Henryk Sienkiewicz
Sintflut
Henryk Sienkiewicz

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18. Kapitel.

Das Sprengen der Kanone hatte auf Müller einen niederschmetternden Eindruck gemacht, um so mehr, als er auf sie seine ganze Hoffnung gegründet hatte. Leitern, Faschinen und die ganze Infanterie, alles war zum Sturme bereit gewesen, man wollte nur noch die Bresche ein wenig vergrößern, – und jetzt, – jetzt hieß es wieder auf das Stürmen zu verzichten. Ein Versuch, das ganze Kloster in die Luft zu sprengen, hatte mit einem völligen Mißerfolge geendet. Die herbeigerufenen, erfahrenen Bergarbeiter stießen auf harten Steinboden und fielen zu Dutzenden unter den wohlgezielten Schüssen der Garnison. Das Heer selbst wurde täglich mutloser, und der Glaube an die Uneinnehmbarkeit der Festung wuchs mehr und mehr.

Schließlich begann auch der General selbst die Hoffnung aufzugeben. Einen Tag nach dem Sprengen der großen Kanone hielt er einen Kriegsrat ab. Im Grunde seiner Seele hoffte der General, daß man ihm riet, die Belagerung dieser unerschütterlichen Mauern und dieser todesmutigen Verteidiger aufzugeben und vor dem Eintreten eines grimmigen Frostes abzuziehen.

Dem Kriegsrate wohnten nur die schwedischen Offiziere bei, die Polen glänzten alle durch ihre Abwesenheit. Müller hörte finster zu, wie Sadowski und der Graf Weyhard in Streitigkeiten gerieten. Wrzezsczowicz schlug unter anderem einen neuen Plan vor. Man sollte unter den Truppen, besonders unter den polnischen, das Gerücht verbreiten, daß die Bergarbeiter einen alten unterirdischen Gang entdeckt hätten, der bis zu dem Kloster und der Kirche führe.

»Und wenn dieses Gerücht sich verbreitet, so werden die Polen selbst um die Übergabe dieses Hortes des Aberglaubens flehen.«

»Versuchen wir das! Versuchen wir das!« sagte Müller erfreut, denn ihm gefiel der Plan sehr gut. »Ob jedoch Zbrozek oder Kuklinowski bereit sein werden, als Abgesandte nach dem Kloster zu gehen, und ob man dort der Geschichte von dem Gang Glauben schenken wird, daran zweifle ich!« –

»Kuklinowski wird den Auftrag auf alle Fälle annehmen,« antwortete Wrezeszczowicz, »aber besser wäre es freilich, wenn er auch selbst an die Wahrheit seiner Worte glaubte.«

Plötzlich öffnete sich die Tür geräuschvoll, und Zbrozek stürzte völlig außer Atem in das Zimmer. Sein Gesicht war bleich und vor Schreck verzerrt.

»Kuklinowski – tot!« rief er noch auf der Schwelle stehend aus.

»Wie? Was? So reden Sie doch! Was ist geschehen?« fragte Müller in großer Besorgnis.

»Lassen Sie mich erst zu Atem kommen,« antwortete Zbrozek. »Das, was ich gesehen habe, übertrifft jede Möglichkeit. Kuklinowski tot, drei Gemeine ermordet und von Kmicic keine Spur! – Ich wußte, daß er ein fürchterlicher Mensch ist; aber um sich seiner Fesseln zu entledigen, drei Soldaten niederzumetzeln und Kuklinowski zu Tode zu quälen, dazu bedarf es der Kräfte eines Teufels, nicht der eines Menschen.«

Müller ließ seinen Kopf auf die Hände sinken und sagte kein Wort. Als er jedoch seinen Blick wieder hob, brannte in seinen Augen Zorn und Mißtrauen.

»Pan Zbrozek!« rief er, »mag er der Satan selbst sein, aber ohne Hilfe, ohne Verrat konnte er das nicht ausführen! Kmicic hatte hier viele Bewunderer. Kuklinowski dagegen – Feinde, – und Sie gehörten zu ihnen!«

Zbrozek wurde bei dieser Beschuldigung bleich; er stand von seinem Platze auf und trat auf Müller zu.

»Sie haben mich also im Verdacht?« fragte er.

Für einen Augenblick trat ein unheilvolles Schweigen ein. Alle Anwesenden zweifelten keinen Moment, daß, wenn Müller bejahend antwortete, sich etwas Schreckliches, Unerhörtes ereignen werde. Alle faßten unwillkürlich an den Griff ihrer Säbel, Sadowski hatte den seinigen bis zur Hälfte aus der Scheide gezogen. Auf dem Hofe hatten sich schon viele polnische Reiter, die wahrscheinlich mit derselben Nachricht über Kuklinowski gekommen waren, versammelt. Es gab keinen Zweifel, sie alle würden nicht zaudern, Zbrozek beizuspringen. Müller begriff das. Und trotzdem es in ihm kochte und gärte, unterdrückte er seinen Zorn und tat so, als wenn er das herausfordernde Benehmen Zbrozeks nicht bemerkt habe.

»Erzählen Sie uns doch ausführlich, wie das alles zugegangen!«

Zbrozek wollte gerade beginnen, als ein Haufen polnischer Offiziere hereinstürzte.

»Kuklinowski ist ermordet! Seine Soldaten haben vollständig den Kopf verloren und fliehen!« riefen alle wirr durcheinander.

»Erlauben Sie, meine Herren,« sagte Müller, »daß Pan Zbrozek uns die Sache einmal klar erzählt. Er ist der erste gewesen, der die Nachricht gebracht hat.«

Alle verstummten, und Zbrozek begann:

»Es ist allen wohl bekannt, meine Herren, daß ich auf dem letzten Kriegsrat Kuklinowski zum Zweikampfe forderte. Ich hatte fest beschlossen, diesen Zweikampf zum Austrag zu bringen und begab mich deshalb heute früh in Kuklinowskis Quartier. Man sagte mir, er sei nicht da. Ich schickte hierher, – auch hier dieselbe Antwort. Im Quartier hatte er auch nicht übernachtet, worüber man sich durchaus nicht gewundert hatte, man glaubte, er wäre hier bei Euer Exzellenz. Da trat ein Soldat zu mir und erzählte, daß der Oberst mit Kmicic in eine nicht weit entfernte Scheune gegangen sei. Ich gehe dort hin und finde die Tür der Scheune offen. Und als ich hineintrete, sehe ich einen nackten, menschlichen Körper an einem Balken hängen. Zuerst denke ich, das ist Kmicic, allein, als ich näher trete, erkenne ich Kuklinowski.«

»An einem Balken hing er?« fragte Müller.

»Ja, so ist's. Ich bekreuzige mich schnell und denke, das ist Hexerei oder sonst was? Als ich aber die Leichen der drei gemordeten Soldaten erblicke, da begreife ich alles. Dieser schreckliche Mann tötete die drei Soldaten, marterte Kuklinowski zu Tode und machte sich dann aus dem Staube.«

»Bis zur schlesischen Grenze hat er es nicht weit!« sprach Sadowski.

Wieder trat Stillschweigen ein.

Aller Verdacht auf Zbrozek war verschwunden. Müller selbst dachte gar nicht mehr daran. Das tragische Ende Kuklinowski erfüllte seine Seele mit einer unklaren Unruhe. Er sah die Gefahren sich mehr und mehr häufen und wußte nicht, wie er gegen sie ankämpfen konnte. Es war ihm sehr ungemütlich zumute.

Mehrere Tage nach diesem Ereignisse verbreitete sich im schwedischen Lager die Nachricht, daß die Minenleger einen unterirdischen Gang gefunden hätten, der direkt zum Kloster führe, und daß es allein von dem Willen des Generals abhänge, die Festung in die Luft zu sprengen oder zu verschonen.

Die halb erfrorenen, von großer Überanstrengung stark mitgenommenen Soldaten kamen fast von Sinnen vor Freude.

Wrzeszczowicz war überall im Lager zu sehen. Er ermunterte die Soldaten, bestätigte hundertmal die Richtigkeit der Nachricht und schüttete mit vollen Händen Geld aus. Der Jubel und die Freudenausbrüche trugen das Gerücht bis in die Festung. Jetzt erschraken sogar die Tapfersten. Die Frauen kamen mit ihren Kindern weinend zu dem Prior und bestürmten ihn, er möge doch die Unschuldigen vor einem solchen Untergange verschonen.

Es waren schwere Tage, die dieser Held im Mönchsgewande jetzt durchlebte. Die Schweden hatten ihr Bombardement eingestellt, um den Belagerten zu zeigen, daß sie ihrer Sache sicher wären. Die Panik im Kloster wuchs mit jedem Tage. Des Nachts vernahm man undeutliche Geräusche unter der Erde, sicherlich erweiterten die Schweden den Gang unter dem Kloster. Auch der größere Teil der Klosterbrüder verlor den Mut und begab sich unter der Führung des Paters Stradomski zu Kordecki, um ihn zum Anknüpfen von Friedensunterhandlungen zu bewegen. Der Prior jedoch blieb unbeugsam. In einer langen, begeisterten Rede bemühte er sich, den Mönchen und der Schlachta zuzureden, die Geistesgegenwart zu bewahren.

Unter dem Endrucke seiner leidenschaftlichen Worte begann die Furcht sich allmählich zu legen. Sie zerschmolz langsam wie der Schnee unter den Strahlen der alles neu belebenden Frühlingssonne. Die Brüder wollten schon beruhigt ihre Zellen wieder aufsuchen, als am Fuße des Berges die Trompete eines Unterhändlers ertönte. – Der Bote überbrachte einen Brief von Wrzeszczowicz. Der Graf schrieb, daß, falls die Festung sich nicht bis morgen ergäbe, sie in die Luft gesprengt würde.

Aber die Drohung hatte jetzt keine Wirkung mehr.

»Bestellt nur, man möchte uns nicht schonen!« schrie die Schlachta. »Mögen sie uns getrost in die Luft sprengen!«

Der Bote nahm diesen abschlägigen Bescheid mit.

So war die schwedische List zunichte geworden. Und wieder eröffneten die Schweden das Bombardement. Aus allen Batterien wurde zu gleicher Zeit geschossen. Es hagelte glühende Kugeln, Bomben und Granaten. Nie vorher war das Geknatter so betäubend, aber die Belagerten waren schon an das Feuer gewöhnt, und ein jeder blieb ruhig und kam seinen Pflichten nach. So ging die Verteidigung still, ohne Kommando vor sich. Man beantwortete das Feuer mit Feuer; jeden Schuß mit einer wohlgezielten Kugel.

Am Abend berief Müller abermals den Kriegsrat zusammen. Der General, der finsterer denn je aussah, eröffnete die Sitzung.

»Der heutige Sturm,« sagte er, »brachte keine Resultate. Unser Pulver ist auf der Neige, die Soldaten zur Hälfte umgekommen. Der Rest hat den Mut verloren und erwartet eher eine Niederlage als einen Sieg. Lebensmittel besitzen wir kaum noch, und Hilfe ist von keiner Seite her zu erwarten.«

»Und das Kloster steht fast unversehrt wie am ersten Tage unserer Belagerung,« fügte Sadowski hinzu.

»Was bleibt uns nun?«

»Schimpf und Schande.«

»Ich habe den Befehl erhalten, dem allen entweder schnell ein Ende zu machen oder nach Preußen abzumarschieren. – Und dieses Kloster steht noch, – dieses Jasno-Gora! dieser Hühnerstall! – Und ich konnte es nicht nehmen! Ist das Traum oder Wirklichkeit?«

»Ja, dieser Hühnerstall steht noch,« wiederholte Wort für Wort der Fürst von Hessen. »Und wir treten den Rückzug an, wir sind geschlagen.«

Alle schwiegen.

»Mehr als einmal ist es schon dagewesen,« begann mit lauter Stimme Wrzeszczowicz, »daß eine belagerte Festung sich durch Lösegeld frei gekauft hat. Die Belagerer ziehen dann Siegern gleich ab, denn wer ein Lösegeld zahlt, bekennt sich als besiegt.«

Die Offiziere, die zuerst dem Redner mit unverkennbarer Geringschätzung zugehört hatten, spitzten die Ohren.

»Möge das Kloster uns Lösegeld zahlen,« fuhr Wrzeszczowicz fort, »dann wird niemand behaupten, daß wir die Festung nicht mit Gewalt nehmen konnten.«

»Aber sie werden darauf nicht eingehen.«

»Ich setze meinen Kopf, ja, noch mehr, meine Ritterehre, dafür ein. Was sagen Sie dazu, Exzellenz?«

»Ich habe durch Ihre Vorschläge schon viele Sorgen gehabt,« antwortete Müller, »aber diesen nehme ich mit Dank an.«

Alle atmeten erleichtert auf; es blieb wirklich nichts anderes als der schimpfliche Rückzug übrig.

Am nächsten Morgen versammelten sich alle in Müllers Quartier, um Kordeckis Antwort auf die Forderung des Lösegeldes abzuwarten.

Plötzlich klirrten die Fensterscheiben, durch eine laute Salve erschüttert.

»Was heißt das? Schüsse aus der Festung?« rief der General und lief wie toll aus dem Zimmer. Die anderen folgten ihm alle.

Wirklich kamen die Schüsse aus der Festung.

»Was soll das nur bedeuten? Schlagen sie sich untereinander oder was?« schrie Müller. – »Ich verstehe das nicht!«

Aber was er sah, bestürzte ihn aufs äußerste. Bei der ersten Salve verließen die schwedischen Wachen ihre Stellungen auf den Schanzen und stoben in größter Unordnung auseinander. Ein ganzes Regiment auserlesener Schützen flüchtete sich in die Nähe seines Quartiers, und an Müllers Ohren drangen die Worte der Offiziere:

»Es ist Zeit, die höchste Zeit, den Rückzug anzutreten!«

Allmählich beruhigte man sich draußen; der Feldherr und seine Offiziere gingen wieder in das Zimmer. Bald darauf hörten sie im Flur Sporengeklirr, und ein Trompeter, blaurot vor Kälte, mit bereiftem Schnurrbart, trat ein.

»Eine Antwort aus dem Kloster,« sagte er, indem er dem General eine in ein rotes Tuch gehüllte Rolle überreichte.

Müller durchschnitt eiligst die Schnur, und begann das Tuch zurückzuschlagen. Die Augen aller waren auf die Rolle gerichtet. Der General riß ungeduldig die Enden des Tuches auseinander, und auf den Tisch fielen – Oblaten.

Müller erblich, und obwohl ihn niemand nach dem Inhalt der Rolle fragte, sagte er dumpf:

»Oblaten!«

Es entstand Grabesstille.

»Pan Wrzeszczowicz!« rief der General mit vor Wut entstellter, Unheil verkündender Stimme.

»Der Graf ist fort!« antwortete einer der Offiziere. – Und wieder wurde es still.

Des Nachts machte sich das ganze Lager auf die Beine. Sobald das Tageslicht erlosch, bemerkte man im Kloster, daß eine lebhafte Bewegung im schwedischen Lager vorging. Man vernahm Pferdegewieher, Rädergeknarre, Kommandorufe und Kettengerassel.

»Wahrscheinlich bereiten sie zu morgen einen neuen Angriff vor,« sprachen die Wachen am Tore zueinander.

Der Himmel bedeckte sich dichter und dichter mit Wolken; es begann zu schneien. Gegen fünf Uhr morgens war es ganz still im schwedischen Lager. Der Schnee fiel stärker und stärker. Er hüllte schon das ganze Kloster in einen dicken, weichen Mantel ein, als wollte er es vor den Augen der Belagerer, vor ihren Verderben bringenden Kugeln und Bomben schützen.

Endlich begann es zu tagen. Man läutete gerade zum Frühgottesdienst, als die Wachen am Nordturm Pferdegewieher vernahmen.

Am Tore war ein Bauer, der ganz mit Schnee bedeckt war. Hinter ihm, auf der Straße, stand sein Schlitten, vor den ein magerer Gaul gespannt war.

»He! Leute öffnet!« schrie der Bauer.

»Wer da?« fragte die Wache.

»Ein unsriger. Ich hab' euch Wild gebracht.«

»Wie, haben dich denn die Schweden durchgelassen?«

»Welche Schweden?«

»Die das Kloster belagern!«

»He! Sind keine Schweden mehr da.«

»Fort! – Gelobt sei Jesus Christus!«

»Ihre Spuren hat der Schnee schon längst bedeckt.''

Die Nachricht verbreitete sich mit Blitzesschnelle im ganzen Kloster. Von dem Kirchturme wurde sogleich Sturm geläutet. Kaum war eine Viertelstunde vergangen, als der ganze Hof mit Frauen, Kindern und Mönchen gefüllt war. Die einen stürzten auf die Wälle, um nach den Schweden auszusehen, die anderen schluchzten und lachten abwechselnd vor Freude.

Einige Stunden später schon war der Fuß des Berges und die Landstraße mit Leuten überfüllt. Die Tore des Klosters standen weit geöffnet. Die Glocken läuteten unentwegt und sandten ihren Siegesgesang weit, weit hinaus, und verbreiteten die frohe Kunde in der ganzen Republik. Und der Schnee fiel leise und dicht und verschüttete jegliche Spuren des schwedischen Lagers.

* * *

An diesem Tage las der Pater Kordecki selbst die Messe.

Nicht mehr erzitterten die Mauern unter dem Kanonendonner des Feindes; kein von den Wänden abbröckelnder Staub überschüttete heute die Andächtigen; nichts unterbrach das Gebet und jenen Dankgesang, den der heilige Prior inmitten des allgemeinen Weinens der Freude anstimmte:

»Te Deum laudamus!«

Ende des dritten Buches.



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