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XX

Die Sache war nämlich die, daß die Perücke ihren eigenen Willen hatte, den sie auch durchzusetzen wußte. Sie wollte die Situation selbst beurteilen, in welche sie hineingeraten war. Sie mußte die Vorgeschichte kennen lernen, um über Gegenwart und Zukunft zu entscheiden. Sie war es also, die darauf bestand, die alte Korrespondenz zu sortieren. Jede einzelne Intimität wollte die begutachten, all dieses verjährte Leben durchstöberte sie.

Es war viel, was sie da zur Kenntnis nahm, Wort für Wort; und das Datum oben oder unten; und jede Schrift; und wie eine Schrift sich wandelte in den Tagen, in den Jahren; und wie Anreden abstarben; und wie die ärmste Tücke lebendiger blieb als das reichste Lob, ja die verschwenderische Neigung selbst. Manche Buchstaben krümmten sich noch heute vor Lüge; und die besten Zeilen hatten alles angstvoll vorher gewußt.

Und die Perücke war es, die darauf drang, all das zu zerreißen. So ergaben sich Berge von zerfetzter Liebe, von zerfetztem Ruhm, und keine einzige Kritik blieb übrig.

All das welke Zeitungspapier, das sich da häufte, das sich da krümmte und noch einmal aufstellte, aus dem Papierkorb quoll, sich unter den Teppich schob und sich in aller Hast dagegen wehrte, von der Köchin in den Ofen gestopft zu werden: – die Perücke bestand darauf, daß es endgültig aus dem Wege kam, und so mußte alles dahin.

War das Zimmer überhaupt noch Herrn Ullrichs Arbeitszimmer? Blieb es das? Nicht so ganz. Die Perücke hatte ihren Willen, einen wahren Eigensinn von einem Willen, und so wurde das Zimmer immer mehr das ihrige.

Wenn Ullrich mit seinem feinen, weißen Kopf, gelockert und entspannt, ruhigen Schrittes, ruhigen Herzens umherwanderte, mußte er zugeben, daß durchaus nicht mehr alles hierher paßte. Es waren Tage der Prüfung, Nächte der Säuberung. Herr Ullrich ging ganz gelassen zwischen dem aufgehäuften Kram seines Lebens umher, und die Perücke auf seinem Haupte lenkte ihn und leitete ihn an; und er willfahrte ihr gern und mit kindischem Gehorsam. Die stumm gewordene Zunge zwischen die Lippen geklemmt, griff er zu, und seine Hände erholten sich dabei, und seinen kleinen Füßen war kein Weg zu quer oder zu schwer.

Er stieg persönlich auf seine höchsten Stühle und entfernte zunächst seine unverwelklichen Lorbeerkränze, einen nach dem andern. Er nahm die Schauspieler-Porträts herunter, die berühmten Gesichter alle, und das war noch nicht genug. Er zog sogar die leeren Nägel aus den Wänden mit manchem guten Ruck.

Der Staub, den er dabei entwickelte, war gewiß das wenigste; mochte auch ein bißchen Mörtel mitgehen! Ärger war, daß überall an den Wänden kahle Stellen entstanden, große und kleine, viereckige und runde und ovale. Es sah aus wie Wüsten auf der Landkarte. Aber ihm gefiel das soweit ganz gut, weil es der Perücke nicht zu mißfallen schien.

Mochte man von ihm denken, was man wollte: wenn er alles, was endgültig nicht hereinpaßte, ganz einfach vor die Türe setzte – aber sachte, ohne Lärm, locker und behutsam, der Perücke gemäß. Das Eisbärfell trollte sich auf seinen vier toten Füßen. Der goldbordierte Purpurvorhang mußte herunter vom Fenster und die für alle Zeiten überfällig gewordene Venus von Milo von ihrem Sockel herab. – Ullrich hatte genug zu tun.

Manchmal erhitzte er sich dabei, und doch wurde es kühl und kühler in ihm; eine erquickende Brise wehte manchmal über seine Seele hin, über die still gewordene Landschaft seines Innern. –

Was die kleine Elvira anlangte, so hatte die Perücke ihre eigenen Gedanken über das Kind, und sie verschwieg sie nicht; obwohl Herrn Ullrich lieber gewesen wäre, sie hätte diesbezüglich geschwiegen. »Schau dir dieses Kind an,« sagte die Perücke, »schau sie dir an, wie sie dasitzt und sich über das Papier beugt und zeichnet! Oder wie sie dasitzt und das Buch auf den Knien hält und liest! Ist Elvira kurzsichtig oder weitsichtig? Weitsichtig ist sie, nicht wahr? Das macht ihre Haltung so steif. Und wer, glaubst du, ist glücklicher? Ein kurzsichtiger oder ein weitsichtiger Mensch? Wenn mein Kind ein Mädchen wäre, dann wünschte ich unbedingt, sie wäre kurzsichtig. Das ist nicht kleidsam, gewiß. Aber es erspart einer Frau so manches, wenn sie in einiger Entfernung die Gesichter der Männer nicht mehr so genau unterscheidet. Manche Miene tötet. – Ja. – Und dann ist sie das Kind eines berühmten Vaters. Und es betrübt mich, daß ich ihr das ansehe. – Ja, du kannst ihr jetzt nicht mehr helfen, du, der gewesene Charakterspieler Ullrich. Aber tröste dich! Auch ohne dich, auch dich vergessen habend, wird sie weiter wachsen, blühen und gedeihen – wahrscheinlich sogar besser ohne dich!« –

Diese Worte der Perücke taten Herrn Ullrich bitter weh. Er wurde kopfhängerisch und stumm, und wenn er mit sich selber sprach, sprach er ein wenig durcheinander.

Und eines Abends, als er ins Theater ging, um den Kusofkin zu spielen, vergaß er, die Perücke abzunehmen und sie in der jetzt leeren Schreibtischlade einzusperren. Nein, völlig zerstreut, wie er war, behielt er sie auf dem Kopf; und so betrat er auch die Bühne.

Aber es wäre ganz verfehlt anzunehmen, daß er an diesem Abend den Kusofkin besser spielte als sonst. Nein, so weit, daß man diese Wirkung der Perücke hätte erproben können, kam es gar nicht.

Denn schon beim ersten Wort, beim ersten Schritt verzichtete Herr Ullrich endgültig und in Demut auf alles Weitere. Er trat zurück, er trat ab.

Er verbeugte sich nicht einmal, obwohl es aussah, als ob er zu einer Verbeugung ansetzte. Und der Vorhang fiel.

Freilich, hinter dem Vorhang, hinter der Kulisse machte der Unglückliche eine ganz tiefe Verbeugung. Sie galt Fräulein Johanna Klee, seiner berühmten Kollegin, welche dastand, die Hand aufs Herz gepreßt, und den Abschiedsgruß ihres Partners nicht einmal erwiderte.


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