel Schwierigkeiten bereiten würde!«
»Nissi! Herzensschatz! Du hättest – –!«
Die Gräfin nickte ernsthaft, schloß aber dabei die Augen, damit der Onkel das schalkhafte Lachen im Blick nicht sehen konnte. Und ernsthaft, wiewohl es Agnes Mühe kostete, diesen Ton festzuhalten, versicherte sie, es wäre ein Lieblingsplan gewesen; aber der Onkel habe sie partout an den Magnaten verheiraten wollen, und die Nichte habe sich eben gefügt.
»Heiliger Gott, wenn ich davon eine Ahnung gehabt hätte! Ich wollte Dich standesgemäß versorgen und – nein, ich könnte mir die Haare ausraufen!«
»Thu's lieber nicht! Der Reichtum an Silberlocken ist nicht hervorragend. – Doch kommen wir auf den Krach zurück. Ich habe doch recht in der Behauptung, daß Onkel Botho für mich eintritt, wenn es nötig sein sollte!«
»Aber gewiß! Du und Egon, Ihr seid ja meine Erben!«
»Ja, der gute Egon! Hat sich sehr verändert in den letzten Jahren! Ich finde, er ist schier ein Duckmäuser geworden. Ist es Dir nicht auch aufgefallen, daß Egon am Bahnhof nahezu frostig, ersichtlich durch meine Ankunft unangenehm berührt war? Ein Stündchen später kam er seelenvergnügt zurück und erwies mir Aufmerksamkeiten, die mich, offen gesagt, stutzig gemacht haben. Es muß sich in diesem kurzen Intervall etwas für Egon Angenehmes ereignet haben, das lasse ich mir nicht ausreden.«
»Glaubst Du wirklich? Ich kann mir aber nicht denken, was? Oder doch! Sollte er den ›Engel‹ begegnet und gesprochen haben? Zu dumm, daß wir Egon nicht im Wagen mit nach Hause genommen haben!«
»Na, Onkel, am Gängelbande kannst Du doch den nun bald zweiunddreißigjährigen Bezirkshauptmann nimmer führen. Müßtest ihm auch verbieten, spazieren zu gehen, oder ab und zu ein Glas Bier zu trinken. Die bürgerliche Neigung ihm abzugewöhnen, die lächerliche Liebe zu ertöten, dazu bedarf es anderer Mittel. Deine Maßnahmen haben, mi perdoni il conte, etwas Kindliches an sich. Gift verlangt stark wirkendes Gegengift, in diesem Falle eine ausgiebige Intrigue ohne Rücksicht auf Schmerzerzeugung und Thränen. Weißt Du denn sicher, daß sich Egon wirklich verlobte mit dem Engel, den kennen zu lernen ich nun neugierig bin?!«
»Ich weiß nur, daß das Fräulein entzückend hübsch, sehr gebildet und von erstaunlich feinen Manieren ist! Egon schwärmt, dürfte aber ein entscheidendes Wort noch nicht gesprochen haben. Übrigens hat er mit dem Vater des Engels so etwas wie einen Krach gehabt!«
»So? Nun dann hat es zur Zeit keine Gefahr. Ich werde schon nach dem Rechten sehen, darauf kannst Du Dich verlassen. Meine Aufgabe kenne ich und werde sie Dir zuliebe und zu Egons Besten voll und ganz erfüllen. Einstweilen aber erlaubst Du wohl, daß ich meinem Vergnügen lebe.«
»Gewiß, liebe Nissi! Ich fürchte nur, wir können Dir herzlich wenig Amüsement bieten!«
»O, das findet sich! Zunächst mal fleißig Musik getrieben, dann irgend einen Spaß mit den Dorfhonoratioren ...«
»Bitte, Stadt!«
»Egal, läuft im Effekt auf dasselbe heraus!«
»So könnte ich in den nächsten Tagen zu meinem Freunde nach Innsbruck reisen?«
» Capisco! Also deshalb hast Du mich kommen lassen! Eine Art Aufsicht über Egon soll ich also sein! In Dir steckt doch noch der Diplomat der alten Schule. Aber Frauensinn kommt Dir auf die Schliche, ehe Du den richtigen Zug am Schachbrett gethan. Gut also! Reise, wann Du willst, ich werde das Hausmütterchen spielen! Hihihi! Ich und ein Hausmütterchen! Famoser Witz, muß ihn selbst belachen, wodurch er freilich nicht besser wird!«
Agnes erhob sich, reichte dem galanten alten Herrn die feine Hand zum Kusse und rauschte hinaus.
»Es geht nach Wunsch! Nissi ist ein Prachtweib! Aber ich meine, sie hat mich doch zum Narren gehabt mit dem ›mich heiraten wollen‹. Ein schlaues Weib, habe Nissi soviel Scharfsinn wahrlich gar nicht zugetraut, und dem Stephan nicht soviel Dummheit! Herrgott, muß es der getrieben haben! Na, hier kann Nissi keine Dummheiten machen!«
Botho beendete den geflüsterten Monolog und spazierte in die Stadt.
Die Anwesenheit der »ungarischen Gräfin«, wie Agnes in den Kanzleien des ersten Stockwerkes genannt wurde, verspürte man im ganzen Schloß durch wütendes Klavierspiel, Gesang und lärmend gegebene Befehle. Die gräflichen Domestiken bekamen Arbeit und flinke Beine.
Egon empfand das Gehämmer mit fortwährendem Pedalgebrauch störend genug in seiner bisher todruhigen Kanzlei. Zunächst brachte das Klavierspiel ihm die Erinnerung, daß die beiden Konzeptspraktikanten zum Thee gebeten werden müßten, und so verfügte sich der Hauptmann in das Bureau der beiden.
Sein Eintritt unterbrach eine Rede Treßhofs, die sehr zoologisch garniert und an Trentini gerichtet war.
»Ah Pardon, Herr Graf!« faßte sich Baron Treßhof schnell, »womit kann ich dienen?«
Feuerrot im Gesicht und ganz verdattert stand der Welsche, der in dieser Überraschung keine Verbeugung fertig brachte.
»Was hat es gegeben, Baron? Weshalb diese Erregung im Dienst?« fragte Egon.
»Pardon! Im Amtseifer bin ich vielleicht zu weit gegangen. Es ist aber auch zu arg, Herr von Trentini will absolut nicht deutsch lernen und vollbringt dienstlich Ungeschicklichkeiten, die mich in Harnisch brachten!«
»Zum Beispiel?« fragte Egon.
»Bitte hier! Erbittet die Gemeindevorstehung ein näheres Signalement eines steckbrieflich ausgeschriebenen Individuums, und Trentini schreibt: ›Sehen seine Vater sehr ähnlik!‹ Ist das nicht himmelschreiend und das Amt kompromittierend?«
Egon vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken. Wohlwollend sprach er: »Allerdings drollig und das Amt schädigend, wenn dieses Signalement in Auslauf gekommen wäre. Doch dergleichen zu verhüten sind Sie ja da mit offenen Augen, Herr Baron! Und Trentini wird mir geloben, seine Sprachstudien mit etwas erhöhtem Eifer zu betreiben, ja? Ich bin übrigens gekommen, die beiden Herren auf heute abend sechs Uhr zum Thee zu bitten. Es ist meine Schwester, Gräfin Pejacsevits, zu Besuch gekommen und ich möchte ihr die beiden Herren vorstellen. Sie beenden daher die Amtsstunden um fünf Uhr. Auf Wiedersehen, meine Herren!«
»Besten Dank, werde mich pünktlich einfinden!« erwiderte Treßhof, die gereichte Hand Egons drückend.
» Ringraziamento, Signor Conte e Capitano!« stammelte Trentini.
»Sie sprechen ja überraschend gut deutsch!« lachte Egon und entfernte sich grüßend.
Die Theestunde war gekommen, der elegant möblierte Salon war behaglich erwärmt, und sowohl von einer rosa verhängten Hängelampe als auch von mehreren Stehlampen diskret beleuchtet. Geschmackvoll geziert zeigte sich der Theetisch, auf dem der Samowar summte. Cakes, garnierte Eier, Prager Schinken und dazu breite Lienzer Wassersemmeln, welche letztere zu dem englischen Gebäck kontrastierten wie ein deutscher Spatz zu tropischen Diamantvögeln.
Gräfin Agnes trug eine schwarze Atlasrobe mit weißdurchbrochenem Einsatz, dessen herzförmiger Ausschnitt echte Brüsseler Spitzen aufwies, darunter ein Medaillon. Die wundervolle Figur, wespengleich die Taille, entzückend die Büste, kam in dieser Toilette herrlich zur Geltung. Im mattroten Lampenschein wirkte Nissis klassisch schöner Kopf, von blauschwarzen Flechten umrahmt, märchenhaft. Dieses Prachtweib gemahnt an die herrlichsten Schönheiten des Orients, blendend, bezaubernd, hinreißend.
Gräfin Agnes weiß, daß sie märchenhaft schön, begehrenswert im höchsten Maße ist und versteht sich auf die Steigerung der Reize zu jenem Superlativ, dessen Grenze einzuhalten die Klugheit gebietet. Sie will gefallen, blenden, Männer berauschen, in die Knie zwingen und dann – auslachen. Vorerst wenigstens zur Rache für den Abfall und schnöden Verrat des Gemahls. Niedergezwungen soll die falsche Männerwelt werden, angelockt, geblendet von weiblichen Reizen in seltener Vereinigung und weggestoßen. Verwunden will sie Männerherzen, bluten sehen ohne das geringste Mitleid, es ist ja doch einer wie der andere, brutale Egoisten, die zu peinigen Vergnügen bereitet. Ein klein bißchen naschen an den Süßigkeiten sinnbetäubender Liebesworte, wie ein Kätzchen, das den Giftzucker vorsichtig nur mit dem Zungenspitzchen berührt und innehält im Moment, da ein fremder verdächtiger Geschmack die Zuckersüße zu verdrängen beginnt. Flirten, sich königlich amüsieren auf Kosten der Männer, kokettieren, locken bis zum Ansturm auf Ehre und Tugend, und kühl dann zurückweisen. »Ich erhöre keinen, mein Stolz ist mein Schild!« so lautete des öfteren der Schluß ihres Gedankenganges.
Zum heutigen Abend hat es Gräfin Agnes darauf abgesehen, die jungen Leute aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen, schwindlig zu machen im Anblick solcher Frauenreize und zu verspotten. Nebenbei soll auch das Umgarnen des alten Onkels einigen Spaß bereiten, und der gute Egon, der einzige in der Männerwelt, der vielleicht besser als die anderen ist, soll von Stolz erfüllt werden, eine solch blendend schöne Schwester zu haben.
Die Wanduhr schlug sechsmal, als Franz die Flügelthüre öffnete und den Baron Treßhof meldete.
Schon der verblüffte Blick des maßlos überraschten jungen Beamten gewährte Nissi ein Vergnügen, das die Toilettenmühe aufwog.
»Willkommen, Herr Baron! Mein lieber Bruder hat mir von Ihnen erzählt; es gewährt mir Vergnügen, Sie begrüßen zu können!« Dabei warf die schöne Katze dem jungen Mann einen zärtlichen Blick zu, den sie schnell mit den Lidern verschleierte.
Der Kontrast des langweiligen Kanzleilebens und Verkehrs mit einfachen Bürgersleuten des Städtchens zu diesem Empfang einer blendend schönen Aristokratin wirkte auf den ahnungslos gekommenen Beamten geradezu betäubend, in hilfloser Verlegenheit stotterte Treßhof eine Entschuldigung, daß er nicht vorerst seine Aufwartung gemacht habe und zwar bei Tag.
»Ah! Sie glauben mich bei Tageslicht schärfer beobachten zu können? Sind Sie vielleicht Kriminalist?« lachte spöttisch das verführerische Weib.
»Nicht doch! Gewiß nicht! Ich meinte nur, es wäre meine Pflicht gewesen! Doch Graf Rothenburg, mein verehrter Chef, entband uns von einer steifen Aufwartung, daher –«
»Gewiß! Mein Bruder hat ganz richtig gehandelt. Nur keine steifen Ceremonien. Man hat davon genug bei Hof! Spanien ist nicht mein Geschmack! Ich habe mit Vergnügen vernommen, daß Sie guter Pianist sind, ich werde Sie später zu einer Probe Ihrer Tüchtigkeit bitten. Entspricht Ihre Kunst meinen Erwartungen, so werde ich Sie zu meinem Kavalier und Partner ernennen!«
»O, gnädigste Frau machen mich zum Glücklichsten der Sterblichen ...«
»In Lienz, wollen Sie sagen!«
»Herr von Trentini!« meldete der Kammerdiener.
Geschniegelt, nach einem Friseurladen duftend, trat der welsche Praktikant in den Salon und ließ unter einer tiefen Verbeugung den Wortschwall los: » Compilissima Signora Contessa! Ringraziandola vivamente del gentile di Lei invito, con cui volle onorarmi, La prego permettermi di esprimerle i miei sentimenti piu devotissimi e rispettosi! »Gnädigste Frau Gräfin! Überglücklich durch die mir gewordene Einladung bitte ich um Gnade, die Gefühle meiner Ergebenheit und Verehrung zu Füßen legen zu dürfen.«
Agnes amüsierte sich über den sprudelnden jungen Italiener und beglückte ihn durch eine Antwort in seiner Muttersprache: » Ah, benvenuto Signor de Trentini, mi è grato salutarla nel dolce idioma della Sua patria, la bella Italia, culla delle arti e delle lettere, e che i poeti cantarono come la favorita del sorriso della natura. La di Lei presenza accrescerà il brio alla nostra agape modesta. I Signori Conti verranno fa breve; tengo la loro promessa. Ho appreso da mio fratello come Lei Sia un collega del Barone Tresshof? »Ah, willkommen, Herr von Trentini! Sie sprechen die Sprache des sonnigen Südens, Ihrer schönen Heimat; gerne bediene ich mich auch dieses süßen Idioms. Also willkommen an unserem bescheidenen Tisch! Die Grafen werden hoffentlich gleich kommen. Sie sind, soviel ich aus dem Munde meines Bruders weiß, ein Kollege des Baron Treßhof?«
Ein Glutblick flog zum jungen Deutschen hinüber, der darob beglückt den Ärger über den welschen Kanzleigenossen hinunterschluckte.
Trentini aber sprudelte im Übermaß der Freude, in seiner Heimatsprache reden zu dürfen, heraus: » Sicuro, illustrissima Signora Contessa, oltre di essere ottimi amici ci serviamo anche del medesimo studio. Sublime sentimento l' amicizia, essa ci anima a superare le diuturne disillusioni della vita, e ci rende meno triste l' esilio! »Gewiß, gnädigste Frau Gräfin! Wir teilen ein Bureau mitsammen und sind die besten Freunde! Freundschaft ist das Band, welches in solchem Exil das Leben einigermaßen erträglich macht.«
Graf Botho trat ein und begrüßte die Gäste, deren Augen fasziniert auf die bezaubernd schöne Gräfin gerichtet waren. »Charmantes Arrangement, liebe Nissi! Man merkt Deine Künstlerhand! Ja, ja, wenn ich alter Mann Anlage hätte zum Poeten, es könnte einem schwärmerisch zu Mute werden. Siehst entzückend aus, Nissi!« schmeichelte Botho.
Doch Agnes reagierte nicht, kühl klang ihre Frage: »Wo bleibt Egon?«
» Lupus in fabula!« witzelte der Onkel, als der Hauptmann soeben in den Salon trat.
»Bitte zu Tische!« sprach Agnes.
Egon bat die Verspätung entschuldigen zu wollen. »Dringende Amtsgeschäfte! Ich wollte einen hoch vom Gebirge herabgekommenen Bauern doch noch schnell abfertigen; der Mann hatte weiten, beschwerlichen Weg zu machen!«
»Du bist, wie mir scheint, viel zu gut mit diesen Leuten!« äußerte harten Tones Gräfin Agnes. »Wir mußten warten wegen eines Bauers! Shocking! Ich wette, der Mann geht heute doch nicht mehr zurück, kneipt den Abend durch und lacht über den gutmütigen, düpierten Beamten!«
»Nissi!« rief Egon gekränkt, »wie kann eine Dame so hart sich äußern?!«
»Lern' Du nur diese Querköpfe kennen! Gefühl ist da nicht am Platze!«
»Und wenn der müde Mann wirklich nicht mehr imstande ist, den Rückweg anzutreten, so habe ich wenigstens meine Pflicht gethan, den Mann rasch abgefertigt; er kann frühmorgens heimkehren. Mein Grundsatz im Kanzleidienst ist, niemand unnötig warten zu lassen! Doch genug davon!«
Agnes goß den lichtgelben Thee in die Tassen, welche die Herren dankend entgegennahmen. Jede ihrer Bewegungen kündete ebenso Eleganz wie bestrickende Anmut. Bekam Trentini zur Tasse einen freundlichen Blick, dem jungen Baron spendete Agnes einen lodernden Augengruß, so feurig, daß Treßhofs Hand erzitterte und die Tasse auf dem winzigen Teller zu klirren begann.
Botho hatte diesen Blick aufgefangen und machte sich Gedanken. Da man die Diener nicht servieren ließ, bot die Gräfin selbst die Beigaben zum Thee dar.
Trentini griff herzhaft zu, die Gelegenheit ist zu günstig und außerdem hat er Zeit zum Essen, denn da die Konversation nun deutsch geführt wurde, mochte er sich nicht daran beteiligen. Treßhof hingegen nippte vom Thee und weidete sich am Anblick der schönen Frau, die sich an ihn wandte mit der Frage, wie man denn auf Dauer solches öde Dienstleben in diesen sibirischen Bergen ertragen könne.
Ein ironisches Lächeln huschte über Egons Lippen. Treßhof war in Verlegenheit, was er sagen sollte, und rettete sich mit der Phrase, der Beamte sei eigentlich nicht zum Vergnügen auf der Welt.
»Das ist gewissermaßen richtig!« warf Botho ein.
»Aber ohne Sonnenschein ab und zu kann der Mensch doch nicht leben.«
»Nun, gnädigste Gräfin, heute ist für uns Kanzleimenschen so ein Tag glänzenden Sonnenscheins!« erwiderte galant Treßhof und fügte bei: »Übrigens fehlt es im Dienstleben doch nicht ganz an heiteren Momenten. Unser verehrter Herr Chef wird das auf Grund amüsanter Vorsteherberichte gewiß bestätigen!«
Egon schien mit seinen Gedanken anderswo gewesen zu sein, auf die halb an ihn gerichtete Bemerkung antwortete er sichtlich zerstreut: »Ja, ja, gewiß!«
Gräfin Agnes ärgerte sich über den schleppenden Gang der Konversation und insbesondere über Egon, dessen kühles Wesen auf die Gäste drückend wirkte. Um dem Bruder einen Nadelstich zu versetzen, sprach Agnes: »Jedenfalls ein bescheidener Genuß! Mein Gott, Bauernhumor und noch dazu unbeabsichtigt!«
»Verzeihung, Gnädigste!« warf Treßhof lebhafter werdend ein, »die Unfreiwilligkeit des Humors ist ja das Anziehende an der Sache. Ich erinnere mich an eine Episode, die vor einiger Zeit im Innthal von Mund zu Mund ging und gebührend belacht wurde. Der Held war kein Bauer, diesmal eine Bötin, das Geschichtchen ist geradezu kostbar!«
»Nun, da die Erzählung aus Ihrem Munde kommt, will ich gern mein Ohr leihen!« sprach Agnes und munterte den Baron durch einen freundlichen Blick zum Erzählen auf.
Treßhof begann: »Im Oberinnthal, wie wohl in ganz Tirol und Österreich stand man im Banne des bevorstehenden freudigen Ereignisses in der Kronprinzenfamilie, und überall wurde die Frage erörtert, ob der erwartete Kaisersproß männlichen oder weiblichen Geschlechtes sein werde. Die Männerwelt argumentierte: ›Wird doch ein Bubele kommen,‹ während das schöne und bessere Geschlecht offen der Meinung Ausdruck verlieh: ›Ein Mädele wär' auch recht!‹ – In Telfs im Oberinnthal erhitzten sich die Gemüter über diese Frage derart, daß die Telfser Bötin beauftragt wurde, nach Innsbruck zu fahren, dort auf das Ereignis zu warten und die Neuigkeit sodann brühwarm mit dem nächsten Personenzug heimzubringen. Daß Telfs durch den Telegraphen mit Innsbruck verbunden ist, daran dachte man nicht, die Bötin schien den Leuten das Mittel zur schnellsten Überbringung der wichtigen Nachricht. Also fuhr am letzten Augusttag die alte Bötin nach Innsbruck, und im dortigen Bahnhof angekommen, war des Weibleins erste Frage: ›Hat die Frau vom Kronprinzen schon Botschaft geschickt?‹ Der boshafte Stationsdiener erklärte: › Mir ist noch kein Brief von der Prinzessin zugekommen! Gutherzige Leute versicherten der Bötin, es wäre aus Wien überhaupt noch kein diesbezügliches Telegramm eingetroffen. Die Bötin atmete auf, sie hatte ja große Angst gehabt von wegen des Zuspätkommens. Der erste September brachte in Innsbruck nur die eine Neuigkeit, daß Plakate an den Mauern angeheftet werden des Inhalts: Die Geburt eines Erzherzoges werden hundertundein Kanonenschüsse, jene einer Prinzessin einundzwanzig Kanonenschläge verkünden. Andächtig studierte die Telfser Bötin dieses Plakat, gottlob waren die Buchstaben so groß, daß das Weiblein sie mit der Zeit doch lesen konnte. Am zweiten September begann das Schießen mit Kanonen unter großer Aufregung der Bevölkerung. Gleich den vielen Tausenden Menschen zählte die Bötin draußen auf dem Pradl (Wiese) die Kanonenschüsse: siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig, – dann schwiegen die Geschütze, die Kanoniere hatten sich um einen Schuß verzählt. Tiefes Mitleid erfaßte die Bötin, weinend jammerte sie: ›O mein, dös Load! Nit amol a Madele!‹«
Botho schüttelte sich vor Lachen, Agnes zeigte sich aufs höchste belustigt. Die Heiterkeit steigerte sich ins Ungemessene, als Trentini herausplatzte: » Ma prego, was sein dann das Kind gewesen?!«
Auch Egon gab sich einer munteren Laune hin.
Agnes bat nun den Baron zum Flügel und eifrig wurde musiziert. Treßhof war ein routinierter Pianist, als Partner der Gräfin völlig gewachsen. An ihrer Seite zu spielen, veranlaßte den jungen Baron, die größte Kunstfertigkeit aufzubieten und so wetterte das Paar eine Unmasse von Piecen vierhändig herunter, unbekümmert um die anwesenden, zum Horchen verurteilten Herren.
Botho gähnte unter der vorgehaltenen Hand, Trentini schien Sehnsucht nach der altdeutschen Pumpstube zu haben; in sich versunken, seinen Gedanken lebend, saß Egon in einem Fauteuil, die Welt um sich vergessend.
Eine geschlagene Stunde harrte Graf Botho aus, dann ward es ihm doch zu bunt, zudem peinigte ihn der Gedanke, daß er sich durch die Citation der schönen Nichte eine Geißel gewunden, möglicherweise eine Dummheit gemacht habe, von der man zur Zeit noch gar nicht sagen könne, wie groß sie sich auswachsen werde. So trat denn der alte Onkel zum Flügel, trommelte auf die Platte, und erschrocken hielt Treßhof inne. Mit einer schrillen Dissonanz brach Agnes ab, den Blick verwundert auf den Onkel gerichtet.
»Liebe Nissi, ich denke, es ist genug ...!«
»Des grausamen Spiels, meinst Du, was?«
»Das nicht, aber ich denke, ein Glas Wein könntest Du uns in Gnaden bewilligen. Mir wenigstens verursacht Brahms und wie sie sonst heißen, entschieden ein Durstgefühl!«
»Aber liebster Onkel! Herr bist doch Du, und zwei Diener stehen Dir und den Gästen zu Gebote! Allons, Baron, wir spielen weiter!« Ein voller Griff in die Tasten, Treßhof folgte augenblicklich, die Töne wogten durch den Saal.
Wie ein geschlagener Feldherr schleppte sich Botho zum Tisch, und als wenn das Leben davon abhinge, drückte er am Knopf der elektrischen Klingelbirne, die von der Lampe herabhing.
Während eines sanften Adagios trat Franz ein, dem der boshaft gewordene Graf Botho mit Stentorstimme zurief: »Vier Flaschen Vöslauer Goldegg, rasch, sofort!«
Agnes lachte belustigt, überblätterte eine Seite und setzte fortissimo ein. Der Spielteufel, eine wahre Spielwut hatte sie erfaßt, und ihre Nähe wirkte auf Treßhof so animierend, daß er nimmer müde wurde in der Begleitung. Die Leerung einer Flasche wartete Trentini ab, dann bat er den jäh aus seinen Träumen gerissenen Chef um die Erlaubnis, gehen zu dürfen.
»Gewiß! Aber nein, was sage ich, bitte, schenken Sie uns noch das Vergnügen, das Spiel wird ja doch heute noch ein Ende nehmen,« erwiderte Egon, und Botho fügte laut bei: »Hoffentlich!«
Mit einer Leichenbittermiene setzte sich Trentini und revanchierte sich durch einen ausgiebigen Schluck, worauf der zum Servieren gebliebene Franz sofort das Glas wieder füllte.
Botho fand es angezeigt, den Gästen etwas Rauchbares anzubieten. »Du erlaubst, Egon! Ich weiß zwar, Du bist Nichtraucher, aber uns wirst Du wohl eine kleine Nikotinvergiftung gestatten. Ja?«
»Bitte, nach Belieben!« stimmte Egon zu.
»Franz! Cigarren, Cigaretten, Kerze!« befahl Botho.
Der geschulte Lakai brachte das Gewünschte und trug die Cigarettenschachtel nebst dem brennenden Licht zuerst zur Gräfin.
Agnes lachte und unterbrach das Spiel. »Ah, endlich!« Sie steckte eine Cigarette in Brand, reichte eine zweite ihrem Partner, ihm zugleich die Kerze anbietend, und schien Lust zur Fortsetzung der Klavierbearbeitung zu haben.
Egon schnitt den Versuch ab. »Bitte, Nissi, es dürfte angezeigt sein, unseren Gästen etwas Aufmerksamkeit zu widmen!«
»Brr! Kommen Sie, lieber Baron! Wir wollen ein Glas leeren auf die Fortsetzung der Spielkompagnie!«
Botho qualmte, als wenn er sich rächen wollte; Trentini schluckte den Cigarettenrauch und stieß ihn durch die Nase heraus.
»Ihr Wohl, Baron! Morgen wieder am Klavier! Eljen!«
»Ehrerbietigen Dank, gnädigste Gräfin! Ich stehe stets zu Diensten in meiner amtsfreien Zeit!«
Hell klangen die Gläser zusammen, auch die übrigen Herren stießen mit ihren Gläsern an.
Mählich schwand die Sprechlust; nach einem Halbstündchen verabschiedeten sich die Gäste. Auch Egon wünschte »gute Nacht« und zog sich zurück.
Da Franz eben nicht im Salon war, fragte Botho: »Bist Du immer so spielwütig? Es war geradezu grausam! Wenig zu essen und zu viel Musik! Wenn es dem armen Trentini nur nicht schadet!«
»Ach was! Ihr wollt Männer sein! Die ganze Nacht könnte ich durchspielen!«
»Um Gottes willen!«
Botho war mit seiner Havanna zu Ende und nahm nun auch Abschied.
»Nett von Euch! Noch ist's nicht elf und die starke Männerwelt kriecht ins Bett! Gute Nacht, Onkel! Schlummere sanft und träume süß!«
»Willst Du nicht auch zur Ruhe gehen?«
»Doch! Aber erst muß ich den angefangenen Roman zu Ende lesen. Apropos, Onkel, wann reisest Du nach Innsbruck?«
»Ja, richtig! Nun, ich fahre morgen nach Tisch! Gute Nacht!«
»Gute Nacht, Onkel!«
*
Die nächsten Abende frönte Agnes der Klavierwut teils allein, teils mit Treßhof, den der Verkehr mit der feschen Gräfin in einen Taumel versetzte. Je hitziger der junge Baron ward, desto kühler verhielt sich Agnes, und wenige Tage nach Bothos Abreise nach Innsbruck erlebte Treßhof zu seiner größten Bestürzung eine Absage.
Die Spiellust war verflogen, Agnes suchte nach anderer Zerstreuung, wobei sie sich plötzlich ihrer von Botho übertragenen Aufgabe erinnerte. Gedacht, gethan. Zunächst muß Nissi den »Engel« kennen lernen, und Gelegenheit hierzu bietet ein vorgeschützter Fahrsport. Im Gelände allum ist gute Schlittenbahn, die Gräfin wird die Füchse tollen und begab sich, in ihren Zobelpelz gehüllt, ein neckisches Pelzmützchen auf dem koketten Kopf, zu Piffraders Stall, gefolgt vom Lakaien Franz, der anspannen sollte.
Just verabschiedete der Bräuer Gäste aus Matrey, deren Schlitten aus dem Hofe fuhr, als Gräfin Pejacsevits herbeikam und in ihrer hochfahrenden Art nach den Füchsen fragte.
Piffrader guckte und fühlte ob solcher Ansprache ein kribbelndes Gefühl in den dicken Fingern, die sieghafte Schönheit dieser Dame zwang aber auch den dicken Landbräuer nieder und zu einer Piffrader selbst erstaunlichen Unterwürfigkeit und Höflichkeit. »Werden wir gleich haben, gnä' Frau!« stotterte der Bräuer und pfiff dem Hausknecht.
»Lassen Sie das! Franz kann das Anspannen auch besorgen! Ich muß Sie aber bitten, mir einen Schlitten zu leihen. Soviel mir bekannt, hat Onkel Graf Botho Rothenburg nur einen Landauer hier, was?«
»Einen Schlitten möchten S'!? Aber mit Vergnügen! Herr Franz, ziehen S' ihn nur außer aus dem Schupfen! Sie können mein schönstes Zeugl haben, gnä' Frau! Wissen S', wenn eine Frau so sauber ischt wie Sie, da kann ich auch nit so sein! Wer's glaubt!«
»Sie scheinen ein drolliges Original zu sein, was?!«
»Wie viel?«
Franz, vom Hausknecht unterstützt, vollzog rasch die Arbeit des Anspannens der Füchse vor dem Schlitten.
Agnes wandte sich zu Piffrader mit den Worten: »Sagen Sie, wohin soll ich spazieren fahren?«
»Wo S' mögen, schöne Frau! Der bessere Schlittweg ischt, mein ich, decht nach Dölsach!«
»Wo hinaus geht die Straße?«
»Gleich von uns weg gradaus und dann vor'm Schloß links außi!«
»Danke! Sie haben eine Tochter? Wenn angenehm, lade ich Ihre Tochter zum Mitfahren ein!«
»O, ischt mir eine Ehr', gnä' Frau! Gleich werd' ich mein Idele holen! Verzeihen S' aber eine Frag': Kutschieren Sie selber?«
»Natürlich!«
»Ja, schon schön! Aber wissen S', die Fuchsen sein saggrisch scharf, und Sie haben, scheint mir, so zarte Handeln! Werden S' decht nit derhalten können die feurigen Fuchsen!«
»Was Ihnen nicht einfällt! Ich, eine ungarische Gräfin, und nicht fahren können!« lachte Agnes belustigt auf.
»Was? Eine ungarische Gräfin sind Sie? Wer's glaubt! Ah, da legst dich nieder! Ja freilich, wenn Sie aus'm Ungrischen sein, da müssen Sie ja von die Ross' was verstehen! Aber von wegen meiner Tochter wird es decht besser sein, wenn sie etwan vor der Abfahrt geschwind beichtet?!«
»Wieso? Was soll sie thun? Beichten? Ah, ich verstehe! Haha! Sie meinen, vorbereiten für den Fall eines plötzlichen Todes?! Ausgezeichnet! Na, nur keine Angst, báratom! Wenn ich fahre, passiert nichts, darauf können Sie sich verlassen! Also herbei mit dem Fräulein! Flink! Die Füchse kommen!«
Piffrader verschwand. Seine hastige Mitteilung versetzte Ida in berechtigtes Erstaunen. Von der Existenz einer Verwandten Egons hatte Ida keine Ahnung; die plötzliche Einladung zu einer Spazierfahrt mußte daher sehr überraschen. Schon wollte Ida ablehnen, da erinnerte sie sich noch rechtzeitig, daß sie durch diese Dame vielleicht einiges über Graf Egon vernehmen könnte. Und flink ward ein Mantel umgeworfen, eine Pelzmütze auf die nußbraunen Flechten gesetzt, und das zierliche Mädel erschien im Hofe, wo die Füchse sich kaum mehr halten ließen. Piffrader stellte seine Tochter vor.
»Freut mich! Ich bin die Schwester des Grafen Egon Rothenburg, Gräfin Pejacsevits aus Ungarn. Kérem szepen (bitte schön), steigen Sie sofort ein!«
Piffrader half Idchen in den Schlitten, Agnes gab einen Schnalzlaut mit der Zunge und den Füchsen etwas Luft in den Zügeln. Flink fuhr der Schlitten aus dem Hofe und durch die Hauptgasse. In der Nähe der Liebburg mäßigte Agnes das Tempo der Füchse, die stallmutig die Köpfe schüttelten und dadurch die Schellen hellklingend machten. Neugierige Gesichter tauchten an manchen Fenstern auf, auch an den Kanzleifenstern erschienen Köpfe, doch der Egons war nicht darunter.
» Avanti cavalli!« rief Agnes, und sausend ging's dahin auf der Landstraße gegen Dölsach.
Mählich begann die Gräfin sich um Ida zu kümmern, indem sie unter Fragen nach den verschneiten Bergen der Umgebung das Mädchen mit scharfen Blicken beobachtete. Und jäh fragte Agnes: »Sie kennen meinen Bruder?«
Ida war es, als bliebe das Herz stille stehen vor Schreck; sie vermochte nur zu nicken, ihr versagte die Sprache.
»Verkehrt mein Bruder viel in Ihrem Hause?«
Ächzend erwiderte Ida: »Nein!«
Das kleine Wort schien Agnes zu beruhigen, der Aristokratin deuchte dieses schlicht bescheidene Mädchen zu wenig zu sein, um über eine ernsthafte Liaison weiter zu grübeln. Agnes widmete ihr Interesse wieder voll den Füchsen und jagte sie, daß der Schlitten mehrmals in die Gefahr des Umkippens geriet.
Die Geringschätzung fühlte Ida und empfand sie peinlich; dennoch war sie froh, nicht sprechen zu müssen. Lieber für beschränkt gehalten werden, als ein Gefühl, das die junge Brust beseligt, auch nur ahnen zu lassen.
Eine Stunde später fuhr der Schlitten wieder in den Hof des Bräuhauses, und Gräfin Agnes verstand sich prächtig darauf, durch intensives Peitschenknallen Bedienung herbeizurufen. Während ein Knecht die Pferde hielt, dankte Ida rasch für freundliche Einladung; Agnes hingegen nahm weiter keine Notiz von dem Mädchen, sondern rief: »Schnell ausschirren, Decken auf, Pferde im Stall abreiben!« und stieg dann aus. Ida hatte sich bereits ins Haus begeben.
Die Gräfin, vertraut mit Pferdeangelegenheiten, überwachte die Einstallung der Füchse persönlich und entfernte sich erst, als alles nach Wunsch besorgt war.
Des Ausfluges mit Ida erwähnte Gräfin Pejacsevits Egon gegenüber mit keinem Wort, für Agnes ist der »Fall« abgethan; es wäre lächerlich, über solche Konjunktur überhaupt zu sprechen. Viel wichtiger war vielmehr die Frage, wie man sich in dem sträflich stillen, verschneiten Städtchen ein nervenbelebendes Vergnügen verschaffen könnte. Lesen und Klavier spielen ist ebenso langweilig als der Verkehr mit dem verschlossenen Bruder zu den Mahlzeiten. Was nur beginnen? Der lebhafte Sinn ersehnte nach Pester Art irgend eine »Hetz«, einen tollen Spaß, der das ganze Nest in Alarm brächte.
Beim Thee begann das schöne, übermütige Weib den Bruder zu sondieren mit der völlig harmlos klingenden Frage, wer denn in dieser herrlichen Stadt zu den Honoratioren zähle, von der Bezirkshauptmannschaft abgesehen.
Ahnungslos erwiderte Egon: »Der Bezirksrichter ...«
»Verheiratet?«
»Ja! Dann der Bürgermeister, auch vermählt, der Notar dito, die Familie des Bezirksarztes. Die Eisenbahner sind alle ledig. Doch wozu diese Frage?«
»Hat keinen besonderen Grund; will nur einigermaßen orientiert darüber sein, wer hier zum high-life, ha, ha, ha, gehört!«
»Du hast doch um Himmels willen nicht die Absicht, den Leuten Besuche zu machen?« rief erschrocken Egon.
»Befürchtest Du, daß die Gräfin Pejacsevits nicht standesgemäß auftreten, repräsentieren oder gar den Herrn Bezirkshauptmann kompromittieren könnte?«
»Nissi, was fällt Dir bei?!«
»Gut, jetzt reizt es mich, ich werde Besuche machen!«
»Bitte, liebe Nissi, stehe davon ab!«
»Weshalb?«
»Im Interesse der Leute! Deine Besuche würden die Damen in einen heillosen Aufruhr bringen, Gegenbesuche bedingen, die den Frauen, recte ihren Gatten, ganz unnötige Kosten für neue Toiletten verursachen.«
»Köstlich! Die Frauen werden mir dankbar sein, wenn sie auf diese Weise zu neuen Kleidern kommen! Du sprichst übrigens, als hättest Du die Ehefesseln schon jahrelang zu ertragen! Enfin, ich mache die Sache!«
»Thue es lieber nicht, Nissi!«
Mehr für sich zählte Nissi die Honoratioren zusammen: Bezirksrichter, Bezirksarzt, Bürgermeister und Notar, bedingt vier Toiletten, es genügt aber eine Robe für alle Visiten auch.
Mit Ilka beriet die Gräfin alsbald das Nötige, Franz erhielt Auftrag, die Equipage auf morgen zwölf Uhr bereit zu halten, und Johann bekam Befehl, die Tournee in Galalivree mitzumachen und die Anmeldung des Besuches zu bewirken.
Da beim Lunch am nächsten Morgen Agnes nicht mehr von der Sache sprach, glaubte Egon, die Idee sei fallen gelassen, und trachtete rasch in die Kanzlei zu kommen, da die Arbeit mehr denn je drängte.
Ein Schriftstück beschäftigte den über den Akten brütenden Hauptmann im besonderen Maße, ein Erlaß der Statthalterei des Inhalts, dem Bezirkskommissär zu eröffnen, daß sein Verhalten sehr mißliebig erachtet werde, die Konzipierung von Beschwerden an Private unstatthaft und zu rügen sei. Im Wiederholungsfalle oder im Falle einer noch so kleinen Dienstwidrigkeit müßte Bestrafung stattfinden und Versetzung eintreten.
So sehr Egon Genugthuung empfand, die persönliche Rügeerteilung widerstrebte seinem Zartgefühl; ausdrücklich ist nicht gesagt, daß der Rüffel persönlich erfolgen müsse. Immer die Empfindungen anderer achtend und schonend, entschloß sich der Hauptmann, das schriftliche Verfahren zu üben; schnell warf er einige Zeilen auf einen Bogen Konzeptpapier:
»Beiliegender Erlaß der K. K. Statthalterei ist zur Kenntnis zu nehmen, der Empfang schriftlich zu bestätigen und der Akt an mich verschlossen zurückzuleiten.
Rothenburg.«
Den geschlossenen Brief mußte Wörgötter zu Pitscheider tragen.
Auf ein bescheidenes Klopfen an der Kanzleithür rief Egon: »Herein!« und sogleich trat der Bräuer Piffrader ein, ersichtlich wenig angenehm berührt, diesen Besuch machen zu müssen. Nach einer immerhin respektvollen Verbeugung meinte Piffrader: »Herr Bezirkshauptmann haben mich befohlen?!«
»Nehmen Sie Platz, Herr Piffrader!« erwiderte Egon und schob dem Besucher einen Fauteuil zu.
»Ich dank', werd' wohl auch stehend die Sach' abmachen können.«
»Wie Sie wünschen! Ich mußte Sie citieren, weil Ihnen auf Ihre Beschwerde einiges zu eröffnen ist!«
Etwas unsicher blickte Piffrader den ernsten Beamten an, der streng dienstlich sich gemessen verhielt und nach einem Schreiben griff.
»Wer Ihnen jene Beschwerde konzipiert hat, brauchen Sie mir nicht zu sagen; man kennt die Schrift des Konzipisten, der Ihnen für die Art der Absendung wohl kaum besonders dankbar sein wird.«
Piffrader griff in hilfloser Verlegenheit nach dem Ohr; an die Möglichkeit einer Schriftentdeckung hatte er nicht gedacht.
»Die Oberbehörde sieht sich nicht veranlaßt, Ihrer Beschwerde eine Folge zu geben, dagegen verweist man Ihnen den anstößigen Ton ›Ihrer‹ Beschwerde; Sie werden daher verwarnt!«
»Mit Verlaub, Herr Graf! Eigentlich habe ich die Beschwerde ja so nicht abschicken wollen; es ischt nur gleich im ersten Zorn geschehen, und pressiert, wie ich war, bin ich halt nicht zum Abschreiben mehr kommen! Wissen S', Herr Hauptmann, es thät mir schon leid, wenn's dem Kommissär schaden würde. Ich bitt', haben S' die Gnad' und strafen S' ihn nicht!«
»Eine Strafgewalt steht nur der Oberbehörde zu, ich habe die Befehle von oben lediglich zu vollziehen!«
»So? Dann können Sie in der Sach' gar nix machen? Wer's glaubt!«
»Nein! Wie Sie, hat auch der Verfasser jener Beschwerde die Folgen zu tragen!«
»Was geschieht denn mir aftn (hernach)?« fragte nun doch etwas ängstlich der sonst gern protzige Bräuer.
»Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, daß Ihre Beschwerde zurückgewiesen wird und daß Sie ermahnt werden, sich einen ungehörigen Ton nicht mehr zu Schulden kommen zu lassen!«
»Mit Verlaub! Ich bin aber decht Abgeordneter!«
»Ihr Landtagsmandat bleibt hier völlig außer Betracht. Als Beschwerdeführer genießen Sie keinerlei Immunität, Sie sind nicht mehr und nicht weniger als jeder andere Staatsbürger, dessen Pflicht die Achtung vor der Behörde ist.«
Piffrader guckte; wer hätte gedacht, daß der junge Hauptmann so ernst und sicher sein würde! Und dabei nicht die Spur einer Gehässigkeit! Ganz anders als der Kommissär, von dem man nie recht weiß, was er im Schilde führt.
»Herr Graf, ich danke! Selle Sach' ischt decht besser ausgefallen, als ich mir gedenkt hab'! Und weil ich das Wort grad' hab', möcht' ich noch etwas sagen: Mit Vergunst! Ich war selbiges Mal grob mit Ihnen! Weil ich nun merk', daß Sie wirklich ein rarer Mann sind und Ihnen nichts anmerken lassen von einem Privathäßle – nicht einen Schnaufer in sellem Betreff haben Sie gethan – so möcht' ich schon so frei sein und die grobe Bemerkung von damals zurücknehmen.«
Egon stutzte; sollte Ida auf den Vater Einfluß genommen haben?
Piffrader deutete den fragenden Blick irrig und beteuerte daher, daß ihm die Revokation wirklich ernst sei.
»Wer hat Sie zum Widerruf veranlaßt?«
»Wer? Die Frag' versteh' ich nit, Herr Graf! Ich bin Mann genug, daß ich etwas Grobes zurücknehm', aus eigenem Antrieb zurücknehm', ich brauch' da keinen Ohrenbläser. Es thut mir leid, daß ich mit Ihnen dortmals so grob umgesprungen bin; sein Sie so gut und verzeih'n Sie mir, ich bitt'!« Piffrader hielt die Hand hin, in welche Egon seine Rechte legte.
»Gut, ich acceptiere Ihren Widerruf, der Fall ist erledigt!«
»Ich dank'! Und gelten S', Herr Graf, jetzt kommen S' wieder zu mir; wissen S', Geschäftsmann, wie ich bin, muß ich schon darauf schauen, daß die Gäscht' eher mehr werden wie weniger!«
»Das kann ich Ihnen nicht versprechen; ich habe Besuch im Hause und bin völlig occupiert. Außerdem ist Ihr Widerruf nur mir bekannt, nicht aber in jenen Kreisen, denen Sie Kenntnis von Ihrer ›That‹ gegeben.«
»Ah so wohl! Ja freilich, den Leuten muß ich es auch zu wissen machen, daß ich damals so grob gewesen bin. Das ischt eigentlich unangenehm, könnt' ich mich nicht davon drucken?«
»Wenn Ihnen die Revokation ernst war, wird Ihr Ehrgefühl Ihnen schon den rechten Weg weisen!«
»Ah so wohl! Na ja, übers Knie braucht die Sache ja nicht gebrochen zu werden; etliche Täg' zum Überlegen lassen Sie mir schon.«
Kühl klang die Antwort: »Nach Belieben!« worauf sich Piffrader mit höflichem Gruß entfernte. Und auf der Treppe murmelte der Bräuer: »Ich trau' ihm decht nit, er ischt ein Aristokrat!« –
Bei Tisch entwickelte Agnes eine Ausgelassenheit, die Egon zu der Frage veranlaßte, was denn die Schwester in solch übermütige Laune versetze.
»Gottvoll, sag' ich Dir! Es war eine Mohrenhetz'!«
»Nissi, Du gebrauchst Ausdrücke, die eben nicht hoffähig sind!«
»Laß mich aus! Wir sind in Lienz und nicht in der Burg zu Ofen. Eine solche Hetz' hab' ich noch nicht erlebt!«
»Hast Du – ich will nicht hoffen, daß Du etwa gar die Besuche gemacht, die Lienzer Damen in Aufruhr versetzt hast?!«
»Hab' ich, leggjob báratom (bester Freund)! Ach, es war zum Schreien, zum Schießen! Die Bürgermeisterin in der Bettjacke und Hauspatschen, nein, diese Verlegenheit, am liebsten wäre die auf den Tod erschrockene Frau unters Bett gekrochen.«
»Unerhört!«
»Sie hat's ja leider nicht gethan. Aber es war auch so köstlich! Und dann die Notarin in der Küche; vor Entsetzen über den Besuch hat sie den eben eingesalzenen Hasen ins Herdloch geworfen, hihihi! Ich war so freundlich und habe sie darauf aufmerksam gemacht, daß die ungarischen Hasen eine solche Procedur nicht vertragen und anbrennen!«
»Du treibst thatsächlich Unfug!«
»Unfug hin, Unfug her! Es war eine beispiellose Hetz'! Und erst die Richterin! Die hat geschrieen, als wenn sie einen Spieß im Leibe hätte, und setzte mir einen Cognac vor, der sich als Lampenöl schon durch den Geruch offenbarte. Ein Hauptspaß, als ich sie fragte, wer denn in ihrer Familie Petroleum trinke.«
»Schändlich, die Leute so in Verlegenheit zu bringen!«
»Geh, sei mir wieder gut, bácsi! Was kann denn ich dafür, daß die Leute um zwölf und ein Uhr mittags noch so derangiert sind; das ist doch die übliche Besuchsstunde überall, also auch in dem göttlichen Lienz!«
»Die Leute waren eben ahnungslos! Offizielle Besuche sind keine zu machen, daher auch die Überraschung. Und dann hättest Du bedenken sollen, daß man in diesen Kreisen um diese Stunde zu Mittag speist!«
»Haben sie beim Bezirksarzt gethan; Knödel, Kuhfleisch mit Sauerkraut. Letzteres habe ich schon unter der Hausthür in die Nase bekommen. Die Doktorin hatte eben einen halben Knödel im Fang, wollte sagen zwischen den Kunstzähnen, und beinahe hätte sie das falsche Gebiß samt dem Knödel hinabgeschluckt im ersten Schreck. Nein, so eine Hetz' war noch nicht da!«
»Ich finde Dein Verhalten geradezu taktlos!«
»Ach was, jedes Tierchen will sein Plaisierchen, und mein Vergnügen ist nun einmal, Leute durcheinander zu bringen. An dem heutigen Spaß werde ich noch lange zehren!«
»Und die armen Damen sind nun gezwungen, Gegenbesuche zu machen, wozu sie neue Toiletten brauchen. Wie kann man nur so rücksichtslos sein, brave Leute ganz unnötiger Weise in Unkosten zu stürzen!«
»Sollen mir dankbar sein, wenn sie neue ›Fahnen‹ bekommen. So, nun habe ich aber Hunger, und meinen kostbaren Ulk will ich mit Sekt begießen. Franz, eine kleine Mumm!«