Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XLVII

Während Erichs Krankenlager war Melusine oft in das nahe Sensburg hinüber gegangen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Den beiden jüngeren Dienstmädchen wurde gekündigt. Zur Beruhigung der durch die Erlebnisse schwer erschütterten Frau Betty ließ Erich seinen Chauffeur Wildgruber dort wohnen. Die Zeugenvorladung zum Prozeß hatte ihn erreicht, aber auf Erichs Rat war er ihr nicht gefolgt. Er hätte sich dank seiner Mitwisserschaft an den politischen Plänen nur unnötig in Gefahr begeben, ohne das Geringste zu Ferdinands Entlastung sagen zu können. So lebte er denn zusammen mit Frau Betty und suchte deren wirre Auffassung der Dinge etwas zu klären.

Zuerst war sie von einem wilden Haß gegen Melusine erfüllt gewesen, die sie für die Urheberin allen Unglücks hielt. Als sie aber immer wieder durch sie hoffnungsvolle Nachrichten über die Aussichten des Prozesses empfing und sah, wie sie und Erich sich um Ferdinands Angelegenheit kümmerten, beruhigte sie sich etwas. Entscheidend war ein Besuch, den sie mit Wildgruber im Krankenhaus machte. Auch schrieb ihr Ferdinand einmal aus dem Untersuchungsgefängnis, sie solle sich den Anordnungen seines Bruders hinsichtlich des Haushaltes in allem fügen. Verstehen konnte sie das allerdings nicht. Warum Ferdinand geschossen hatte, das vermochte sie sich aus ihrem weiblichen Instinkt schon zu erklären, wenn sie auch nicht aus dem Entsetzen darüber herauskam, aber daß nun zwischen den Brüdern wieder alles beim alten war, obgleich Melusine nicht von Erichs Krankenbett wich, das sollte einer begreifen. Indessen, gebildete Herrschaften, das wußte sie, machten vieles anders als die einfacheren Leute, und sie hatte es längst hinnehmen gelernt.

Ihre Freude war groß, als ihr an diesem Morgen Melusine telephonierte. Den Freispruch hatte Wildgruber schon in der Zeitung gefunden, aber leider auch die Nachricht, daß Ferdinands Haft nicht aufgehoben war. Nun sollte sie erfahren, daß ihr Herr heute zum Mittagessen in Sensburg eintreffen, nachmittags freilich sofort weiterfahren würde.

Nach dem Gespräch mit Erich war Ferdinand freier, als er sich je im Leben gefühlt hatte. Der alte Träumer, der schon seit seiner Tat verschwunden, war erst durch den Verbrecher, dann durch den Büßer abgelöst worden. Nun lag auch dies hinter ihm. Früher hatte er sich bei all seinen Verstimmungen und Melancholien oft damit getröstet, daß er wenigstens frei sei, zu tun, was er wolle, und die Folge davon war meist gewesen, daß er sich für gar nicht entschied. Jetzt hingegen gab es gar keine Wahl als die eine, zu tun, was er mußte und mit seinem ganzen tiefsten Wesen wollte. War das nicht vielleicht die wirkliche Freiheit, das echte Wu-Wei? Hatte nicht das frühere Freisein zu allem willkürlich Erdenkbaren gerade daran gehindert, je etwas einzig Notwendiges zu tun?

Solche Gedanken drängten sich ihm auf, während er sich zu Fuß Sensburg näherte, dessen spitz ansteigendes Dach hinter Ulmen erschien. Er entsann sich jener Sommerfrühe, in der er das Haus als ein die Strafe suchender Verbrecher verließ, nur von Skanny begleitet. Zu seiner Linken lag in der Oktobersonne das weiße Haus der Gendarmerie, durch dessen Tür er das alte Leben verlassen hatte. Wieder ging er den Abkürzungsweg über die Wiesen, dann hörte er die Hühner von Sensburg. Das Küchenfenster stand offen. Frau Betty sprach mit jemand. Dort wurde wie einst eine Mahlzeit für ihn bereitet. Der schwarze Skanny sprang ihm entgegen und hüpfte in seinem Freudentaumel ihm fast bis zur Brusthöhe.

Ferdinand kehrte in sein Haus zurück, dieses Mal freilich nicht zu beschaulicher Rast. Einen Augenblick durchzitterte ihn tiefschmerzlich der Gedanke an Melusine, die nicht mehr hierher kommen würde, aber schnell klammerte er sich wieder an das, was es jetzt zu tun galt.

Das erste Zusammentreffen mit der alten Betty, die ihn und Erich als Kinder zusammen hatte spielen sehen, scheute er ein wenig. Wie oft mochte sie der Eltern Holthoff gedacht haben, deren Jüngster nun auf den Ältesten geschossen hatte, aber mit denen, die seine Tat betraf, und mit sich selber war er nun im Reinen, und so schüttelte er der alten Frau Betty die Hand, als käme er wie sonst von einer Reise zurück. Sie war unverändert, vielleicht noch etwas starrer als sonst. Skanny sprang jubelnd umher, Cora lag faul und fett in der Ecke wie ein Mehlsack. Sie hatte viel von ihrem fürstlichen Anstand verloren und schien zu ahnen, daß die Zeit der Prinzen und Könige vorüber sei. Ferdinand dachte der vielen Abende, an denen sie um ihn und Melusine herumgeschlichen war, die sie nicht geliebt hatte.

Während Frau Betty ihn bei Tisch bediente, – sie verfehlte nicht, ihm seine alten Lieblingsgerichte vorzusetzen – dankte er ihr, wie gut sie in seiner Abwesenheit alles in Ordnung gehalten. Der Wildgruber hatte ihr geholfen, Möbel und Kunstsachen durch Hüllen gegen Staub zu schützen. Es war Ferdinand doch recht, daß sie dem Chauffeur ein Fremdenzimmer aufgesperrt hatte? Die Mahlzeiten nahm er mit ihr in der Küche.

Frau Betty unterbrach Ferdinands Nachdenklichkeit durch die Frage, ob er denn bald wieder ganz nach Sensburg kommen würde. Er vermochte ihr noch nichts Bestimmtes zu versprechen. Wildgruber mußte ihn nach Tisch im Auto in die Nähe der Grenze bringen, wo er durch eine Schlucht schnell nach Harringen gelangen und in einer Viertelstunde die nächste Bahnstation erreichen konnte. Als Gepäck nahm er nur einen Rucksack mit. Auch kleidete er sich wenig reisemäßig: kurze Hosen und Joppe. Trotzdem konnte er nicht sagen, wann er zurückkommen würde. Vielleicht übrigens schon morgen.

Tatsächlich war er vierundzwanzig Stunden später wieder da. Er brachte nur seinen Rucksack zurück und erklärte, wiederzukommen; dann fuhr er gleich mit Wildgruber zu Erich ins Krankenhaus. Melusine hatte am vorigen Tag bereits Sobern hergebracht, der in dem Gasthaus abgestiegen war, wo Prinz Amadeus wohnte. Ferdinand fand beide mit Melusinen im Krankenzimmer. Erich saß in seinem Armsessel und rauchte zum erstenmal wieder eine Zigarre. Der Arzt, der den gestrigen Besuch nicht gerade begrüßt, hatte sich überzeugen müssen, daß er auf Erich sehr günstig wirkte. Seine Lebensgeister waren erwacht, ohne daß am Abend, wie noch einmal am Tage der Abreise Melusinens, sich die Temperatur erhöhte.

Ferdinand berichtete nun, daß er gestern abend unerkannt in die Wohnung Pauseckers gelangt sei und ihn bereit gefunden habe, hierher zu kommen, um mit Erich zu verhandeln. Er selbst habe ihn veranlaßt, nicht mit ihm zu fahren, da, im Falle er erkannt und wieder verhaftet würde, Pausecker sein Schicksal teilen müßte.

Am folgenden Tag erschien Pausecker. Erich hatte ihn einige Monate nicht gesehen, nur die Nachricht von ihm erhalten, daß er sich verlobt habe. Sein Schwiegervater war ein bekannter bürgerlicher, aber ziemlich links gerichteter Professor der Nationalökonomie an der Universität Rolfsburg. Es fiel Erich auf, daß Pausecker, der, seit die Kriegsnot behoben war, begonnen hatte, ein behagliches Embonpoint zu gewinnen, wieder schmäler geworden war. Seine Haltung schien gestrafft, seine Bewegungen waren lebhafter als früher, ja etwas nervös. Erich fragte sich: »Sollte seine Stunde geschlagen haben?« Es war Erich sichtlich nicht gerade erwünscht, daß in diesem Augenblick der Prinz und Sobern in dem Krankenzimmer anwesend waren. Pauseckers Blick schien den Prinzen etwas überrascht zu mustern. Als Erich ihn vorstellen wollte, kam jener ihm zuvor und sagte:

»Lieber Holthoff, es ist für den politischen Ruf Ihres Freundes gewiß vorteilhafter, wenn er auf alle Fälle mit gutem Gewissen sagen kann, er kenne mich nicht und habe nie mit mir gesprochen, aber ich möchte Ihnen sagen, wie sehr es mich freuen wird, später, wenn es ihm nichts mehr schaden kann, ihm einmal die Hand schütteln und ihm aussprechen zu können, wie aufrichtig meine Wünsche sein Tun für unser gemeinsames Vaterland begleiten. Damit trete ich nun zurück. Ich weiß, daß ich jetzt nichts anderes für Harringens Glück tun kann.«

Als er sich mit einer kurzen Verbeugung vor Pausecker, die dieser ebenso erwiderte, empfahl, sagte General Sobern:

»Ich glaube, es ist das beste, ich schließe mich zunächst Sr. Kgl. Hoheit an. Sprechen Sie erst einmal allein zusammen und stellen Sie fest, ob Sie meine Dienste brauchen. Wenn ja, stehe ich Ihnen mit meinen Kräften unmittelbar oder auch mittelbar zur Verfügung, aber ehe das entschieden ist, wird es für das Werk, auf dessen Gelingen wir alle hoffen, besser sein, wenn Ihr Freund sagen kann, er habe auch mich nicht gekannt.«


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