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IX

Er war an seinen Mitspielern, auch an der Klee und an Langenbruch, vorbeigekommen. Aber seitdem sie alle im Kostüm steckten, hatte Ullrich jedes persönliche Interesse für sie verloren. Auch der kleinen Dahnke nickte er nur wie durch einen dicken Nebelvorhang zu. Er ging sofort in seinen Winkel, wo er sich heimisch fühlte, und von dort aus begann er die Bühne kreuz und quer abzuschreiten, er ging zum Tisch, zu den Türen, versuchte alle Wege, welche für den Kusofkin festgelegt waren, und summte dabei unhörbar »Üb immer Treu –«. Wer ihm nahe kam, vernahm nur ein leises Brodeln und Summen, das von Ullrich wie von einem kochenden Samowar ausging.

Und zwar übte er bei dieser Gelegenheit nicht seine kleinen verzwickten Kusofkin-Schritte, sondern er marschierte fest und breitbeinig umher wie ein Seemann, der den Boden des Schiffes in Gedanken und nach alter Gewohnheit ausmißt und die Festigkeit des Holzes, das ihn über das Element hintragen soll, zu erproben scheint. Bald würden sie auf hoher, vielleicht stürmischer See sein.

Nun, und dann fuhren sie allesamt aus, und dann begann eben das Unwetter der Hauptprobe. –

Der Krach beruhigte die Darsteller zunächst; auch Herr Ullrich war recht zufrieden damit, daß das »Gnadenbrot« zweimal beginnen mußte. Welch eine günstige Vorbedeutung! Mochte es nur weiterhin stürmen und wettern, dann gelangte man morgen, bei der Premiere, um so bestimmter glatt in den Hafen des Erfolges.

Aber es wurde eine verhexte Reise daraus. Der Zwischenfall mit dem Harmonium hatte das Heiterkeits-Bedürfnis des Parketts geweckt; und nun wollten die Leute um jeden Preis lachen, immer wieder und immer weiter lachen. Und gerade Kusofkin bot ihnen allem Anschein nach reichlichen Stoff. Sie lachten über sein Trippeln und Treten, sie lachten bei jeder seiner Verbeugungen. Vergebens machte der Regisseur »Pst!« und knurrte der Direktor sogar einmal »Donnerwetter«.

Lächelten nicht auch die Klee und Langenbruch ziemlich unverhohlen? Starrten nicht überall aus den Kulissen hervor die Statisten mit von Lachen verzerrten Fratzen auf die immer krampfigeren Bemühungen Kusofkins? Ja, sogar die Theaterarbeiter wagten sich vor und wischten sich den Schweiß ab, um besser glotzen und grinsen zu können.

Da war besonders ein rothaariger Bursche mit einem gewaltigen Adamsapfel; dieser Adamsapfel ging glucksend auf und nieder, man bekam es mit der Angst zu tun, daß der Mensch sich verschlucken und an seinem eigenen Adamsapfel ersticken könnte.

Der Charakterspieler Ullrich dachte plötzlich, während er die einstudierten Bewegungen machte und der immer lauter und dringender werdenden Souffleuse geläufig den Text nachplapperte, an eine besonders peinliche Szene aus seiner Kindheit; eine ganz niederträchtige Szene, an die er schon viele Jahre sich nicht mehr erinnert hatte. Damals war ein allgemein heißgeliebter blutjunger Lehrer gestorben, und das Gymnasium nahm mit allen seinen Klassen an dem Begräbnis teil. Sechshundert Knaben verschiedenen Alters füllten die Kirche, und der Knabe Ullrich gehörte einem jüngeren Jahrgang an. Da, als die junge, sehr schöne Witwe, unter dem Schwergewicht ihres Kummers schwankend – man sah durch den schwarzen Schleier ganz hell ihr süßes Kindergesicht, – an den Sarg trat, ging eine nur mit Mühe unterdrückte Lachwelle durch die Knabenschar.

Wo war dieses Gelächter aufgesprungen? Vielleicht in einem kindlichen Herzen, das sich gegen den Schmerz wehren wollte. Es war ein unwiderstehlicher, Leib und Seele erschütternder Lachkrampf, der alles ansteckte, was in der Kirche Knabe war. Der kleine Ullrich lachte, lachte, bis er weinte, lachte, bis er stöhnte, lachte so schrecklich laut, daß er am Kragen gepackt, aus der Bank hervorgezerrt und unter kräftigem Schütteln vor die Kirchentür gesetzt wurde. Dann freilich war es aus mit dem grausigen Lachfieber. –

Während Herr Ullrich sonst, bei der allergeringsten Unzukömmlichkeit, sein Spiel unterbrochen und die Störung energisch abgestellt hätte – seine Probenkrachs waren berüchtigt, und sogar der abgehärtete Direktor fürchtete sie –; während ihm sonst bei auch nur entfernt ähnlicher Gelegenheit Zyklopenkräfte wuchsen und seine Stimme zum Orkan anschwoll: war er diesmal wie willen- und kraftlos, ein wehrloser Simson unter den Philistern. Und er plagte sich im Gegenteil, den Faden wieder zu erwischen und alles möglichst brav auszuführen. So oft er aber einigermaßen in Feuer geriet, knipste im Parkett die Diebslampe des Regisseurs und leuchtete grell auf, geradewegs Herrn Ullrich in die geweiteten Augen; was besagen wollte, daß der Beobachter da drunten Mängel notierte, die sich eben gezeigt hatten. Waren die Fehler angekreidet, dann erlosch die Teufelslampe, um sofort wieder aufzuflammen, ein höllisches Blinkfeuer! – –

Aber das war schließlich nur eine menschliche Kleinigkeit, wie sie beim Theater jedem passieren konnte, verglichen mit der Tücke der gegen Ullrich mitverschworenen Objekte. Die Türen verhedderten sich in ihren Angeln, und, was noch ärger war, die Ecken der Tische spießten sich im Raume, so daß Ullrich nicht an ihnen vorüber konnte. –

Mit dem Regisseur mochte man ja später grob sein, wenn es darauf ankam; und Ullrich erwartete geradezu durstig den Zusammenstoß mit der ekelhaften Kugel von einem Menschen. Ja, Ullrich blieb einmal beinahe in einem Relativsatz stecken, weil er innerlich den Blick probierte, den er erledigend über den Notizblock des Regisseurs gleiten zu lassen gedachte. Sein Herz krampfte sich zusammen vor Wut, und er fühlte sich seiner beinahe wieder mächtig. Da erhob sich ein Teppich gegen den rechten Fuß des Charakterspielers Ullrich, und der Schauspieler fiel hin.

»Pardon!« sagte er ganz laut, als er sich wieder erhob. Gelächter. – Aber ein toller Blick des Schauspielers ließ nun wirklich alles verstummen und erstarren. Ullrich spielte gesammelter, und der erste Akt war zu Ende.

Jedoch in seiner Brust saß das Unheil, er fühlte es genau. Kalter Schweiß am ganzen Körper machte ihn frösteln. Seine Augen flackerten verzweifelt. –

Im Zwischenakt rollte der Regisseur auf der Bühne, wo alle Mitspielenden versammelt waren, hin und her und hielt Kritik. Aber immer machte er vor einem anderen halt, nur vor Ullrich nicht. So hatte also dieser Laie ihm, dem Hauptdarsteller, nichts zu sagen, und gefragt würde er gewiß nicht werden! Auch den Unfug, daß im Stück nicht beschäftigte, nicht kostümierte Herren, elende Zivilisten, sich ganz dreist an der Rampe herumtrieben, mochte ein anderer bemängeln, dem Charakterspieler Ullrich war alles gleichgültig geworden.

Und mit Hilfe dieser Gleichgültigkeit, welche ihn wie ein Schwimmgürtel umgab und über einem Meere von Angst hielt, ging auch diese Höllenprobe vorüber, einfach, weil nichts ewig dauert.

Als Ullrich sich in seiner Garderobe abschminkte – was ihn völlig entwaffnete und, wie er da in Unterhosen mit nacktem Oberleib vor dem Spiegel saß, völlig wehrlos machte –: klopfte es, und herein trat nun doch der Regisseur.

Ullrich wollte – trotz seiner neuerrungenen Apathie, aber gewohnheitsmäßig – sofort zuschnappen, vielmehr den Blick, wie geübt, nach dem Notizblock schnappen lassen; doch führte der Regisseur keine Notizen mit sich, nicht einmal ein loses Blättchen.

Schon von der Türe aus sagte er, die Schnalle in der Hand behaltend, zu Ullrich hinüber: »Ich habe mir viel aufgeschrieben – es ist aber alles nebensächlich. Ich kann Ihnen nur sagen, daß Ihnen eine Geringfügigkeit fehlt: nämlich die wahre Demut. – Übrigens ist die Perücke miserabel. Dem Kusofkin waren bestimmt andere Haare gewachsen. Die Ihrigen sind die eines Landarztes, der seine Dorfpatienten gern mit bloßem Kopf besucht, und der eines Tages an der Arteriosklerose krepieren wird, aber nicht an der Demut.« –

Hierauf kleidete sich Herr Ullrich hastig an, nachdem er sich nur notdürftig abgeschminkt hatte. Die Perücke überreichte er mit betonter Sorgfalt dem Garderobier; dazu ließ er sich Zeit, das war seine ganze stumme Antwort. –

Bei der Portierloge traf er wieder mit Johanna Klee zusammen, die rasch zurücktrat und ihn sehr respektvoll grüßte. Es war ihm unangenehm. –

Auf der Straße war noch immer pralle Sonne. Ullrich blinzelte. Er wurde, wie er so in der Wärme dahin ging, ganz sanft und redete alltägliches Zeug vor sich hin.

»Es ist kein Beruf für einen Mann«, schwätzte er mit sich selbst. »Schon am hellen Vormittag dieses künstliche Licht, das Gott nicht geschaffen hat. Man schmiert sich die Backen voll, man stopft sich fremdes Haar auf den Kopf, Leichenhaare; und fremden Text in den Kopf, Leichentext. Aber wen täuscht man? Nicht einmal die eigene Frau. Die gute Person heuchelt ja nur Verblendung, wie wenn ein Kind sich versteckt und die Erwachsenen heucheln, daß sie es nicht finden können. – Man sperrt uns, ganz zweckmäßig, in unterirdische Katakomben ein. Die Nerven werden losgelöst und mit Drähten verbunden, die zum Regisseur hinführen. Man ist ein berühmtes Präparat. Welcher wahre Mann gäbe sich bei lebendigem Leibe dazu her? Ein charaktervoller Schuster läßt sich nicht einmal zum Spaß hypnotisieren. Seit dreißig Jahren verrenke ich meine Zunge, um fremde Worte zu salbadern, die mir selbst niemals eingefallen wären. Wenn ich sterbe, soll man mein Gehirn mit Lysol waschen, um all den überflüssigen Text zu entfernen. Aber ich sterbe nicht, mir gelingt nicht einmal ein eigener letzter Seufzer. Ich endige als Mumie im Theatermuseum. Das ist mir schon die wahre Demut.«

Er ging nach Hause und legte sich sofort ins Bett. »Ich gehöre ins Wasserbett«, dachte er. – Und bis zur Premiere sprach er nur einen einzigen Satz: dieser Satz enthielt die Anordnung, daß die kleine Elvira diesmal nicht ins Theater gehen dürfe.


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