Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XVII

Sofort in den ersten Tagen nach des Prinzen Ankunft hatte ihm Ferdinand sein Schlafzimmer abgetreten, das er in einen behaglichen Wohnraum umgestaltete; das anstoßende Fremdenzimmer diente dem Gast weiter zum Schlafen. Ferdinand begnügte sich mit einer Kammer, das noch übrige Gastzimmer blieb für Besuche frei, besonders für Erich, der nun häufig unverhofft zu erwarten war.

Der Prinz fühlte sich außerordentlich wohl. Es fehlte ihm nichts als der alte Kammerdiener Emmerich, der seit seiner Knabenzeit um ihn gewesen war. In den ersten Wochen hörte man nicht selten aus seinen Zimmern verzweifelt diesen Namen rufen, wenn etwas unter das Bett gerollt war oder ein Gebrauchsgegenstand tückisch wurde. Allmählich aber verstummte dieser Ruf, Prinz Amadeus hatte gelernt, sich selber die Krawatte zu binden und sich mit einem Apparat zu rasieren.

Übrigens zog er sich gern in die mit alten Teppichen und Bildern geschmückten Räume zurück und begann einige Kapitel seiner Lebenserinnerungen aufzuzeichnen. Inzwischen versäumte Erich nicht, wenn er nach Rolfsburg kam, in dem Palais nach dem Rechten zu sehen, in dem nur der Obersthofmeister Graf Twelen mit dem Leibjäger verblieben war und das bis jetzt keinerlei Schaden gelitten hatte. In seinem Reisegepäck brachte Erich oft Kleidungsstücke, Gebrauchsgegenstände und dem Prinzen am Herzen liegende Briefschaften und Papiere über die Grenze, sowie die Reisetagebücher, die nun die Grundlage zu den Aufzeichnungen bildeten.

Abends im Bett las Prinz Amadeus gern Memoiren, dann aber auch seine Lieblingsschriftsteller Prosper Mérimée, Walter Savage Landor, Conrad Ferdinand Meyer, Paul Heyse und den älteren Dumas. Am höchsten freilich stellte er Plato, weil er der Begründer des Idealismus war, und Goethe. Von beiden führte er gelegentlich ein Wort an, las sie aber niemals.

Nach den Abendessen pflegte nun Ferdinand mit seinen beiden Gästen zwischen den goldschimmernden Buddhas und den barocken Holzfiguren zu sitzen. Melusinens Mißstimmung war sofort nach Erich's erster Abreise geschwunden und mit heiterer Bereitwilligkeit griff sie, von Ferdinand begleitet, zur Geige, so oft es der Prinz wünschte. Bald stellte es sich heraus, daß dieser eine klangvolle Baritonstimme besaß. Früher hatte er gern Mendelssohn'sche Lieder gesungen, sogar Duette, wie: »Ich wollt', meine Lieb' ergösse sich,« wozu ihm einst sein nun längst im Grabe liegender früherer Adjutant Graf Liechtenfeld als Partner zu dienen pflegte. Bis zu dergleichen ernsten Leistungen wagte sich Amadeus freilich hier nicht vor; als aber einmal vom Volksgesang die Rede war, setzte er sich an den Flügel und trug Lieder, teils gefühlvoller, teils launiger Art in den verschiedensten Sprachen vor, wobei er den Lokalton recht bemerkenswert fand, und als er den ehrlichen Beifall seiner Zuhörer sah, hielt er nicht länger mit seinem tatsächlich ungewöhnlichen Nachahmungstalent zurück. Er konnte jeden Menschen, den er öfters beobachtet hatte, in seinen charakteristischen Zügen darstellen, und da naturgemäß darunter viele Leute von Rang oder Bedeutung waren, fesselte er Ferdinand und Melusinen sehr. Entdeckt wurde diese Gabe von den beiden, als er einmal wieder von Petersburg erzählte, und bei der Wiedergabe eines Gesprächs zwischen dem lauten Kaiser Wilhelm II. und dem mehr lispelnden Zaren unwillkürlich in beider Ton sprach, den er, wie Melusine mit Lachen bestätigen konnte, ausgezeichnet traf. Ja, Se. Heiligkeit den Papst Leo XIII. unterstand sich der Prinz nachzuahmen, und Ferdinand, der in der Jugend einmal einem Privatempfang im Vatikan beigewohnt hatte, erkannte ihn sofort an dem etwas näselnden, bisweilen ganz plötzlich abbrechenden, und dann wieder etwas leiser einsetzenden, leicht italianisierenden Französisch.

Nie hatte sich der Prinz so frei dieser Begabung überlassen können, denn in seiner Familie dachte man wie Philipp von Mazedonien, der bei einem Gastmahl den musizierenden Sohn Alexander fragte: Schämst Du Dich nicht, als Fürst so gut die Flöte zu blasen? In den gesellschaftlichen Verkehr des Prinzen aber stellte sich nur selten die nötige Intimität ein, die ihm erlaubt hätte, seine Talente so offen zu zeigen, wie in Sensburg. Hier nun gewöhnte er sich geradezu an, wenn er von anderen sprach, sie sich in direkter Rede auf ihre Art ausdrücken zu lassen, und als er sich eines Tages so weit vergaß, Erich Holthoff, seinen Wohltäter nachzuahmen, da erregte er Stürme von Heiterkeit. Obwohl dies wie immer ohne die geringste Bosheit geschehen war, bereute er es sofort, besonders, als er in dem nicht endenwollenden Lachen Melusinens, die ihn um Wiederholung bat, einen giftigen Ton zu vernehmen glaubte, der ihn etwas erschreckte. Er tat es niemals wieder, so oft auch von Erich die Rede war und Melusine ihn drängte.

Durch mehrere Wintermonate lag Sensburg tief verschneit. Schnee bedeckte die Talsohle, die niederen Bauernhäuser, das hochgeschweifte Dach des Herrenhauses und die schroffen Bergwände. Draußen in den Städten schossen Spartakisten von den Dächern und die durch vier Kriegsjahre niedergehaltene Lebensglut derer, die mit dem Tod gerungen, und der Schichten, die nun zum erstenmal die vermeintlich wahren Lebensgüter in Reichweite sahen, loderte in wilden rauchschwälenden Flammen auf. Indessen floß das Dasein der drei Menschen auf dem oberösterreichischen Landsitz friedlich, ja behaglich dahin, denn die Stunde ihres Schicksals war noch nicht gekommen.

Der Prinz hatte sofort herausgefühlt, daß sich zwischen Ferdinand und Melusinen zartere Fäden knüpften, als die sichtbaren, und pflegte sich daher abends nach dem Musizieren früh in seine Zimmer zurückzuziehen, falls man ihn nicht ganz besonders lebhaft zum Bleiben ermunterte. Ferdinand und Melusine saßen meist bis Mitternacht zusammen. Immer öfter forderten sie ihn indessen auf, noch etwas zu verweilen, denn tatsächlich hatten sie sich nicht mehr viel unter vier Augen zu sagen. Beide waren von dem nicht wieder ausgesprochenen Wunsch erfüllt, die Gegenwart möge unverändert andauern, und die freundliche Anwesenheit des Gastes schien dafür eine Gewähr zu bieten. Besonders Ferdinand, ein Genie im Aufschieben und Vermeiden von Entscheidungen, war immer froh, wenn für's erste alles blieb, wie es war, und so merkte er nicht, wenn die Dinge um ihn sich heimlich-unheimlich veränderten, oder wollte es nicht merken. Melusine schien sich ganz zu seiner Wu-wei-Lehre bekehrt zu haben, und als er gar den Prinzen in sie einweihte, war dieser ganz entzückt davon.

Nur wenn Erich im Flug einmal gegen Abend erschienen und am nächsten Tag davon gefahren war, kam es wieder zu lebhaften Gesprächen unter vier Augen zwischen Ferdinand und Melusinen. Mit einem Unterton von gereizter Rechthaberei, welcher der überlegenen und beherrschten Frau sonst wohl fremd war, wollte Melusine in allem, was Erich tat und sagte, etwas Absichtliches, von geheimen Motiven Eingegebenes, irgendwie Berechnetes sehen. Nun hatte er aber auch wirklich eine ganz unausstehliche Art gegen sie, was Ferdinand im Stillen über die Massen belustigte. Es war ganz offenbar, daß sie ihn durch kühne Behauptungen herauszufordern suchte, die unbedingt im Gegensatz zu seinen, und wie Ferdinand schmunzelnd feststellte, im Grund auch zu ihren eigenen Ansichten standen. Und was tat er? Er gab ihr in nachdenklichem Tone recht, ordnete aber das Gesagte so überraschend in einen weiteren Zusammenhang ein, daß es tatsächlich richtig wurde und Melusine immer wieder fühlen mußte, wie wohl er sie, wie wenig aber sie ihn übersah. Melusine war weder eine Freundin emanzipierter Frauen, noch losgelassener Jugend, und was gar die Revolution betraf, so hatte sie ja damit Erfahrungen am eigenen Leib gemacht. Dennoch geriet sie Erich gegenüber in einen solchen Radikalismus, daß Ferdinand sie einmal, leis erschreckt, eine heimliche Bolschewistin nannte. Darauf behauptete Erich in aller Seelenruhe, das seien wir alle. Natürlich wünsche ein jedes Wesen möglichst zwanglos zu leben, und wenn nun gar der Zwang mit sinnlosen Mitteln und von wenig achtungswürdigen Personen ausgeübt würde, wie es ja heute leider viele Regierende, Vorgesetzte, Lehrer, Reiche, Gatten, Väter usw. wären, dann sei Empörung die Folge, und so könne man es nur zu gut verstehen, daß selbst eine Frau wie Melusine die Partei alles Revolutionären ergreife. Aber das tat sie ja gar nicht, was glaubte er nur von ihr? Sie hatte Schwierigkeit, sich zu beherrschen. Schon als Künstlerin sei sie doch am Fortbestehen der Tradition und Kultur interessiert. Auch das billigte Erich. Hierin läge ja das Problem, wie man Wertvolles retten und zugleich unerträglich gewordenen Zwang lösen könne. Nun ärgerte sich Melusine darüber, wie einig sie waren.

Und doch fühlte sie, sie waren nicht einig, aber wo der Widerspruch lag, das fand sie nicht heraus. Oft drang sie daher in Ferdinand, er möge ihr Erichs Standpunkte näher erklären. In einer Frage war sie unbedingt freiheitlich-fortschrittlich gesinnt, in der Forderung des Frauenstudiums. Sie wußte zufällig, daß Erich in Harringen schon lange vor dem Krieg ein Hauptförderer gerade dieses Verlangens gewesen war. Dennoch wollte Melusinen aus gelegentlichen Bemerkungen scheinen, als betrachte er das Studium der Frauen skeptisch. Sie sagte ihm daher einmal auf den Kopf zu, er scheine heute zu bereuen, was er früher in dieser Sache getan hatte, aber das war nun ganz und gar nicht der Fall. Er lachte vielmehr, nannte sich einen Mann alten Stils, der nicht gerne sähe, wenn Frauen sich gegen das Frauenschicksal auflehnen und in dem Beruf etwas besseres erblicken als dieses, aber als Staatsmann hätte er nicht nach solchen privaten Gefühlen zu fragen, sondern nur ins Auge zu fassen, daß die Zahl der Frauen, denen ein Frauenschicksal wahrscheinlich versagt bliebe, heute so groß geworden war, daß man ihnen die Vorbereitung auf einen Ersatz nicht nur nicht weigern dürfe, sondern ihnen sogar anraten müsse.

»Aber Sie erwarten sich nichts davon?« fragte Melusine erregt.

»Für die persönliche Entwicklung der Frau doch,« erwiderte er; Bildung sei natürlich auch bei einer Frau immer besser, als Unbildung.

»Aber für die Wissenschaft, die Kunst und den Staat?«

Nein, für diese erwartete er sich offen gestanden nicht viel davon. Er meinte, die geistige Entwicklung der Menschheit würde nicht im mindesten verändert werden, wenn man alle wissenschaftlichen und künstlerischen Werke der Frauen ausstreiche, womit er übrigens gar nichts gegen deren gelegentlichen Wert gesagt haben wolle. Nur beginne das Schaffen der Frau immer erst dann, wenn ene geistige Richtung und neue Ausdrucksmittel von Männern gefunden sind. Es sei daher an sich nicht sehr wesentlich, aber es zu verhindern sähe er keinen Grund, zumal ja auch nur wenige Männer wesentliches schüfen.

»Aber es gibt doch geniale Frauen?« rief Melusine, und es klang fast wie ein Hilferuf. Nun aber behauptete Erich etwas, was sie manche Stunde Schlaf kosten sollte: »Was man bei Frauen genial nennt,« sagte er, »ist meist dämonisch.«

Sie drang in ihn, den genaueren Unterschied zu sagen. Er wehrte sich dagegen, hier eine philosophische Vorlesung zu halten, aber schließlich konnte er ihr, nachdem er so weit gegangen war, eine nähere Ausführung nicht verweigern. Nun, der Genius wurzele im Reich des Geistes und äußere sich individuell und emporführend, der Dämon wurzle im Reich der Natur und äußere sich gattungsmäßig, in die Breite, vermehrend. Auf diesem Widerspiel beruhe das Leben. Der Geist im Manne suche immer wieder den Dämon in der Frau, um nicht im Firnenschnee seiner individuellen Einsamkeit zu erstarren. Der Dämon in der Frau suche den Geist, um sich aus der Naturgebundenheit der Gattung individuell zu erlösen.

»Und dieses Geschäft besorgen nach Ihrer Meinung die Männer?« fragte Melusine spitz.

»Schlecht genug,« erwiderte er mit resigniertem Achselzucken, »und darum rast heute der Dämon ungehemmt durch die Zeit, und die Welt geht aus den Fugen.«

Dieses Wort nannte Ferdinand seherisch. Prinz Amadeus rief, das sei wie Religion. Melusine hatte zwar entfernt Ähnliches über Mann und Weib öfters gehört, aber dieses Mal fühlte sie sich zerschmettert. Sie war indessen viel zu klug, um rechthaberische Argumente einer leerlaufenden Logik auf den Sprecher loszulassen, sondern sagte loyal:

»Das ist mir allerdings so neu, daß ich darauf nicht gleich antworten kann, ich muß darüber nachdenken.«

Dies tat sie nun freilich mit bebendem Eifer, zugleich in einer so naiv-hilflosen Art, daß sie fast täglich Ferdinand mit Fragen in den Ohren lag, und nun sprachen sie davon wie zwei Kinder, die halb und halb hinter das Geheimnis der Zeugung gekommen sind, aber sich den Sachverhalt noch nicht recht zusammenreimen können. Ferdinand spielte die Rolle des älteren Brüderchens, das immerhin den Mut hat, gelegentlich einmal den Vater etwas direkt zu fragen. Einmal indessen sagte sie spöttisch:

»Wenn er diese Dinge so genau weiß, warum hat er dann keine Frau? Er scheint mir selber ... wie schön hat er das doch gesagt! – ›im Firnenschnee seiner individuellen Einsamkeit zu erstarren‹.«

Darauf wußte Ferdinand keine Antwort. Er schwieg betreten. Je mehr sich Melusine mit Erichs Ideen beschäftigte, desto heftiger wurde ihr Bedürfnis, an seiner Person Kritik zu üben. Mochte er in allem Recht haben, ein starker Denker sein, auf alle Fälle fehlte ihm Gefühl. Er war eine kalte, nur von sich selbst eingenommene Natur.

»Stellen Sie sich doch die Lage eines Mannes vor,« erwiderte darauf Ferdinand, »dem die Ereignisse in so glänzender Weise recht gegeben haben, und der zugleich diese selben Ereignisse, wie wir alle, beklagen muß. Wieder seinen Willen wird dadurch sein Selbstbewußtsein und seine Menschenverachtung gesteigert werden.«

»Ja, die Menschenverachtung,« sagte Melusine, »die merkt man ihm an.«

»Ihnen vielleicht nicht?« fragte Ferdinand mit einem listig lächelnden Blick über den seitlichen Rand seiner Hornbrille hinaus. »Wissen Sie übrigens einen bedeutenden Menschen außer den Heiligen, der nicht Menschenverächter wurde? Ja ich fürchte sogar, daß in dem Wort Christi am Kreuz: ›Herr vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun‹, ebensoviel Menschenverachtung wie Barmherzigkeit lag.«

»Lassen Sie mich überlegen,« erwiderte sie sinnend. »Vielleicht haben Sie recht. Ich bin wahrscheinlich nicht sehr bedeutend außer dem bißchen reproduzierender Kunst, aber eine gehörige Portion Menschenverachtung habe ich auch, das ist wahr, und darum bin ich so gerne bei Ihnen, denn Sie haben wirklich Ehrfurcht vor allem Menschlichen und Menschenliebe.« »Ja, das darf ich zugeben, ich liebe die Menschen, obwohl ich sie kenne, aber dafür bin ich auch selbst nichts. Der Prinz ist gewiß auch ein Menschenfreund, aber im Grund ist er ebenfalls nichts, und darum ist er so nett, und man muß ihn lieb haben. O, ich verstehe, daß man Erich nur schwer lieb gewinnt, sein Übergewicht ist erdrückend; was er sagt, ist oft so neu und eigenartig, daß es zum Widerspruch reizt, und hat man sich in einen solchen hineinverwickelt, dann findet sich nur der eine Ausweg: man läßt sich von ihm wieder heraushelfen und dann gibt man ihm recht, aber das ist für die meisten eine zu empfindliche Verletzung ihrer Eigenliebe. Kennen Sie nicht das Wort von Goethe, vor der Größe gäbe es nur eine Rettung, nämlich sie zu lieben? Nur wer Erichs Überlegenheit von vornherein als gegeben nimmt, vermag in seine einsame Intimität einzudringen, und da ist man überrascht, wie viel tiefe Menschlichkeit er besitzt, wie gerecht und ohne Falsch er ist.«

»Und Sie sind gar nichts neben ihm?« fragte Melusine ärgerlich, »wie Sie sich immer unterschätzen, Ferdinand.« Sie ergriff zärtlich seine Hand. »Sie können das, was mir als das Allerschwerste, ja das ganz Unmögliche, Unbegreifliche erscheint, Sie lieben wirklich Ihre Feinde.«

»Ich glaube, ich habe gar keine Feinde,« sagte Ferdinand erstaunt, während er die ihn die ganze Zeit umkreisende Katze Cora auf den Schoß nahm.

»Weil Sie sie nicht sehen, Liebe macht immer blind.«

Bei diesen Worten erschrak Ferdinand heftig, ohne zu wissen warum, ja, noch mehr erschrak er vor diesem Schrecken. Er sprang daher auf, als müsse er etwas Lautes tun, und plötzlich stand er mit hochgerötetem Gesicht vor Melusine, um seine Mundwinkel zuckte es, als beherrsche er eine tiefe Erregung, dann stampfte er mit dem Fuß und rief:

»Ich will nicht, daß Sie so von meinem Bruder denken!«

Melusine erschrak nun ihrerseits, als habe sie sich auf dünnem Eis zu weit vorgewagt, aber sie faßte sich schnell, stand auf und ergriff wieder Ferdinands Hand. Cora zog sich mit diskreter Gebärde zurück. Mit einschmeichelndem Lächeln sagte Melusine:

»Gedanken sind frei, lieber Freund, aber, wenn Sie wollen, brauchen wir nicht davon zu reden.«

Ferdinand drückte ihre Hand, küßte sie und erwiderte:

»Verzeihen Sie, ich bin zu heftig gewesen.«

In tiefer Unzufriedenheit mit sich selbst lag er in dieser Nacht noch lange wach, aber was war denn das auch für ein unbedachtes Gerede von Melusine gewesen, als sie zu verstehen gab, er liebe in Erich seinen Feind? Wenn er etwas in seinem Leben klar zu sehen glaubte, dann war es doch wohl sein Verhältnis zu dem Bruder. Ließ denn nicht seit der Kindheit jeder den andern in seiner Richtung mit Anerkennung gehen? Daß Erich den Prinzen seinem Schutz anbefohlen hatte, empfand Ferdinand als schmeichelhaften Vertrauensbeweis; daß der Prinz seinen Wirt immer lieber gewann, beobachtete Erich mit unverhehlter Freude ohne jede Eifersucht. Und doch, wie wohltuend war es für Ferdinand, daß Melusine zu ihm hielt, sich von keinem der beiden viel glänzenderen Männer bezaubern ließ. Er gab sich nun zu, daß er das doch ein wenig gefürchtet, daß ihn die nächtliche Ankunft der beiden zuerst etwas für das sich zwischen ihm und Melusine anspinnende Idyll hatte zittern lassen, daß er anfangs trotz aller Sympathie für den Prinzen ein wenig die Zähne zusammenbeißen mußte, um die sich ihm plötzlich auferlegende Pflicht zu erfüllen, die inzwischen eine wahre Freude geworden war.

Zu lächerlich wirklich, wie sich die kluge Melusine in eine Art Haß gegen Erich hineinsteigerte! Immerhin, nachfühlen konnte er es. Als Kind, ehe ihre beiden Sphären so klar in geistlich und weltlich geschieden waren, da hatte er, wie er sich nun seit einiger Zeit doch immer mehr erinnerte, auch flüchtige peinliche Wallungen gegen den bevorzugten Bruder gekannt, die vielleicht heftiger waren, als er sich jetzt noch entsinnen konnte. War das aber verwunderlich gegenüber dem Begabteren oder wenigstens Gewandteren, der ihm, dem Jüngeren, anfänglich Verwöhnteren allmählich immer mehr Liebe der Eltern, der Freunde des Hauses, der Dienstboten, ja der Hunde wegzufangen schien?

Nichts hatte Ferdinand – das fiel ihm jetzt wieder ein – mit widerspruchsvolleren Gefühlen des Schreckens, der heimlichen Empörung und gleichzeitigen Bewunderung wahrgenommen, als die Art, wie der heranwachsende Erich der Mutter gegenüber, die für Ferdinand einem unnahbaren Heiligenbild glich, den Ton des Vaters nachahmte. Mit leisem Humor behandelte er die kleinen Schwächen der kapriziösen, etwas zerfahrenen Frau, indem er ihr gerne diente, ohne aber ihre Launen im Einzelnen recht ernst zu nehmen. Schon mit zehn Jahren gab er Gutachten darüber ab, ob die Mutter bei zweifelhaftem Wetter ausgehen könne, und sie nannte ihn entzückt dafür ihren kleinen Kavalier. Bald begann sie mit dem Heranwachsenden wie mit einem Mann zu reden. Auch über das Betragen, ja die Erziehung Ferdinands, der sich bisweilen wortkarg und knurrig zeigte, wurde er manchmal befragt. Die Mutter erklärte enttäuscht, daß sie sich von ihrem jüngeren Buben »ganz und gar nicht verstanden fühle«. Darüber lächelte Erich und nahm eigentlich mehr die Partei Ferdinands, den er zur Geduld mit der erregbaren Frau mahnte, wenn diese seine Kindereien allzu tragisch nahm. Ferdinand warf ihm darum einmal Falschheit vor. Dann wieder hielt er sich an der oft überströmenden Zärtlichkeit der Mutter schadlos, bis diese ihn plötzlich in die Schranken wies, immer im Hinblick auf das Vorbild des Bruders.

Plötzlich grinste Ferdinand vor Behagen im einsamen Dunkel. Es fiel ihm ein, daß Erichs Ton gegen Melusine ganz derselbe war, den er einst der Mutter gegenüber gehabt, nur mit dem höchst bedeutsamen Unterschied, daß er hier seine Wirkung gänzlich verfehlte, daß Melusine durchaus auf seiner, Ferdinands Seite stand!

Womit gewann eigentlich Erich sonst stets das Übergewicht? Durch so eine gewisse selbstsichere Art, die alles von oben herab nahm, als sei ihm im Grund nicht viel daran gelegen, und durch noch etwas – plötzlich tauchte in Ferdinand eine uralte, unheimliche Erinnerung auf – durch die unwiderstehliche Magie eines nicht selten aus seinen Augen schießenden Blickes, vor dem sich Ferdinand einst mehr, als vor irgend etwas, was ihm je im Leben begegnet war, zu fürchten pflegte. Dessen hatte er undenkliche Zeiten hindurch nicht gedacht. War es vielleicht dieser Blick, gegen den sich Melusine wehrte, während er ihn heute längst nicht mehr sah? Aber noch mehr fiel Ferdinand nun ein. In einem Knabenbuch hatte er von dem alles bezwingenden Auge eines Indianerhäuptlings gelesen und damals sofort empfunden, Erichs Blick sei indianerhaft, ob er nun befehlend einen der Schulfreunde ansah oder in überlegener Großmut den unbeholfenen jüngeren Bruder ermutigte. Er hatte sich dieser Übermacht längst wie selbstverständlich untergeordnet, mit ihr sogar schließlich gemeinsame Sache gemacht, sie gestützt; so brauchte er sie nicht mehr zu fürchten, ja er fühlte sie gar nicht mehr. Auf Fremde wie Melusinen freilich mußte das ganz anders wirken. Aber was ging sie das als seine Freundin im Grunde an? Sah sie nicht, wie wohl er sich heute bei dieser Teilung der Macht in weltlich und geistlich fühlte, ja wie froh er war, daß er in der Welt nicht die beschwerliche Rolle Erichs zu spielen brauchte, sondern in der Stille leben durfte?

Mit einer gewissen Überlegenheit, wie man sie nach überstandener Gefahr fühlt, stellte Ferdinand nun fest, daß allerdings in seinem Verhältnis zu dem Bruder der Brennstoff zu einer glühenden Feindschaft lag – falls je ein Funke hineingefallen wäre – aber, wenn Erich auch etwas von einem Indianer zeigte, so war er, Ferdinand, oft mit einem friedliebenden Chinesen verglichen worden. Nirgends hatte er ja mehr Geistesverwandtschaft gespürt, als in China, und die chinesische Weisheit, welche die Gegensätze des Lebens weder verleugnet noch verwischt, noch zu stetem Kampf aufstachelt, sondern nebeneinander als Voraussetzung aller zeugenden Vereinigung bestehen läßt, ja pflegt, war ihm als die höchste Stufe je erreichten, Antike und Christentum weit überragenden Menschentums erschienen. So hatte der Gegensatz zum Bruder auch später nur ergänzend, nie feindselig wirken können. Kein Wunder, daß seine zuwartende Leisheit das zur Zeit noch wunde, im Grund sicher wilde Gemüt der nordischen Melusine so besänftigte, während Erichs ausgesprochenes, geformtes Wesen, das den Jugendfreunden »römisch« erschienen war, in ihr einen barbarischen Trotz wachrief, dessen Naivität freilich gegen seine Weltweisheit nicht aufkommen würde. Nicht ohne Genuß stellte sich Ferdinand diesen stillen Kampf zwischen ihnen vor, den er, der beide lieb hatte, mit dem Lächeln eines Buddha beobachten zu dürfen glaubte, und wenn es einmal not tue, beschwichtigen würde. Mit dieser angenehmen Aussicht schlief er dann endlich ein.


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