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Neuntes Kapitel

Kitty schloß sich an niemand an, sie hatte ja ihre Sophie. Täglich ging die Mutter mit ihren Töchtern an die Luft. Die Läden boten, je näher Weihnachten kam, ein immer bunteres Bild. Das war alles neu für Kitty. Sie lernte bei jedem Ausgang. Begeistert war sie für das Theater und die Konzerte.

Weihnachten brachte ihr neue Sehnsucht, es war ja zum erstenmal, daß Fremde ihr die Lichter am Baum angezündet hatten. Aber Edith hatte eine große Kiste geschickt. Und was da obenauf gelegen hatte, das hatte sie an die Lippen gedrückt: heimatliche Tannenzweige!

Mit wie viel Liebe umgab man sie! Und sie hatte das alles stets für selbstverständlich hingenommen, als müsse es so sein! – Bisweilen fiel ihr der Blick ein, mit dem Edith sie angesehen hatte, als Kitty so lieblos gegen sie gewesen war. Dann stieg eine heiße Liebe und Sehnsucht in ihr auf, sie hätte an Ediths Hals fliegen und die treue Schwester küssen mögen. –

Papa schrieb jede Woche an seine »kleine Maus«. Liebe, nichts als Liebe ward ihr zu teil. –

Die Wochen gingen hin. Hier im ebenen Lande schmolz der Schnee, der ohnedies nie lange weiß blieb, eher, als in den heimatlichen Bergen. Hier bot man schon Himmelschlüssel an, und Edith schrieb, daß sie noch tief im Winter steckten.

Ostern hatte Papa mit Edith kommen wollen, aber der gestrenge Herr Direktor zeigte bei dem Plan, den Kitty mitteilte, keine große Freude. Für ihn hieß es: ein einmal gestecktes Ziel mit eisernem Fleiß verfolgen, sich durch nichts zerstreuen!

Kitty weinte nachts in ihrem Bett; oh, hätte sie sich doch nie so klug gedünkt! Da hätte kein Mensch daran gedacht, eine große Gelehrte aus ihr zu machen! Da konnte sie daheim bei Papa und Edith sein, konnte von Ostern an bloß noch Musik- und Literaturstunden nehmen und unter Ediths so sanfter Hand das Kochen erlernen! Aber nun hieß es: vorwärts! Wie mit unsichtbarer Hand schob man sie hier ihrem Ziel entgegen! Und für Papa war es ja ein so stolzes Gefühl, daß seine Jüngste zu den modernen Mädchen gehörte und studieren wollte.

Schon des geliebten Papas wegen mußte sie ausharren, wenn es noch so sehr gegen ihre Wünsche ging. – Ihr Trost war das Wiedersehen auf Ostern gewesen. Nun schien auch das wankend zu werden!

Kitty ahnte ja nichts von dem Briefe, den der Direktor an seinen Freund schrieb, daß er es für unumgänglich nötig halte, Kitty nähme ihre Kraft zusammen und meide alle Ablenkungen. Es ständen ihr zwei Prüfungen bevor, von denen die für das Gymnasium besonders schwer sei! Und er müsse ehrlich gestehn, daß Kitty mit ihren Arbeiten flüchtig zu Werke gehe und noch sehr viel nachzuholen habe. So wäre es besser, so hart es auch sei, der Besuch zu Ostern unterbliebe! Aber auf Pfingsten könne man sich gegenseitig vertrösten! Bis dahin sei Kitty eingelebt in ihr höheres Studium und dann täte ihr eine Pause ganz gut. –

Richtig, Papa schrieb kurz vor Ostern an Kittchen, daß es besser sei, sie komme Pfingsten! Er tat ein bißchen geheimnisvoll und meinte, er wolle ihr dann auch etwas recht Schönes sagen!

Kitty vergaß über allem Kummer diese Prophezeiung ganz und gar, ihr Hauptschmerz war, daß sie Ostern wieder allein war!

Oh, das war bitter!

Sophie merkte wohl ihrer Kitty Sorge, sie war deshalb doppelt gut mit ihr, brachte ihr Blumen, buk Torten und Kuchen auf Ostern.

Es war ja für Sophie ein Fest, sie war nun kein Schulmädchen mehr, sondern Mamas erwachsene Tochter!

Ach, wie nagte der Neid an Kittys Herzen! Sie hatte auch nicht die geringste Freude daran, noch mehr zu lernen! Ein Grauen überkam sie, wenn sie an die Zeit dachte, die vor ihr lag. Diese glückliche Sophie! Jetzt war sie frei! Die Töchterschule hatte sie durchgemacht, nun nahm sie Malstunden und Klavierunterricht, für beide Künste brachte sie Talent mit. Im Herbst sollte sie Schneidern lernen, bei Ida das Kochen. Mit Feuereifer und sichtlicher Lust und Liebe sprach Sophie von alle dem, was sie vorhatte, ahnungslos, daß sie ihrer geliebten Kitty mit solchen Worten unendlich weh tat!

»Dich hat Papa bei dem Fräulein Doktor, das dem Gymnasium vorsteht, angemeldet, Kittchen,« so plauderte Sophie.

Kitty schwieg. So schwer war ihr noch nie ums Herz gewesen. Ach, wenn sie doch den Mut fände, Papa zu schreiben:

Laß mich zu Euch kommen! Ich will alles tun, fleißig und artig sein! Nur nicht Jura studieren! –

Aber sie wußte es schon, den Mut fand sie nicht! –

Tante Melitta schrieb, wie sie sich alle freuten auf Pfingsten!

Ännes Vater war gestorben. Wie gern wäre Kitty, die ernster und gereifter geworden war, in diesen schweren Tagen an Ännes Seite gewesen! – Nichts, nichts ward aus all ihren Träumen! Es hieß lernen, studieren, geprüft werden ….

Sophie packte ihre Schulbücher fort. Sie tat es nicht in übermütiger Lust, sondern ruhig. Kitty stand dabei.

»Es ist ein Markstein im Leben,« sagte Sophie, »ein Paradies schließt sich hinter einem, das ist sicher! Nun kommen andre Pflichten, kommt ein neues Leben! – Ja, die Sprachhefte brauche ich noch, ich soll Französisch und Englisch weitertreiben, wünscht Papa. Er hat ja recht, schade, wenn man so viel von dem vergißt, was man erst mühsam in sich aufgestapelt hat!«

Sie holte ein dickes, unbeschriebenes Buch, legte es auf ihr Schreibtischchen und sagte: »Hier, da hinein schreib' ich alle meine Rezepte! Mama soll bald spüren, daß sie eine erwachsene Tochter hat! Die arme, leidende Mama soll es gut haben! Sechzehn Jahre hat sie für mich gesorgt, nun will ich mal für sie sorgen!«

Kitty staunte oft über das Edle in Sophies Denken. So hatte sie nie gedacht! Es war ja für sie selbstverständlich gewesen, daß Edith den Haushalt übernahm! Wenn diese nun irgend ein besonderes Talent gehabt hätte, wahrlich, sie hätte still verzichten müssen! –

Die Osterferien brachten für Kitty, welche eben erst in der Töchterschule geprüft worden war, eine neue Prüfung. Fräulein Dr. phil., die mit dem Herrn Direktor befreundet war, kam, ließ sich die neue Schülerin vorführen und flößte dieser einen gewaltigen Schrecken und Respekt ein.

Ach, du liebe Zeit! dachte Kitty, das wird noch viel schlimmer, das halt' ich nicht aus!

Sie wurde befragt, erntete kein Lob, aber Tadel. Sehr viel Nachhilfestunden sollte sie nehmen, dann wolle man es versuchen, sie in die 3. Klasse des Mädchengymnasiums aufzunehmen. Dann hieße es aber, drei Jahre sehr ernst arbeiten!

Kitty wäre am liebsten zum Fenster hinausgehüpft, so graute ihr vor dem neuen Lernen.

Finster blickte sie vor sich nieder. Wo war der Ehrgeiz hin, mit dem sie sich stets so gebrüstet hatte? Nichts war's mit ihr gewesen! Sie war nicht im entferntesten so begabt, so strebsam, wie man sein muß, wenn man studieren, sich den Hörerinnen an der Universität einreihen will! –

Bald nach Ostern war's, der Frühling zog ins Land, Kitty besuchte schon einige Wochen lang zähneknirschend das Gymnasium, da kam ein Doppelbrief von Papa.

Etwas Gedrucktes fiel heraus, ein paar Zeilen dazu. Sie lauteten:

»Mein Puttchen!

Na, Puttchen, was sagst Du zu unsrer Edith? Hättest Du das hinter dem stillen, bescheidenen Schwesterchen gesucht? Bin natürlich sehr stolz auf meine Älteste! Und dabei Ediths stilles, bescheidenes Schaffen im Hause! Ach, Mamachen hätte das Glück noch erleben sollen! Nun schreib Deiner Edith einen schönen Brief! Pfingsten haben wir Dich, mein Putt, die Freude aber!

Dein treuer Vater.«

Kitty hob das Blatt auf, das zu Boden gefallen war. Es waren Blätter aus einer berühmten Wochenschrift. Befremdet nahm Kitty dieselben zur Hand. Was war nur damit? Da las sie die Überschrift einer längeren Erzählung, die Papa blau umrändert hatte:

» Sein Mütterchen

Novelle von E. Wagemann.

 

Blaß, ganz starr saß Kitty da. Papa hatte das E. ergänzt zu Edith. – Kein Zweifel, das hatte ihre Schwester geschrieben!

Eine grenzenlose Beschämung ging durch Kittys Herz und färbte ihre Wangen mit dunklem Rot. Wie stolz hatte sie stets von sich gedacht, wie gering von Edith! Diese schien ihr gerade gut genug, um die häuslichen Arbeiten zu besorgen, während sie, die große Kitty, sich zu viel Höherem berufen fühlte! Oh, wie hoch stand jetzt Edith im Geiste vor ihr! Sie, die stille, emsig schaffende, jederzeit hilfsbereite Edith, welche in stiller Nacht an ihrem Schreibtischchen saß und eine herrliche Kunst betrieb, zu der sie Talent hatte!

Kitty schlug die Hände vor das Gesicht und weinte bitterlich. Umgekehrt hätte es sein müssen! Kitty, die nicht begabt war, die mußte das tun, was ihr mit der Zeit innige Freude und Befriedigung bereitet hätte: sich im Haushalten ausbilden! Und Edith mußte nur so viel dabei leisten, als sie Zeit und Lust hatte; das übrige war Kittys Pflicht, und Edith lebte ihren herrlichen Beruf.

Sophie kam, ein blaues Kochschürzchen um.

Sie war gleich Kitty sprachlos, als sie von dieser aufgeklärt wurde und voller Bewunderung für Edith. Sie nahm deren Bild in die Hand und betrachtete es lange.

»Oh, hast du eine liebe Schwester!« sagte sie. Kitty fühlte eine brennende Sehnsucht nach Edith. Sie hätte sich an diese schmiegen mögen und bitten, ganz leise:

Verzeih' mir meinen Unverstand, du stehst so viel höher als ich! –

Sophie ging wieder an ihre Pflichten, Kitty las die kleine, gemütvolle Novelle von Edith Wagemann, lachte und weinte vor Freude und schrieb dann einen glückseligen Brief voll Stolz und Liebe an ihre Edith.

Direktors zeigten das größte Interesse an Edith und Kittchen zählte bei Tisch, während sie Sophies delikate Suppe aß, die Tage, die sie noch von Pfingsten trennten. Noch achtzehn! Oh, das war gar nicht mehr so lange! –

Kitty war schmäler geworben. Das viele Lernen griff sie sichtlich an. Dabei zehrte ein immerwährendes Heimweh an ihr, besonders jetzt, wo der Frühling alles mit neuer Pracht schmückte. Sie überraschte sich selbst oft, wie sie versunken in ihre Gedanken da saß! Da war sie daheim gewesen! Schnell raffte sie sich auf und arbeitete weiter, oft mit schmerzendem Kopf. Sie war der großen Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, weder geistig noch körperlich gewachsen! –

Wie erholte sich Sophie vom langen Stillsitzen in der Schule! Wie schaffte sie vom Morgen bis zum Abend! Mama konnte getrost schon jetzt viele Pflichten auf die jungen Schultern ihrer Tochter legen!

Idas Heiratsaussichten gestalteten sich immer besser; schon hieß es, daß sie im Spätsommer heiraten wollte! Bis dahin hatte Sophie noch viel zu lernen!

Kam Kitty müde aus dem Gymnasium nach Hause, eilte ein hüpfender Schritt den Vorsaal entlang. Es war Sophie, die ihrem Kittchen öffnete, ihr schnell die Schulmappe abnahm und ihr sagte:

»Heute hab' ich für dich wieder einen Nachtisch gemacht, Muttchen will es so!«

Müde nickte Kitty. –

Sophie spielte gut Klavier, kopierte Landschaften in Ölfarben, verfertigte allerhand kunstvolle Handarbeiten, war einem französischen Kränzchen beigetreten, las englische Erzählungen und füllte ihre Zeit nützlich aus.

Und dabei war, seit Kitty da war, etwas Sonniges, Heiteres über Sophie ausgebreitet, sie lachte oft so glücklich auf, malte sich mit Kitty die Sommerferien aus, die sie beide auf dem alten Schloß verleben wollten. Direktors wollten nach den Alpen und hatten gern den Bitten der beiden Mädchen nachgegeben, sie miteinander nach der schönen Thüringer Heimat Kittchens ziehen zu lassen. Das war ein Freudenschimmer für Kitty gewesen! Wie benützten seitdem die beiden Mädchen jede Musestunde, sich den Aufenthalt auf dem Schlosse auszumalen! Mit Änne wollte Kitty ihr Sophiechen bekannt machen, die paßte zu ihr, die Friedel war zu wild. Bei solchen Gedanken errötete Kitty, sie war ja auch vor nicht so langer Zeit so gewesen!

Kein Mensch hätte es gewagt, diesmal Kittys Reisepläne zu Wasser werden zu lassen! Sie war ja zu glücklich, die Kitty! Zehn Tage vor ihrer Reise stand bereits die Handtasche bereit, die sie mitnehmen wollte. Sie packte ein, sie packte aus, jeden Tag dieselbe Sache!

Sie kaufte allerhand ein zum Mitbringen für Papa und Edith und Minna. Letztere hatte ihr auch öfters geschrieben, ihr letzter Brief aber strömte bloß über von Freude. Kitty hatte ihn aufgehoben, er lautete:

»Liebes Kittychen! Das Du kommst is die gröste Freide meines Lebens, Kittychen! Gib mich allens, was Du verrissen hast, ich stopfe 's Dich! Und ich koche allens, was Du wilst und sing Dich all Abends in den Schlaf! Mein Stimm is noch nich schlecht! Und ich grieße Dich ville tausend Mal als Deine Minna.« –

Von den jungen Damen im Gymnasium war Kitty die einzige, welche nach Hause fuhr. Fräulein Doktor sagte, Kitty solle die Ferien lieber zur Arbeit benützen, aber Kitty wäre auf diesen Wunsch um alles in der Welt nicht eingegangen. –

Sophie hatte ihrer Freundin zum Geburtstag – denn Kitty war längst sechzehn Jahre alt – ein Reise-Necessaire gestickt. Das füllte Kitty bereits drei Tage zuvor und benützte es, als ob sie bereits auf Reisen wäre.

Edith schrieb, sie habe alle Hände voll zu tun. Kitty werde auch den lieben, alten Herrn Geheimrat antreffen.

Erst war Kitty davon nicht angenehm berührt, ihre alte Eigenliebe, selbst Nr. 1 zu sein, rührte sich. Aber schnell dämpfte sie diese, sagte sich, daß alle, die Papa und Edith liebten, auch von ihr mit Freundlichkeit behandelt werden müßten. Und dieser kleine Sieg über sich selbst tat ihr wohl, sie freute sich auf den alten Herrn, der damals so lieb gewesen war. Ach, wenn er ahnte, wie die Flügel zusammengeschrumpft waren! –

Es war ein Freitag. Zum letztenmal ging Kitty ins Gymnasium, morgen früh, um sechs Uhr ging es fort, der über alles geliebten Heimat zu.


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