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Erstes Kapitel

Zeig' mal her, Kitty, dein Zeugnis!«

So rief Papa Wagemann in den Garten hinaus, durch den die jüngere seiner beiden Töchter soeben kam.

Sie bückte sich schnell, so daß die zwei dicken, schwarzen Haarflechten vorfielen, und machte sich am Buchsbaum zu schaffen, mit dem die Beete eingefaßt waren.

Nein, ihr Zeugnis zeigte sie dem Papa ganz gewiß nicht, hatte sie doch im Betragen die 4 und obendrein den Tadel: »neigt zu vorlautem Wesen.«

Das war stark! Fräulein Richter, die Vorsteherin der Privatschule, war einfach ungerecht!

»Nun?« fragte der Justizrat seine Jüngste, die ein erstaunliches Interesse für den Buchsbaum zeigte.

»Gleich, Papa!«

Kitty lachte lustig auf, sie hatte einen guten Einfall gehabt. Oh, sie war ja überhaupt nicht auf den Kopf gefallen, das wußte sie genau, das hatte Papa ihr ja oft gesagt. Sie war sein Stolz, seine Kitty! –

Wagemanns bewohnten ein altes Schloß, in dessen oberen Räumen das Amtsgericht untergebracht war. Im ersten Stock lag die Wohnung des jeweiligen Amtsrichters, und die Vorderfront enthielt große, saalartige Zimmer, die für den bisweilen hier absteigenden Fürsten und sein Gefolge reserviert waren.

Das Schloß lag am Markt. Eine Freitreppe führte zu der mächtigen Haustüre. Öffnete man diese, füllte tiefer Glockenton das Haus. Kühl und in vornehmer Ruhe lag das Treppenhaus, Galerien zu beiden Seiten, hinter denen die Zimmer des Erdgeschosses lagen.

Wie die Fürstenkinder selber waren die beiden Töchter Wagemanns hier aufgewachsen; er selbst war seit fünf Jahren Witwer; vor kurzem erst war er Justizrat geworden. –

Kitty liebte es, die kleine Pforte zu wählen, die am Brunnen vorbei in den Garten führte.

Es war ein lauschiger, wenig gepflegter Garten, der hinter dem alten, grauen Bau lag und von Mauern umgeben war. Ein Rasenplatz, auf dem die Wäsche gebleicht wurde, einige Beete, auf denen einzelne Rosenstämme standen, eine Esche, die ihre Zweige über Tisch und Bank hing und so ein trautes Plätzchen schuf, in einer Ecke nahe der Mauer Beete, die Gemüse und Suppenkräuter lieferten, das war alles.

Kitty diente der Garten bloß zum Tummelplatz für ihre langen Gliedmaßen. Hier konnte sie turnen, springen, sich der Länge lang ins Gras legen, – niemand wehrte es ihr. –

Jetzt trat sie durch die kleine, hintere Türe in das Treppenhaus ein und ging mit ihrem Zeugnis in der Hand sofort zu Papa.

Die Flurtüre, die zur Wagemannschen Wohnung führte, stand offen. Sicher war Minna, das Mädchen, im Keller.

Kitty hob das Näschen und schnupperte. Es roch gut, nach Gänsebraten, den aß sie gern. Sicher hatte man den ihr zu Ehren gemacht! Und dabei die 4 im Betragen! Jammervoll! –

Zur Rechten des langen Korridors lagen die Zimmer; an der linken Seite befanden sich viele Fenster, welche die Aussicht in den Garten boten; am Ende lag die Küche.

Kitty trat ins Wohnzimmer ein, wo Papa an seinem Schreibtisch saß und eifrig las. Er hatte wohl das Schulzeugnis seiner Tochter längst vergessen.

Da setzte diese sich möglichst weit von ihrem Papa entfernt auf einen Schemel und entfaltete das Zeugnis.

»Du, Väterchen, paß mal auf, bitte, ich lese dir einfach die Sache vor!«

Mit schlauem Gesicht lächelte sie zu Papa hin, der aus der Zeitung aufsah.

Schnell las Kitty die einzelnen Zensuren vor. Brillant klang alles:

Religion I.

Deutsch I.

Rechnen II.

Geographie IIa u. s. w.

Daß vom »Betragen« weiter nicht gesprochen wurde, versteht sich von selbst.

»Fein, mein Töchterchen!« lobte der Justizrat, »Edith hatte solche Zeugnisse selten aufzuweisen!«

Kitty machte ein hochmütiges Gesicht. Natürlich, sie war viel geweckter als ihre ältere Schwester, überhaupt –

Sie kicherte, sie hatte Papa angeführt.

»Ich kann's gleich unterschreiben!« meinte dieser.

»Oh, das hat Zeit!« rief Kitty, »erst essen, Pa'chen, ich habe tüchtigen Hunger!«

»Meinetwegen, Maus!« –

Kitty lief mit ihrem Zeugnis fort. Oh, das wurde erst in der letzten Minute unterschrieben, so daß Papa gar nicht die Zeit erst fand, die böse Bemerkung über das »vorlaute Wesen« in demselben zu sehen. –

»Geh und hilf Edith!« befahl der Justizrat noch, als er seine Jüngste gehn sah. Sie tat, als hätte sie nicht gehört.

Helfen, in der Küche? Nie! Das stand bombenfest, daß Kitty Wagemann niemals einen Kochtopf anfaßte! Die war zu Höherem geboren! –

Kitty trat in ihr Stübchen. Mit einem beobachtenden Blick überflog sie es. Ja, es war sein, machte einen durchaus modernen Eindruck!

Stilvoll war alles! Kitty las in allen Zeitungen herum und hatte sich zum Teil mit eignen Händen ihr Stübchen hergerichtet.

Da es keine Aussicht bot, – gegenüber standen sehr dicht Häuser –, hatte Kitty sich zartgrüne Gardinen an das Fenster gemacht.

Ihr Schreibtischchen stand schräg in der Ecke am Fenster. Hochmodern sah es aus mit seinen Bildern, seinen schmalen, hohen Blumengläsern, in denen die letzten Rosen des Jahres blühten.

Papa schenkte seiner Kitty alles, was sie sich nur wünschte. Einen Leuchter in Form einer Lilie hatte sie dastehn.

Bilder, die Kitty imponierten, weil sie dieselben gar nicht verstand, hing sie an die Wände ihres Stübchens. Mit geschickten Händen nähte sie sich Kissen, die mit großblumigen Stoffen bezogen waren und das zierliche Sofa, die zwei Sessel schmückten.

Über diesem Sofa hing ein Bild von Kittys Mutter. Edith sorgte dafür, daß stets ein frischer Kranz, sei es auch nur Tannengrün, sich um dieses Bild schlang.

Für die Ordnung in Kittys Stübchen sorgte ebenfalls Edith, denn erstere konnte sich nicht entschließen, einmal selbst das Staubtuch in die Hand zu nehmen. Sie brachte nur fast täglich irgend etwas Neues, das sie aufstapelte.

»Kitty!« rief eine sanfte Mädchenstimme.

»Aha, jetzt geht es an den Gänsebraten!« sagte das junge Mädchen, sich träge vom Sofaeckchen erhebend.

Drinnen im Wohnzimmer saßen sie schon bei Tisch, warteten nur auf Kitty, die das Gebet sprach. Sie dachte sich gar nichts bei den Worten, die sie da hersagte, sondern empfand ein beruhigendes Gefühl, daß Papa nichts von der 4 in ihrem Zeugnis wußte. –

»Komm, Kleinchen!« sagte Edith mit mütterlicher Zärtlichkeit, »komm, iß, alles dir zu Ehren hergerichtet! Hast du dir für den Nachmittag jemand eingeladen, Maus? Hole dir doch Änne und Friedchen! Ich habe allerlei Leckeres für euch bereit, und es ist doch gemütlicher, wenn ihr beisammen seid!«

»Gute Edith!« lobte der Justizrat. – Seit seine Älteste dem Hauswesen vorstand, war wieder Ruhe und Frieden eingekehrt. An jene schönen Zeiten erinnerte ihn Ediths sanftes Walten im Hause, wo seine Frau noch bei ihm war. Edith war so ganz die Mutter, auch äußerlich. Groß und schlank, ein feines Köpfchen, über der hohen Stirn wie ein Diadem aschblonde Flechten. Ruhig, manchmal wie weltverloren, blickten die grauen Augen.

Edith war nie müßig. Sie hatte schon als ganz kleines Mädchen den Kehrbesen genommen und Ordnung um sich geschafft. Deshalb war es ihr auch ein Schmerz, daß Kittchen so wenig ordentlich war. Sie meinte, im Innern eines solchen Menschen, der keine Harmonie um sich verbreitete, keine Ordnung, könne es unmöglich gut aussehen. Da müsse ein ähnliches Durcheinander herrschen, wie äußerlich in seiner Umgebung. Edith hatte aber alle Hoffnung, daß ihr Schwesterchen noch ein verständiges Mädchen werden würde.

Vorläufig sollte sie ihre Kindheit genießen, entbehrte sie, die Kitty, doch am meisten durch den frühen Tod der Mutter. –

So wurde Kitty das schönste Stück vom Gänsebraten hingelegt, Vater und Edith überboten sich, dem Kinde auf jede Art Freude zu machen.

Die Herbstferien sollte sie recht genießen, noch bot der Wald mit seinem Grün einen entzückenden Aufenthalt.

Kitty fühlte sich, sie wußte genau, es drehte sich im Hause alles um sie! Seit jenem schrecklichen Tage, wo man Mama, die liebe, zärtliche Mama, vorn in einem der fürstlichen Säle aufgebahrt hatte, war Kittchen der Gegenstand allseitiger Fürsorge geworden. –

Kitty freilich nahm all diese Liebe als selbstverständlich hin. Es fiel ihr nie ein, sich zu bedanken. Daß Edith den Haushalt übernahm, verstand sich von selbst. Und hätte sie die größte Lust verspürt, sich in irgend einem Beruf auszubilden, niemand hätte ihre Bitten erfüllt. Es war Ediths Pflicht, Mutters Stelle im Hause zu vertreten, sobald sie sich reif dazu fühlte.

Still, sanft, jeden Wunsch den Ihrigen an den Augen ablesend, schaltete die große Schwester. –

»Ich hole mir Änne und Friedel!« rief Kitty, vom Essen aufstehend. Ihre Serviette zu falten und in den Ring zu stecken, auf dem ihr Name stand, fiel Kitty nicht ein. Das konnte Edith besorgen, wozu war denn die da!

»Aber seid nicht zu laut, Kittchen,« rief Edith der mit fliegenden Zöpfen Davonstürmenden noch nach; »du weißt, Papa hält seine so nötige Mittagsruhe!«

»Ach!« antwortete Kitty geringschätzend; Edith war auch zu ängstlich.

Daß ihre Schwester liebevoll auf das Wohl jedes einzelnen bedacht war, kam ihr nicht in den Sinn.

Mit lautem Getrappe ging es die Treppe hinunter, die Klingel schmetterte durch das Haus, Kitty hüpfte die Freitreppe hinab.

»Du, nimm dies Tuch um!« rief es von oben, und schon flog ein Schaltuch herab, das die fürsorgliche Edith herunterwarf.

»Aber es ist ja gar nicht kalt!« antwortete Kitty und legte das Tuch auf den schmutzigen, grün angestrichenen Tisch, der dicht an den Fenstern in einem der kleinen Vorgärtchen stand.

Fort stürmte Kitty, über den Markt in eine der Seitenstraßen hinein.

Edith blieb nichts andres übrig, als ihr Tuch wieder zu holen. Kopfschüttelnd tat sie dies. Oh, Kittchen war doch zu unartig! Wenn sie sich bei dem kühlen Herbstwetter erkältete! Hatte Tante Melitta doch recht, die behauptete, Kitty würde viel zu sehr verzogen und müsse einmal ein Jahr in fremde Hände, damit sie einsehen lerne, wieviel des Guten sie daheim genösse?

Edith trug das Tuch in Kittys Stübchen. Da gab es sicher wieder aufzuräumen! Richtig, da lagen die Schulbücher auf dem Sofa, statt auf dem Schreibtisch! Dieser war bedeckt mit Puppenkram. Kitty »puppelte« nämlich noch mit Leidenschaft. Da lag ein halbes Dutzend Puppen in allen Größen, Kleider, die Kitty sehr geschickt selbst nähte, Hütchen, die sie garnierte, Jäckchen u. s. w.

Edith legte den ganzen Kram seufzend in einen Korb; die Vasen waren nicht mit frischem Wasser gestillt, die prächtigen Rosen hingen die Köpfe. Edith gab ihnen Wasser und dachte:

Unser Kittchen sollte nur mal so verschmachten! Da würde sie gleich wissen, wie es den armen Blumen tut, wenn man sie verdorren läßt! –

Kitty hatte die Schuhe gewechselt. Es war auch eine ihrer Tugenden, sich die schmutzigsten Stellen beim Schulweg auszusuchen! So kam es, daß sie öfters andre Schuhe anziehen mußte.

Natürlich standen die schmutzigen wie gewohnt mitten im Zimmer. –

Bei dem Aufräumen fand Edith das Schulzeugnis der Schwester und las es, ehe sie es in ein Fach des Schreibtischchens legte, durch.

Entsetzt hingen ihre Augen an der 4 und dem darunter stehenden Tadel der Vorsteherin.

Und Papa wußte das und sagte gar nichts?

Nein, ihr Väterchen und sie waren der Aufgabe, Kitty zu erziehen, sicher nicht gewachsen! Mit ihnen machte der Wildfang, was er wollte!

Von heute ab nahm Edith sich vor, strenger zu sein! Kam Kitty wirklich mal zu fremden Menschen in Pension, mußte man sich ja schämen! –

Also vorlaut war Kittchen in der Schule! Papa nannte ihr loses Plaudern reizenden Übermut. Ihm tat ihr lustiges Wesen wohl! Er konnte sich sein stilles Heim nicht denken ohne Kitty und ihr lautes, übermütiges Treiben! –

Edith öffnete das Fenster, um frische Luft herein zu lassen, nahm die Stiefel ihres Schwesterchens und verließ dessen Reich.

Leise ging sie den langen Korridor entlang in die Küche und lieferte dort Minna die Schuhe ab.

Minna gehörte als dritte in den Bund derer, die Kitty verwöhnten. Seit länger denn zehn Jahren diente sie den Wagemanns, hatte Kittchen als kleines Mädel auf ihren Armen getragen, sie mit groß gezogen, sie vor allen Prügeln bewahrt, ihre Dummheiten heimlich wieder gut gemacht und somit ihr reichlich Teil beigetragen, Kitty zur Alleinherrscherin zu erziehen. Und wenn ihr Liebling täglich zehn Paar Schuhe schmutzig gemacht hätte, sie hätte kein Wort gesagt!

Minna war auch Ediths Vertraute, hatte doch das treue Dienstwesen alles Schwere mit der Familie getragen.

»Du,« sagte Edith und zog leise die Türe hinter sich zu, »du, die Kitty hat eine schlechte Zensur!«

»Unser Kind?« rief Minna voller Entsetzen, »ih, die Lehrer sind doch jetzt recht ungerecht!«

»Nein, ich glaube, diesmal hat Kittchen die Schuld! Sehr vorlaut soll sie in der Schule sein!« meinte Edith kleinlaut.

»Natürlich, weil das arme Kind sich nicht alles von die gelehrten Leute will sagen lassen und sich wehrt, da ist sie gleich vorlaut! Unser Kittchen, das seelengute, lustige Ding! Die sollen sich freuen, Edith, wenn so 'n mutterloses Tierchen überhaupt noch lacht! Nee, so was!«

Minna wichste, voller Wut über die ungerechten Lehrer, ihres Lieblings Schuhe blitzblank.

Edith schlich sich hinaus. Immer mehr sah sie ein, daß ihr Schwesterchen total verzogen war. Niemand fand etwas zu tadeln an ihr. Ihr kluges, lebhaftes Wesen entzückte Papa; Edith liebte das ihr gleichsam von der sterbenden Mutter ans Herz gelegte Kind mit mütterlicher Zärtlichkeit, und für Minna fing der Mensch erst an bei ihrem Kittchen, dem sie noch wie vor Jahren allabendlich etwas vorsingen mußte, sobald Kitty im Bett lag. Sie behauptete, nicht eher einschlafen zu können, bis Minnas »Guter Mond, du gehst so stille« oder ähnliche Volkslieder an ihr Ohr drangen.

Bloß neulich einmal hatte Kitty ungnädig gemeint: »Du krächzt aber heute arg, Mine!« – Da hatte sich die Sängerin still und gekränkt zurückgezogen. Aber ihr Groll hatte keine drei Minuten gedauert. Kittchen war eben, seit sie in die Töchterschule ging, andren Gesang gewöhnt. Seitdem übte sich Minna öfters in ihrer Küche, und Kitty war auch jetzt zufrieden. –


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