Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Viertes Kapitel.

»Der Nachtwind war rauh! Und welch ein dichter Nebel wieder auf der Erde liegt!« rief Bernhard und schüttelte sich. »Ich bin durch und durch so kalt wie eine Amphibie.« Mit diesen Worten sprang er von seinem Lager an dem fast erloschenen Feuer auf und schlug die Arme übereinander, sich zu erwärmen. »Ich glaube wohl, daß wir frieren mußten, wenn hier nichts mehr brennt und glüht als die drei verkohlten Klötze in der Asche! He, Ludwig! Rüttle dich auf; hörst du nicht den Trompeter?« Ludwig schlug, da der Freund ihn anfaßte, die Augen groß auf und blickte ihn fremd an. »Nun? Kennst du mich nicht?« fragte ihn Bernhard. »Du siehst ja aus, als wärest du aus einer andern Welt auf diese heruntergefallen!« – »Es ist auch fast so«, erwiderte Ludwig, der aus dem tiefen starren Schlaf, in den ihn, trotz der rauhen Nacht, die Übermüdung versenkt hatte, wieder zum Bewußtsein zu kommen begann. »In meinen Träumen sah ich andere Bilder als diese um mich her.« – »Mir hat von Mondkälbern, Klapperschlangen, Krokodilen, Kosaken, Hexen und Alraunen geträumt«, antwortete Bernhard. »Da war ich froh, daß der rauhe Wind mich wach schüttelte! Teufel, das ist eine Nacht gewesen! Der feuchte Nebel dringt einem ja bis in das Mark der Knochen hinein und macht es wässerig. Wenn wir nur erst wieder zu Pferde sitzen, wird uns schon besser werden.«

Ludwig hatte sich indessen aufgerafft und suchte gleichfalls die starr gewordenen Glieder durch starke Bewegung zu erwärmen. »Wo ist Rasinski?« fragte er.

»Er muß mit den andern schon längst auf sein. Ich erwachte erst durch den Trompetenstoß und von der Kälte an meiner linken Seite, wo Jaromir gelegen hat. Es ärgert mich eigentlich; aber sie sind doch des Soldatenlebens gewohnter als wir und tragen die Strapazen leichter. Willst du dich waschen? Hier ist noch Wasser im Kochgeschirr; du siehst etwas schwarz von Rauch aus, guter Freund. Frisch hinein mit dem Gesicht; es ist kalt, aber es erquickt. Übrigens brauchst du dir, um frisches Wasser zu haben, nur die Locken auszudrücken; sie hängen voll Nebeltropfen.«

Die beiden Freunde machten ihre Biwaks-Morgentoilette, so gut die Umstände es zuließen, und begaben sich dann zu ihren Pferden, wo schon die meisten ihrer Kameraden sich befanden und sie zum Marsch aufzäumten. Bald saßen sie auf und der Zug ging vorwärts. Es dämmerte noch kaum, und doch waren sie erst um Mitternacht zur Ruhe gekommen; denn die Märsche wurden, weil man täglich das Nachrücken der russischen Heere befürchtete, mit größter Eile und Anstrengung gemacht.

Man ritt, als es Tag wurde und der Nebel zu fallen anfing, in eine Senkung des Tales hinunter. Rasinski deutete mit dem Finger auf einige noch halb in Nebel, halb in Rauch gehüllte Giebel. »Das ist Mosaisk,« sprach er; »jetzt sind wir wieder auf unserm alten Wege. Wenn wir doch hierher mußten, wäre es besser gewesen, wir hätten gleich von Moskau diese Straße genommen. So haben wir acht volle Tage verloren! Nahe an Smolensk könnten wir schon sein.«– »Reiten wir durch das Nest?« fragte Bernhard. – »Nein,« erwiderte Rasinski; »wir nehmen unsern Weg hier links durch den Bach, denn dort unten stopft sich wieder alles. Es ist ein großer Vorteil für uns, daß wir in unserm Marsch nicht so bestimmten Befehlen folgen dürfen als die übrigen. Aber leider fängt schon jeder an, nur seine eigenen Vorteile wahrzunehmen; es wäre besser, man hielte strengere Ordnung. Doch ich fürchte, es wird nicht lange mehr möglich sein. Seht ihr, wie dort drüben die Artillerie schon die Anhöhe hinaufmarschiert? Die Kanonen bleiben fast stecken in den tiefen Wegen und haben doch schon die doppelte Zahl von Pferden vorgelegt.«

»Ich glaube, wir bekommen Frost,« bemerkte Ludwig; »die Luft wird so klar.« – »Das wäre so übel nicht,« meinte Bernhard, »denn in dem zähen Kot marschiert sich's verteufelt schlecht.« – »Wünscht euch den Winter nicht herbei, er wird uns zeitig genug ereilen!« erwiderte Rasinski ernst. »Jetzt ist unser Marsch mühselig, aber doch zu ertragen. In Rußland bleibt der Winter nicht an den Grenzen des Herbstes oder Frühlings stehen, sondern herrscht bald in seiner Kraft und Strenge; darum hütet euch, ihn heraufzubeschwören.« – »Ich glaube, er kommt ohne uns,« meinte Bernhard, »denn der Wind bläst uns aus Nordost in den Nacken, was freilich besser ist als gestern, wo er uns den feuchten Staubregen ins Gesicht jagte; aber ich wittere so etwas wie Schnee in der Luft.«

Unter diesen Gesprächen waren sie, von der Hauptstraße abbiegend, gegen den Bach im Tale heruntergekommen und durchritten ihn an einer seichten Stelle. Jenseit schlossen sie sich an die Artillerie an, welche, die Spitze des Zuges bildend, schon eine starke Strecke voraus war. Sie erreichten die Hochebene, auf der sich der Weg fortzieht. »Tausend, hier bläst der Wind schärfer,« rief Bernhard; »er dreht sich immer mehr nach Nordost.« Rasinski blickte mit seinem aufmerksamen Feldherrnauge über die Ebene hin. Sie bot fast gar keine Abwechslung dar, sondern dehnte sich in ungemessener Weite nach allen Seiten aus; kaum daß einige Hügel sich in leichter Krümmung über die reine Kreislinie des Horizonts erhoben. Nichts unterbrach das tote, trostlose Grau dieser Landschaft als die langen schwarzen Linien der Fichtenwälder, die sich am äußersten Rande der Fläche unter blauschwarzem Nebelgewölk entlang zogen. Selbst die unabsehbaren Reihen der Wagen und Kanonen und der sich geräuschvoll abarbeitenden Pferde und Artilleristen belebten die Öde nicht, sondern machten sie nur auffallender durch den Gegensatz. Die Sonne hatte einen Augenblick geleuchtet; doch schon bezog sich der Himmel wieder mit trübem Gewölke. »Heut scheint der Winter doch noch nicht Ernst zu machen,« sprach Ludwig nach einiger Zeit, »so rauh der Wind ist, und obgleich wir hier oben schon Spuren des Frostes sehen. Das reine Blau des Himmels ist schon fast ganz wieder verschwunden.« – »So, wieso? Durchs Paradies geht unser Marsch einmal nicht«, antwortete Bernhard.

Man marschierte einige Stunden vorwärts fast ohne zu sprechen; denn teils riß der Faden der Unterhaltung in dem täglichen, fast ungetrennten Beisammensein doch bisweilen ab, teils boten die Ereignisse wie die Gegenstände ringsumher nur zu unerfreulichen Bemerkungen Gelegenheit dar, die jeder lieber im stillen machte. Einige Infanteriekolonnen hatten nach und nach die wegen der Erschöpfung der Pferde langsam vorrückende Kavallerie und Artillerie eingeholt; die Infanterie marschierte dagegen, um sich zu erwärmen, und weil der Marsch überhaupt beschleunigt wurde, rascher als gewöhnlich. Man sah seltsame Trachten unter diesen Leuten. Von der Strenge einer Uniformierung war nichts mehr zu entdecken; jeder schützte sich so gut er konnte gegen Wind und Wetter. Vielen war es anzusehen, daß sie schon anfingen, die Beschwerden des Marsches mit Mühe zu ertragen.

Als Rasinski seinen aufmerksamen Blick über diese Leute hinlaufen ließ und aus ihrer Haltung Mutmaßungen für die Lage der Dinge im ganzen zu schöpfen suchte, bemerkte er einen Reiter darunter. Es schien ein höherer Offizier zu sein. Beide erkannten einander gleichzeitig; es war Regnard. »Aha, Rasinski, seid ihr's,« sprach er, indem er heranritt und ihm die Hand entgegenstreckte; »wie geht's euch?« – »Gut genug!« erwiderte dieser, der es sich zum Grundsatz gemacht hatte, immer den besten Mut zu zeigen, wo ihn seine Leute sehen oder hören konnten.

»Ihr seid genügsam; mir ist's schon besser gegangen. Ich habe ein entzündetes Auge; seit dem Brande von Moskau plage ich mich damit, und diese feuchten Herbstnächte haben das Übel nur noch schlimmer gemacht.« – »Es wird keine Gefahr haben; dergleichen geht mit der Veranlassung vorüber.« – »Zuweilen, ja; ungefähr wie der Hunger; dauert die Veranlassung aber etwas zu lange, so kommt die Heilung zu spät. Es könnte leicht sein, daß es mir ebenso ginge. Ich frage den Teufel danach,« fuhr er nach einigen Augenblicken fort; »man sieht hier mit einem Auge schon zuviel.« – »Wieso?« – »Seid ihr nicht durch Mosaisk gekommen?« – »Nein! ich nahm mit meinen Leuten einen Seitenweg.« – »Ihr habt nichts verloren! Das ganze Nest ist noch ein Lazarett. Dreitausend Verwundete liegen darin und werden wohl liegen bleiben. Mich schaudert, wenn ich an den Anblick denke. Seit sieben Wochen fristen sie ihr Leben unter Jammer und Qual! Sie sind halb verhungert, halb erfroren, denn die meisten liegen auf faulem Stroh, oft ohne Decken! Kaum daß man ihnen den alten Mantel gelassen hat. Ihre Wunden sind mit Werg gestopft, zumeist brandig und fressen am Knochen.«

»Sprecht leiser,« sprach Rasinski, »solche Schilderungen entmutigen die Leute.«

»Was braucht's der Schilderung? Sie haben das Elend selbst gesehen! Als wir durchmarschierten, streckten die, die sich noch rühren konnten, uns die Hände flehend aus den Fenstern entgegen und riefen: «Nehmt uns mit, laßt uns nicht hier umkommen!» Denn das Gerücht, daß wir zurückmarschieren, hatte sich wie ein Lauffeuer unter sie verbreitet. Bisher fristeten sie sich doch mit der Hoffnung in ihrem Elende; jetzt kommt die Verzweiflung zu dem Jammer. Sie heulten und wehklagten laut; einige verfluchten Himmel und Erde! Ein Dragoner – ich erkannte ihn am Mantel – dem beide Füße abgenommen waren, hatte sich mit den schlecht verbundenen Stumpfen bis an die Schwelle der Hütte, in der er lag, geschleppt, und das blasse Jammerbild winselte mir mit aufgehobenen Händen entgegen. Da kam der Kaiser vorbei; der Elende rief: «Sire, ich habe in Ägypten gedient, laß mich nicht hier verschmachten! Nach Frankreich, nach Frankreich – mein alter Vater!» Da versagte ihm die Stimme; der Kaiser befahl, ihn auf seinen eigenen Wagen zu legen und Sorge für ihn zu tragen. Ich selbst griff mit an, um ihn aufzuheben-, aber noch ehe wir ihn hinausschaffen konnten, hatte er schon den letzten Atemzug ausgehaucht« – »Wohl ihm!« – »Freilich! Doch denkt euch den Jammer und die Angst der Zurückbleibenden, wenn ein Sterbender, Elender diese Zukunft so gräßlich sieht, daß die Hoffnung, ihr zu entfliehen, ihm noch im letzten Augenblicke solche Kräfte leiht!«

»Und müssen sie denn zurückbleiben?« fragte Rasinski mit innerm Schauder. – »Könnt ihr sie fortschaffen, und können sie den Marsch aushalten ? Der Kaiser hat befohlen, daß jeder Bagage- oder Vorratswagen einen Mann aufnehmen soll; die, welche noch zu retten sind, will man zu retten versuchen. Die andern bleiben der Großmut des Feindes überlassen.« – »Großmut!« rief Rasinski bitter. – »Sie können von Glück sagen,« fuhr Regnard fort, indem er sich das Tuch über dem entzündeten Auge zurecht legte, »wenn sie dem Feinde nur bald in die Hände fallen. Bleibt er lange aus, so verhungert und verschmachtet, was zurückbleibt, auf die elendeste Weise; denn es sind ja lauter Leute, die sich nicht vom Lager rühren können. Aber was das wieder für ein Nebel ist!«

In der Tat hatten sich die Dünste wieder feucht und kalt rings auf den Feldern gelagert, so daß man kaum hundert Schritte vor sich sehen konnte. Mit jedem Augenblicke schienen sie sich zu verdichten; bald war der Gesichtskreis auf die allernächsten Gegenstände beschränkt. »Einen solchen Nebel habe ich kaum noch erlebt,« sprach Bernhard, »selbst in Schottland nicht; man sieht ja das zweite Kanon nicht mehr deutlich. Er kann aber nicht hoch sein, denn die Sonne über uns läßt sich doch noch als ein hellroter Mond erkennen.« Ein kalter Windstoß fuhr durch die in Kreisen langsam wirbelnden Dunstgebilde und jagte sie in grauen, langgedehnten Streifen über Feld. »Der Wind hat sich auch wieder gedreht; er ist Nordwest geworden«, sprach Ludwig, der aufmerksam den Zug des Nebels verfolgte. Die Reiter hüllten sich dichter in ihre Mäntel und ritten stumm nebeneinander hin, vorn Rasinski mit Regnard, dicht hinter ihnen Jaromir, Boleslaw, Ludwig, Bernhard.

Es war ein seltsam schauerlicher Augenblick; tiefes Schweigen ringsumher; nur das dumpfe Gerassel der Kanonen war entfernter zu hören, da der Nebel den Schall dämpfte und die Reiter gegen hundert Schritte auf der Seite des Weges ritten, um die Pferde nicht so tief in den ausgefahrenen Morast treten zu lassen. Einige kleine Unebenheiten des Bodens hatten Ludwig zufällig um kaum zwanzig bis dreißig Schritte rechts von den Freunden abgeführt. Plötzlich stolperte sein Pferd; er riß es am Zügel auf und beugte sich über, um den Gegenstand, über den es gefallen war, und den er, achtlos vor sich hinreitend, zuvor nicht wahrgenommen hatte, zu sehen. Es war ein halbverwester, halbnackter Leichnam; das von der Fäulnis und den Vögeln des Himmels in ein ekles Gemisch von Blut und Eiter verwandelte Antlitz starrte ihn gräßlich an. Ein unwillkürlicher Ausruf des Schreckens entfuhr ihm; sein Schauder mehrte sich, als er umherblickte und ganz nahe noch mehrere Leichen, schon halb Gerippe, in den tiefen Furchen des Ackers liegen sah. »Was gibt's?« fragte Bernhard, als er den Ruf hörte. – »Seht nur um euch!« rief Ludwig grausend. Alle waren in dem eintönigen Grau des Nebels hingeritten, ohne auf den Weg und Boden zu achten. Ein stärkerer Windstoß jagte in diesem Augenblick die Dünste etwas auseinander und verstattete einen Überblick von einigen hundert Schritten. »Wir sind hier auf dem Schlachtfelde!« rief Rasinski, und ein wunderbares Gemisch von Grauen, Ehrfurcht und mächtigen Erinnerungen ergriff ihn. – »Wahrhaftig! Ich hätte nicht geglaubt, daß wir schon so nahe wären«, stimmte Regnard ein und sah umher.

Mit schauerlicher Spannung ließen alle ihre Blicke über das öde, grausenvoll schweigende Feld des Todes hinschweifen, das sieben Wochen zuvor noch von dem unermeßlichen Getümmel des Völkerkampfes und dem tausendfachen Donner der Feuerschlünde erscholl. Wie in der Dämmerung das Auge anfangs nur einige Sterne und dann mit jeder Sekunde mehr erblickte, so daß es sich bald in die Unermeßlichkeit vertieft, so vervielfältigten sich dem Blick hier auf entsetzliche Weise die Leichname und andere Zeichen der Zerstörung, die man rings entdeckte. Indem der Nebel, vom Winde über die Steppe gejagt, sich langsam hinwegwälzte, schien er gleichsam den Vorhang von dem schaudervollen Gemälde zu ziehen. Allen versetzte sich der Atem in der Brust, als sich das gräßliche Chaos allmählich vor ihren Blicken entwirrte. Zuerst hatte man nur die nächsten Leichname, an die der Huf des Rosses stieß, erblickt; doch wie der Blick weiterschweifte, stieg die Anzahl schnell ins Unendliche; denn man erkannte bald, daß jede schwärzliche Erhöhung, die das Auge entdeckte, nicht ein Stein, ein Baumstamm oder Erdhaufen, sondern ein menschlicher Körper oder eine zusammengeschichtete Masse derselben war. Mit jedem Schritte weiter in diese nur mit Leichen bevölkerte Wüste wurde das Bild der Zerstörung gräßlicher und erschütternder. Der Wind trieb einen giftigen Pesthauch heran, der sogar die Pferde so anwiderte, daß sie, scheu zurückbebend, dem Reiter nicht gehorchen wollten, und nur mit sträubenden Mähnen und emporgerichteten Nüstern, als suchten sie reinere Luft zu atmen, dem Sporn gehorchten und vorwärtsschritten. Jetzt sah man einzelne Erhöhungen, wie Hünengräber, wo große Leichenhaufen getürmt und so leicht mit Erde bedeckt waren, daß Sturm und Regen die Hülle schon fast weggespült hatten. Aus dem grausen Gemisch der übereinander geschichteten Leichname ragten einzelne, die Gebeine zur Hälfte mit verwesendem Fleisch bedeckt, zur andern Hälfte nackt und weiß schimmernd, in schauderhaften Stellungen hervor. Dem war das Haupt, mit struppig blutigem Haar bedeckt, auf den Boden gesunken, und die Schenkel ragten unnatürlich aufwärts; ein anderer streckte einen Arm hoch hinaus, als habe er noch Leben und suche sich aus dem modernden Grabe heraufzuarbeiten. Einzelne Glieder, von den Raubvö« geln und Wölfen halb abgenagt, lagen umhergestreut. Grinsende Schädel mit leeren Augenhöhlen oder wüst umherhängendem, blutigem Haar starrten entsetz» lich von dem Boden empor. Zwischen diesen grausenden Überresten waren die kriegerischen Denkzeichen der Schlacht zerstreut; ihr Anblick belebte die erstarrende Brust wenigstens durch die Erinnerung an den großartigen Kampf, der hier getobt hatte. Zerschmetterte Lafetten, Räder, Trommeln, rostende Kugeln, die Trümmer zersplitterter Gewehre und Säbel, glänzende Helme und Harnische der Dragoner waren rings durch das Blachfeld zerstreut; die Stellen, wo die Kavallerie und Artillerie gefochten hatte, erkannte man im Augenblicke; sie waren mit bleich schimmernden Pferdegerippen, die noch im verdorrten Fleische steckten, aber weiß hervorglänzten, wo die Raben und Füchse sie abgenagt hatten, weithin bedeckt. Die Nebel rollten in langen Streifen über das Feld und enthüllten bald, bald verhüllten sie das Gefilde des Entsetzens. Doch verzogen sie sich mit jeder Sekunde mehr und mehr, und bald konnte man die Blicke ungehindert so weit senden, als die grausenhaften Zeichen der Verwüstung und des Todes zu erkennen waren.

»Dort! Seht ihr dort den Hügel?« rief Rasinski und deutete mit dem Finger auf eine unförmliche Masse, die eben aus dem Nebel hervorzuquellen schien. »Das ist jene furchtbare Redoute, wo wir so viele der Unserigen ließen. Jetzt erst finde ich mich wieder auf diesen Feldern des Ruhms und des Schreckens, wo dreißigtausend unserer Kameraden ihr Blut vergossen!« Sie ritten näher hinüber, um noch einmal die Stätte zu betreten, die sie mit so gewaltigen Erinnerungen erfüllen mußte. Niemand sprach, jeder trug das schweigende Grausen in der Brust. Wieviel entsetzenvoller war das Schlachtfeld jetzt als damals, wo der brüllende Donner das Ohr betäubte, der ganze Himmel in Dampf und Blitz gehüllt schien und das brausende Gespann des Todes zerschmetternd über die Gefallenen dahinrollte; denn damals zeigte es das schreckende Antlitz eines zürnenden Giganten, jetzt das schaudererregende eines verwesenden.

Als Rasinski und seine Freunde – denn das Regiment verfolgte die große Straße– näher an die Redoute kamen, vermochten die Pferde kaum zu treten vor den Leichnamen und Kugeln, die hier den Boden bedeckten. »Was mag das dort oben auf der Brustwehr sein?« fragte Rasinski, als man bis etwa auf fünfhundert Schritte an die Schanze heran war. –»Ich kann's nicht erkennen,« antwortete Regnard; »es gleicht einer durchbrochenen Pyramide.«– »Vielleicht aufgeschichtetes Holz«, meinte Ludwig. – »Wie sollte das dahin kommen?« entgegnete Bernhard, den Kopf schüttelnd. »Eine seltsame Form, wahrhaftig, die einen Maler in Verlegenheit setzen könnte!«

Sie ritten näher; die Sonne brach jetzt mit kräftigem Strahl durch das Gewölk und schlug die schwebenden Dünste nieder. Plötzlich beleuchtete sie die Redoute mit hellem Glanz, während ringsumher alles noch in düsterm Grau lag. »Es sind Gerippe!« rief Rasinski, der bei weitem das schärfste Auge hatte. »Seht ihr, wie die vom Sturm und Regen gebleichten Gebeine schimmern?« Mit grausendem Staunen sprengten die Reiter rascher heran. Es war, wie Rasinski es gesagt hatte. Von den im Innern der Schanze aufgehäuften Leichen ragten einige hoch über den Wall empor. Ein schauderhaft spielender Zufall hatte sie mit dem Rücken gegeneinander, in halb aufrechte Stellung gebracht. Der Luft, dem Regen, dem Sturm und den Raubtieren am meisten preisgegeben, waren die Knochen fast ganz vom Fleisch entblößt, und die scheußlichen Skelette schienen nun, auf dem Leichenthrone sitzend, mit grinsendem Triumph die Wüste der Verwesung ringsumher als ihr grausenvolles Reich zu überschauen.

Bei diesem Anblick überschlich selbst den kaltblütigen Regnard ein unheimliches, gespenstisches Grausen. Er zog die Augenbrauen finster zusammen und schüttelte sich, wie wenn ein Fieberfrost ihm durch das Mark schauerte. »Also das ist Caulaincourts Mausoleum?« sprach er endlich, da alle übrigen im starren Entsetzen schwiegen. »Kommt, laßt uns weiterreiten!« Er wandte sein Pferd.

Rasinski war wie an den Boden gefesselt; sein Auge hing unverwandt an dem Leichenhügel. »Und das alles umsonst!« sprach er endlich, aus tiefster Brust Atem holend. »Und wir hätten also die Schlacht doch verloren!« – »Verloren?« sagte Bernhard halblaut. – »Ja, ja, verloren! Es war ein Scheinsieg, ein heuchlerisches Trugbild des blutigen Triumphs! Darum kam an jenem düstern Abende keine Freude in unser Herz! O, ihr habt nie gesiegt; ihr wißt nicht, was ein Sieg heißt! Das fühlt sich anders in der Brust. Heute erst räumen wir das Schlachtfeld! Heute, nach sieben Wochen, entscheidet sich's, wer die Schlacht verlor! Nun denn,« sprach er, sich königlich in die Brust werfend, indem er mit der erhobenen Rechten nach den Gerippen deutete, »diese Leichenberge mögen wenigstens zeugen, daß Tapfere hier gefochten haben! Den Ruhm dieses Tages soll uns keine Macht des Weltalls rauben! Denn der Ruhm ist wahr; aber das Glück ist falsch

Ein edles Feuer flammte, da er diese Worte sprach, aus seinen dunkeln Augen; er warf das Haupt trotzig zurück und sprengte, ohne Teilnahme noch Zustimmung von seinen Gefährten zu erwarten, an ihnen vorbei, über die vermodernden Leichen dahin. Die Freunde merkten, daß er sich absondern wolle, und folgten ihm langsam nur von weitem. »Wahrlich, er sollte ein König sein!« rief Bernhard begeistert zu Ludwig; »hast du seinen Heldenblick gesehen? Wie er jetzt die Rechte ausstreckte, war mir, als vermöge er diesen Toten zu gebieten, sich aufzurichten und aufs neue die Waffen zu ergreifen.« – »Er ist ein Held im größten Sinne des Worts,« sprach Ludwig; »denn mit der mächtig beherrschenden Kraft vereint er die großmütige Milde, die ihm jedes Herz unterwirft. Er darf alles fordern und bittet um alles!« – »So ist's!« rief Jaromir lebhaft; es war seine erste rasche, jugendliche Aufwallung seit jenem Unglückstage. – »O, ihr solltet ihn in bessern Zeiten gekannt haben,« sprach Boleslaw; »aber schon seit wir Deutschland verließen, ist er nicht mehr, der er war. Er muß tiefen Gram in der Brust tragen, oder das Unheil, das er jetzt fürchtet, geahnt haben.« So hatte das männliche Emporrichten Rasinskis plötzlich die schaudervollen Eindrücke des Schlachtfeldes verscheucht und erhebendern Empfindungen Raum gegeben.

Regnard hatte sich zu Rasinski gesellt; beide erwarteten jetzt die übrigen. Um den Kolonnen wieder nachzukommen, setzten sie ihren Weg in beschleunigtem Schritte fort. Noch immer ging es über Leichen und Trümmer dahin. Ein tiefer Hohlweg kreuzte jetzt das Feld; derselbe, in dem sie damals am Abend nach der Schlacht auf den Lagerplatz zurückritten und den sie am nächsten Tage voll derjenigen fanden, die verwundet und verschmachtend hier Schutz gegen die rauhesten Angriffe des Nachtfrostes gesucht hatten. Auch hier lagen Gerippe und Leichname von Pferden und Menschen.

Plötzlich traf ein wimmernder Laut ihr Ohr. Alle stutzten und horchten auf; ein Grausen drang bei dem Gedanken in ihre Brust, daß noch ein vereineinzeltes, Leben unter der allgemeinen Verwesung verborgen sein könnte. Man sah sich rings um, doch ohne zu entdecken, woher die wehklagende Stimme kam. »Es muß dort aus der einspringenden Höhlung hinter uns sein!« rief Rasinski, warf das Pferd rasch herum und sprengte ebenso schnell in eine kleine, mit welkem Buschwerk halb verwachsene Schlucht, an deren Mündung die Reiter soeben vorübergekommen waren. »Heiliger Gott!« ertönte gleich darauf sein Ruf, indem er sich mit äußerster Hast vom Pferde warf. Die andern erkannten die Ursache nicht sogleich; doch Lippen und Wangen erbleichten ihnen, als sie jetzt einen Menschen in dem Bauche eines aufgeschlitzten Pferdes entdeckten, der aus dem grausen Lager seine Hände hilfeflehend dem herbeieilenden Rasinski entgegenstreckte. »Blendwerk der Hölle!« rief dieser und drückte sich beide Hände vors Gesicht – »es ist Petrowski!« Vom Entsetzen wie zermalmt bebten Ludwig, Bernhard, Boleslaw und Jaromir zusammen, als sie dieses Wort hörten und jetzt den unglückseligen Greis erkannten. Jaromir war der erste vom Pferde, um Rasinski bei dem Werke der Rettung Hilfe zu leisten. Dieser stand vor dem Elenden und hielt beide Hände desselben krampfhaft in den seinigen; er hatte das Gesicht von dem Sterbenden abwärts zu Jaromir gewendet. In seinen Zügen war eine krampfhafte Gewalt zu erkennen, den ungeheuern Schmerz nicht Herr über sich werden zu lassen; doch er mußte unterliegen. Tropfen des Angstschweißes standen auf der Stirn des Helden, große Tränen rollten über seine Wangen; er vermochte kein Wort zu sprechen. Die entsetzenvolle Plötzlichkeit dieser Begegnis hatte selbst ihm die Fassung geraubt.

»Du noch unter den Lebenden, alter, treuer Kamerad?« rief er endlich und lüftete dadurch die bedrängte Brust – »und ich suchte dich vergeblich unter den Toten!«

Der Greis, von Elend und Jammer abgezehrt, hatte doch noch eine Träne bei dieser letzten Freude. »Gott im Himmel! – Dank! –« waren die einzigen Worte, die er mit brechender Stimme zu stammeln vermochte. Die Angst seiner Qual hatte ihm noch die Kraft zum Hilferuf gelassen; die namenlose Freude raubte ihm jetzt Sprache und Besinnung. »Gott, Gott, bist du denn allwissend!« rief Rasinski. »Im schauderhaften Arme der Verwesung und des Todes lag dieser Lebende; seine Speise, was der hungerige Wolf, was der krächzende Rabe verschmäht; jeder Augenblick eine Hölle – und fünfzigmal ging deine Sonne überhin und sah den Jammer, und du sandtest ihm keine Rettung!«

Jaromir, Bernhard, Ludwig und Boleslaw waren herangeeilt und wollten den Versuch machen, den Unglücklichen aus seiner pestaushauchenden Lagerstatt emporzuheben. Doch schon starrte sein in die Höhle zurückgesunkenes Auge sie gebrochen und bewußtlos an; ein Lächeln schwebte über die vom unbegrenzten Elende tief eingefurchten Züge, er atmete noch einmal auf – dann sank ihm das Haupt auf die Brust, und die Seele war entflohen. Rasinski ließ die Hände des Toten nicht los; sein tränendunkler Blick heftete sich auf die erblaßten Züge, die selbst im Kampf der Qual und des Todes den kriegerischen Adel bewahrt hatten. »Seht diese schöne Stirn voll Narben, geschmückt mit silberner Locke? O, das war ein treues Soldatenherz! Und so fürchterlich zu enden!«

»Nein, er endete schön,« sprach Ludwig, dessen Seele sich mächtig zu dem Allgütigen erhob, der dem Gefolterten in der Stunde des Todes die liebsten Freunde wie durch ein Wunder in seine grauenvolle Einsamkeit sandte; »er starb schön! Sieh nur, wie seine Züge sich verklärt haben!«

Jaromir schwang sich plötzlich zu Pferde und sprengte rasch den Weg, den sie gekommen waren, zurück; man wußte nicht, was er beabsichtigte. »Wartet hier zwei Minuten,« rief er, »ich bin gleich zurück.« Still umstanden die Freunde den Gestorbenen. »Gebt mir eine Schere,« bat Rasinski, »ich will mir eine Locke zum Angedenken von seinem Haupte mitnehmen.« Bernhard reichte ihm aus seiner Brieftasche, was er verlangte. »Gönnst du mir zehn Minuten,« sprach er, »so zeichne ich den Kopf hier in meine Schreibtafel. Diese Züge fehle ich nicht.« – »Das Blatt soll mir heilig sein«, antwortete Rasinski und dankte dem Freunde durch einen Händedruck.

Während Bernhard zeichnete, kehrte Jaromir zurück. Er hatte zwei Spaten quer über dem Sattelknopf liegen. »Wir müssen unsern Kameraden begraben!« rief er von weitem; »es ist Gottes Geheiß, der uns in seiner Todesstunde zu ihm geschickt hat.« – »Woher hast du die Spaten?« fragte Rasinski verwundert; »gewiß hätte ich gleich an ein Begräbnis gedacht, wenn ich die Möglichkeit gesehen hätte, es zu veranstalten. Du bringst meiner Seele den schönsten Trost!« – »Ein Zufall ließ mich die Werkzeuge entdecken. Vorhin, als wir von der Redoute herunterkamen, sah ich in einer Vertiefung zwei zerschmetterte russische Lafetten liegen, an denen ich noch Haue und Spaten bemerkte. Das fiel mir jetzt ein, und da ich mir den Ort gemerkt hatte, eilte ich sie zu holen.«

»Gib her«, rief Rasinski und ergriff den einen Spaten. »Hier unter der jungen Fichte, die vielleicht einst ein Greis unter den Bäumen wird, wie der Tote einer unter den Helden, laßt uns ihn begraben!« Zugleich stach er selbst die erste Schaufel aus; Jaromir arbeitete rüstig mit. Eine Erdspalte, die nur etwas erweitert werden durfte, sollte das letzte Lager des alten Kriegers werden. Boleslaw und Ludwig hielten des Toten Haupt leicht empor, damit Bernhard zeichnen konnte. Eine Viertelstunde wurde diesem heiligen Liebesdienst gewidmet. Regnard blieb stummer, erschütterter Zeuge; er hielt es für eine Ehrenpflicht, dem Begräbnis eines so ergrauten Kameraden seine Gegenwart nicht zu verweigern.

»Ich bin fertig,« sprach Bernhard und reichte Rasinski das mit charakteristischen, festen Strichen entworfene Bild des Toten dar. »Wir sind es auch!« sprach dieser und nahm das Blatt. »Vortrefflich!« rief er, indem er es betrachtete. »Es ist ganz der alte, treue Kamerad; es ist seine ehrwürdige Stirn, seine mild im Tode lächelnde Lippe. Ich danke dir ein Kleinod, Bernhard!« Er drückte ihm bewegt die Hand. »Jetzt entnehmt ihn seinem schaudervollen Bette und legt ihn in die letzte, kühle, stille Wohnstätte. Du wirst einsam ruhen, alter Freund! Aber der Wolf soll doch deine Gruft nicht aufwühlen, der Rabe nicht dein treues Auge seinen Jungen zur Speise ins Nest tragen.«

Der Leichnam wurde hinabgesenkt; bald bedeckte ihn die kalte Erde. »Ruhe wohl«, sprach Rasinski und streckte den Arm segnend über die Gruft aus. »Der Wille des Allmächtigen sandte dir ein Maß der Qual, das die menschliche Brust nicht zu fassen vermag, vor der die eisernen Nerven eines Helden erbeben. Doch seine Gnade ist reicher als seine Strenge; dir wird vergolten werden. Du ruhest hier einsam, denn keiner deiner Brüder schläft neben dir, und fern ist die Heimat der Deinen. Aber am Tage der Auferstehung werden dreißigtausend Helden um dich her erwachen und du wirst mit ihnen im Triumph einziehen in die Pforten des Jenseits. Dein Grab können wir nicht schmücken! Der nächste Frühling muß es tun! Fluch der Axt, die diese junge Fichte berührt, welche uns noch in späten Jahren deine heilige Ruhestätte bezeichnen kann; doch Segen über den, der dieser Gruft ein Liebeszeichen weiht!« Hier verstummte er.

Bernhard rief: »Laßt uns dort den Stein auf die Gruft wälzen!« Wenige Schritte davon lag ein ansehnlicher Granit, der fast die Form eines Würfels hatte. Die kräftigen Jünglinge packten den schweren Block an und wälzten ihn glücklich bis auf die Grabstätte. Dann brachen sie grüne Zweige von der Fichte ab, steckten sie in die frisch aufgeworfene Erde, und Bernhard kratzte mit seinem Messer ein P in den Stein. »Jetzt die letzten kriegerischen Ehren«, sprach Boleslaw und holte seine Pistolen aus der Halfter; die andern taten ein Gleiches. Rasinski trat zum Kommando vor. Er zog den Säbel und kommandierte mit heiligem Ernst: »Schlagt hoch an! Feuer!« Die Schüsse fielen, die Rauchsäule stieg gerade empor und glänzte in einem flüchtigen Blick, den die Sonne durch das Gewölk warf. Doch von dem Knall aufgejagt, flatterten ringsum Scharen von Raben auf und flüchteten mit rauschendem Flügelschlag. Dreimal wurde dem Bestatteten der kriegerische Ehrengruß gebracht, dem auch Regnard sich nicht entzog. Dann setzten sie sich auf und ritten eilig, schweigend, zu den Ihrigen zurück, die sie an der Grenze der Feldmarken einholten, welche die Geschichte bis für die Söhne ferner Jahrtausende mit erschütternder Denkwürdigkeit bezeichnet hat.


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