Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Sechstes Buch.

Erstes Kapitel.

Drei bis vier Eisenbahnstunden von dem Schauplatz dieser Ereignisse entfernt lag die kleine thüringische Stadt, in welcher Edwin am Gymnasium Lehrer der Mathematik geworden war und Franzelius sein Geschäft gegründet hatte. Das Haus, zu dessen Ankauf Papa Feyertag seinem Eidam eine ansehnliche Summe vorgestreckt hatte, stand in der Hauptstraße, und die unscheinbare alte Façade glich auffallend einem von Druckerschwärze fleckig gewordenen, mit vielfachen Strichen und Zeichen überkritzelten Correcturbogen. Neu war nur das Schild über der Thür mit der Inschrift in weißen Buchstaben auf schwarzem Grund: Buchdruckerei von Reinhold Franzelius. Es war ein einstöckiges altes Gebäude aus Fachwerk mit einem vom Alter geschwärzten steilen Ziegeldach, das genau so hoch war, wie das Haus selbst, und außer dem Speicher noch eine Menge Kammern für die Gesellen und Lagerräume für Papier- und andere Vorräthe enthielt. Trat man unten ins Haus, so sah man links eine Thür mit der Ueberschrift »Comptoir«, rechts den Eingang in die Setzerwerkstatt, aus der ein 188 schmaler Gang in das Hintergebäude, die eigentliche Druckerei, führte.

Im oberen Stockwerk, in einem bescheiden möblirten geräumigen Wohnzimmer, saßen gegen Abend zwei Frauen beisammen, in denen wir das blonde Reginchen aus der Dorotheenstraße, jetzt Frau Franzelius, und die Tochter des Zaunkönigs, jetzige Frau Doctor Edwin, wiedererkennen. Die Jahre, die dazwischen liegen, sind an ihnen beiden nicht spurlos vorübergegangen, aber zum Vortheil für Beide. Als wir Lea verließen, ruhte sie auf dem grünen Sopha im Familienstübchen des venezianischen Palastes, mit schmächtigen, von heimlichem Herzweh entfärbten Wangen, und wir durften eben noch sehen, wie das traurig hinsterbende Flämmchen ihres jungen Lebens an der Fackel der Liebe neu angefacht wurde. Seitdem ist dies Leben freudig aufgeblüht, in einer stillen, seelenvollen Schönheit, die auf den ersten Blick nicht Jedem auffällt, aber dem sinnigeren Betrachter bald klar werden läßt, daß es etwas Besonderes um diese junge Frau sein müsse. Sie trägt ihr reiches Haar noch immer wie in ihrer Mädchenzeit, in einer starken Flechte zwiefach um den Kopf geschlungen, mit ein paar silbernen Nadeln hinten festgesteckt, fast nach Art der Mädchen von Rom oder Albano. Ihr Gesicht mit dem zarten, sanftgerundeten Oval ist voller geworden, als damals, nicht mehr von kränklicher Blässe, aber noch immer alabasterweiß, so daß die Augen, die das Schönste darin sind, um so dunkler hervorglänzen. Es wäre schwer zu sagen, was in diesem Gesicht mehr anzieht, 189 die Klugheit der Augen oder die sanfte Güte der weich geschwellten Lippen. Auch ihre Gestalt hat an Reiz gewonnen, wenn es auch jetzt, da sie frauenhafter geworden, noch fühlbarer ist, daß dieser großgeschnittene Kopf auf einer stolzeren Figur sich noch besser ausnehmen würde. Das verschwindet aber, wenn sie sitzt, vor Allem, wenn sie lacht, wo dann die sinnende Klarheit der Augen und die Herzlichkeit des Mundes so schön zusammenstimmen, daß man Nichts an dieser jungen Frau anders wünschen möchte.

Das Reginchen, das neben ihr sitzt, in einem hell geblümten Kattunkleide, das blonde Haar schlicht unter ein fast kokettes weißes Häubchen gestrichen, hat ebenfalls merklich an Reiz und Fülle zugenommen, ja ihre ehemals so schwalbenschlanke Figur scheint es darauf anzulegen, möglichst früh den Charakter seßhafter Hausmütterlichkeit auszuprägen. Dagegen ist das einst so runde Kindergesicht ein wenig schmächtiger geworden, statt des lustigen raschen Aufblickens der blauen Augen sehen wir eine ruhige Heiterkeit aus ihnen glänzen, die nur zuweilen von einer leichten Wolke verdunkelt wird, wenn der Lärm, den die beiden schwarzköpfigen Knäbchen vollführen, gar zu toll wird, oder eines von ihnen, wo nicht gar alle beide, bei ihrem Spiel mit einem großen braunen Holzpferde über ihre eigenen oder die brüderlichen Beine stolpern. Diese beiden kleinen Jüngelchen, jetzt eben dreijährig, sind die berühmten Zwillinge, Edwin und Balder, die das Reginchen ihrem Reinhold im ersten Jahre ihrer Ehe bescheert hat. Sie sind, wie Edwin schon gegen 190 Marquard geäußert hat, dem Vater zum Lachen ähnlich, ernsthafte, schwarzäugige und weißzahnige kleine Ungeheuer, mit Stimmen, die in der That für die Zukunft der jungen Volkstribunen das Beste hoffen lassen, dabei trotz ihres unbändigen und tobsüchtigen Betragens die gutherzigsten kleinen Kerle von der Welt; besonders an der Mutter hängen sie mit einer so wilden und eifersüchtigen Zärtlichkeit, daß, wenn sie beide sich über sie hermachen, das gute Reginchen Gefahr läuft, von den eigenen Kindern erdrosselt und erstickt zu werden. Ganz unähnlich diesen spaßhaften Miniaturausgaben ihres Vaters ist das Nesthäkchen, ein zartes, stilles, blondes Mädchen von einem Jahr, das die Mutter noch an der Brust hat, und von dessen Anwesenheit ein Blinder kaum etwas merken würde. Der Vater behauptet, es sei ganz und gar Balder's Ebenbild, und hat lange darüber gegrübelt, ob man diesem Kinde, das er besonders in sein Herz geschlossen, nicht auch einen Namen geben könne, der an den unvergeßlich geliebten Freund erinnerte. Aber gegen Baldriane oder Waltharia hatte das Reginchen, so gern sie ihrem Reinhold jeden Gefallen thut, sich entschieden verwahrt und darauf bestanden, daß dies zarte Sonnen- und Frühlingsblümchen den ehrlichen Namen der Großmutter führen müsse, nämlich Friederike, oder abgekürzt Riekchen, wobei es denn, da Reginchen als richtiges Schuhmacherskind zu Zeiten auch ihren kleinen Pantoffel zu regieren weiß, sein Bewenden hatte.

Als Lea heute, wie sie in Edwin's Abwesenheit täglich that, in der Dämmerstunde zu ihrer Freundin und 191 Nachbarin kam, hatte diese gerade das Kind gesäugt und hielt es still auf dem Schooß, wo es einzuschlafen im Begriff war.

Verzeih, daß ich dich hier sitzend empfange, sagte sie mit gedämpfter Stimme, obwohl die jungen Schreihälse den Schlummer des Schwesterchens durchaus nicht respectirten; Riekchen schläft eben ein; noch ein paar Minuten, so kann ich sie in die Wiege legen. Schön, daß du dich sehen läßt. Wir hätten heute ohnehin nach dir geschickt, dich herumholen zu lassen; mein Vater ist da, plötzlich angereis't gekommen ohne andere Ursache, als weil er es ohne die Jungens nicht länger hat aushalten können. Nach Riekchen hat er sich kaum umgesehen – es wird freilich noch eine Weile dauern, setzte sie mit leisem Lachen hinzu, bis bei dem lieben Balg der Knalleffect herauskommt, von dem der Vater immer spricht. Er hat auch gleich nach dir gefragt und wollte dich besuchen, um dir die Grüße von den Eltern zu bringen. Dann ist er mit meinem Reinhold in ein Gespräch gekommen über die alte Geschichte vom Fortschritt und Volkswohl, und darüber wurde es dunkel, und mein Holder hat ihn, da es Sonnabend ist, in den Arbeiterverein mitgenommen. So – nun schläft sie – nun kann man das Schätzchen loswerden. – Habt ihr Tante Lea schon eine Patschhand gegeben, Jungens? Sie sehen wieder schauderhaft aus, der Vater hat ihnen Chokoladen-Cigarren mitgebracht, da hilft kein Waschen. – Wollt ihr wohl Ruhe halten, ihr unnützen Rangen?

Der kleine Edwin war nämlich, nachdem er Lea rasch die Hand gegeben, auf das Sopha geklettert und 192 hatte sein Mütterchen ohne Umstände beim Kopf genommen, ihr die Haube heruntergezerrt und seinen schwarzen Krauskopf an ihren Hals gedrückt, wobei er allerlei Possen in seinem lallenden Deutsch zum Besten gab. Sofort war auch Balder auf der andern Seite des Sophas bemüht, sich ebenfalls hinaufzuschwingen, daß das schlafende Kind die großen blauen Augen wieder aufschlug und mit ängstlicher Geberde die schwarzen Kobolde anstaunte. Lea mußte lachen und trat rasch hinzu, das süße kleine Ding in ihre Arme nehmend. Dann wurde die Magd zu Hülfe gerufen, und es gelang endlich ihren kräftigen Armen, die wilde Zwillingsbrut vom Halse der Mutter loszureißen und aus dem Zimmer zu schaffen.

Sie bringen mich noch um! rief das Reginchen in drolliger Verzweiflung, als Lea wieder hereintrat. Reinhold könnte sie wohl bändigen, aber der lacht nur, statt mir zu helfen. Und ich – mit dem besten Willen – aber setz dich her, Liebste, und laß uns ein bischen schwatzen. Du glaubst nicht, wie es mir noth thut, auch einmal eine halbe Stunde zu mir selbst zu kommen. Wie oft beneide ich dich um dein stilles Haus, und daß du Ruhe hast den ganzen Tag, zu lesen und zu schreiben und dir was zu denken. Ich – mit unserm großen Hausstand – für all die Arbeiter zu sorgen, bei denen ich Mutterstelle vertreten soll – ist es nicht komisch, lachte sie und band ihr Häubchen wieder zurecht, wenn man mich ansieht und denkt, was ich früher war und was ich jetzt vorstellen soll? Es wäre ja Sünde, wenn ich klagen wollte, aber Eins ist doch 193 Schade: daß mein Mann auch etwas für meine Bildung thut, wie ich ihn immer bitte, daran ist gar kein Gedanke. Abends, wo ich ihn noch eine Stunde für mich allein habe und nun anfangen könnte, etwas zu lesen und zu lernen, – dann fallen mir gleich die Augen zu, und die schönsten Gedichte oder Geschichten sind mir nicht halb so lieb wie mein Bette. Wenn ich es meinem Schatz klage, lacht er mich aus. Er meint, ich wäre gebildet genug; er ist eben noch so schrecklich verliebt, da merkt er's nicht, was mir fehlt. Aber wenn ich eine alte Frau sein werde und sitze bei meinem alten Manne, und so Vieles, was er dann denkt und treibt, kann ich kaum zur Hälfte verstehen – na, er hat's gewollt, er kann sich dann nicht beklagen. Ich sag's auch nur, weil es mir immer einen Stich ins Herz giebt, wenn du mich so unter den Kindern triffst – und ich kann dir von dem Segen doch nichts abgeben. Aber siehst du, so hat jedes Glück seinen Haken, auch das beste, was man sonst wohl beneiden möchte. Dafür lebst du mit deinem Manne so ganz zusammen, und Alles, was er sich denkt, sagt er dir, und ihr zwei seid so Eins den ganzen lieben Tag, daß ihr nach gar Nichts sonst zu fragen braucht. Hab' ich nicht Recht, Liebste?

Sie hatte sich dicht an die stille Freundin angeschmiegt, die mit einem eigenen, fast triumphirenden Lächeln zugehört hatte. Du bist eine kleine Heuchlerin, sagte sie jetzt und nahm Reginchens Kopf zwischen ihre beiden Hände und küßte sie rasch auf die Stirn. Du weißt recht gut, wie mir zu Muthe ist neben dir – 194 und weil du ein gutes Herz hast und mich liebst, willst du mir weismachen, du verkauftest deine drei Kinder für einen Doctortitel, du schlechte Mutter. Aber weil du gerade davon anfängst und ich mit all meiner sogenannten Bildung nicht so geschickt im Heucheln bin, wie du hinterlistiges Naturkind – komm, laß dir was ins Ohr sagen, was noch kein Mensch zu hören bekommen hat – nicht einmal Der, der das nächste Recht darauf hätte – und du versprichst mir auch, daß keine Seele davon erfährt, nicht einmal Der, vor dem du sonst keine Geheimnisse hast. Deine Hand darauf, Ginchen!

Sie hielt ihr die Hand zum Einschlagen hin; aber mit einem Freudenschrei, aus dem noch ganz das Kind, die kleine Hausschwalbe von ehemals herausklang, sprang die ehrsame Frau und Mutter in die Höhe und rief: Ist es wahr? ist es auch gewiß war? O liebste, allerliebste Lea! – und sie fiel ihr mit einem tollen Sturm von Jubel und Jauchzen um den Hals – laß dich küssen und herzen und gratuliren, und keine sieben Schlösser sollen mir den Mund zuschließen, da ich's ganz allein errathen habe, ehe du noch ein Wort gesagt hast, und wie sollte ich's auch verschweigen? Reinhold sagt immer, er lese auf meinem Gesicht besser, als auf einem Druckbogen in fetter Schrift, der Spötter! – und nun erst dein Vater und Mama Professorin – ja nun ist Alles gut, und nun widerrufe ich jedes Wort, was ich vorhin gesagt habe, bloß um dir die Sehnsucht zu vertreiben: nein! ohne ein Kind – alle Bildung einer ganzen Bibliothek könnte mich nicht glücklich machen, und dich auch 195 nicht, Liebste, Herzallerliebste, und weil ich das gewußt habe, habe ich mir mein eigenes Glück immer nur halb gegönnt und mir oft – Gott verzeih' mir die Sünde – gedacht, ob es nicht besser wäre, wir wohnten nicht in Einer Stadt – da hast du meine ganze Schlechtigkeit, und nun halte ich dir ganz still, nun prügle mich für meine Heuchelei, aber recht derb, und dann laß dich küssen für diese gute Botschaft! Herrgott, was wird Edwin sagen! –

Sie war während dieses stürmischen Freudenausbruchs wie närrisch im Zimmer herumgesprungen und saß plötzlich auf Lea's Schooß, mit den Armen ihren Leib umschlingend und den Kopf demüthig gesenkt zur Seite biegend, als erwarte sie nun, daß die Züchtigung im Ernst vollstreckt werden sollte. Lea beugte sich zu ihr hinab. Du bist ein süßer Kindskopf, sagte sie, ihre feuchten Augen heimlich an Reginchens Haar abtrocknend. Komm, sei vernünftig. Und mit dem Geheimniß ist es mein voller Ernst. Wer weiß, ob es nicht dennoch eine Täuschung ist? Habe ich es nicht schon zweimal so fest gehofft, und war dann doppelt unglücklich? Darum soll Edwin es erst erfahren, wenn ich's mit voller Gewißheit sagen kann. O liebes Herz, daß du dich so mit mir freust – nie, nie will ich dir das vergessen. Mir ist, ich erführe erst heute, daß du mich lieb hast, und was du für ein goldener Schatz bist. Der Mann verdiente dich gar nicht, der dich hätte und noch daran denken könnte, ob du dies oder das Buch auch gelesen hast und von dem oder jenem mitreden kannst! 196

Sie hielten sich lange in den Armen und fingen dann an, die ganze frohe Zukunft, die Lea nun zu erhoffen hatte, mit unermüdlicher Frauenphantasie sich auszumalen. Darauf aber bestand das Reginchen, daß sie gegen ihren Reinhold nur so lange schweigen müsse, als Edwin selbst noch von Nichts wisse. Sie fragte, wann er wiederkäme. Seit jenem im Gasthof an der Eisenbahn geschriebenen Brief, der schon vier Tage alt war, hatte Lea Nichts wieder von ihm gehört und schloß daraus, daß er nicht mehr lange ausbleiben würde. Es ist das erste Mal, sagte sie, daß wir so viele Tage getrennt sind, und ich weiß, wenn er es nicht als eine Pflicht für seine Gesundheit ansähe, hätte er es nicht halb so lang ausgehalten. – Daß er aber nicht öfter schreibt! sagte Reginchen. Von Meinem, wenn er einmal drei Tage in Geschäften nach Leipzig muß, kriege ich ein halb Dutzend Briefe. Du mußt deinen Mann besser erziehen. Das Schriftstellern ist ja ohnehin sein Métier.

Du kennst ihn darin nicht, Liebste. Gerade, weil er gewohnt ist, mir Alles zu sagen, wird es ihm schwer, nur so täglich eine Stunde mit der Feder in der Hand bei mir zu sein. Er hat dann eine Art Trotz gegen die Trennung. Er will nicht lernen, mit Wenigem vorlieb zu nehmen, und ergiebt sich, wenn er nicht Alles haben kann, lieber in das Nichts.

Mag sein, erwiederte die Freundin. Auch kommt mir's immer vor, als brauchtet ihr Zwei eigentlich gar nicht mehr zu reden und eure Gedanken spazierten schon von selbst hinüber und herüber. Aber laß die kleine Lea nur erst 197 da sein, die wird euch doch noch ganze neue Gedanken eingeben. In meinen und Reinhold's Briefen steht von nichts als Kindergeschichten; wenn ein Fremder die Briefe läse, der würde uns auslachen! Wir aber sind ganz ernsthaft dabei.

Schritte, die draußen die Treppe heraufkamen, unterbrachen diese traulichen Herzensergießungen. Es waren die beiden Männer, Schwiegervater und Schwiegersohn, die aus dem Arbeiterverein zurückkehrten, Franzelius ganz der Alte, nur, Dank seiner kleinen Frau, etwas sorgfältiger gebürstet, das Halstuch manierlicher umgeknüpft und ein stilles, fast verlegenes Leuchten von Glück und Liebe in den schwarzumbuschten Augen, das er gleichfalls derselben kleinen Frau verdankte. Papa Feyertag dagegen war kaum wiederzuerkennen. Das sonst so wohlwollende, überlegen schmunzelnde Gesicht hatte einen seltsam gespannten und aufgeregten Ausdruck angenommen, den ein halbwüchsiger grauer Schnurrbart nicht gerade erfreulicher machte. Statt der ehrbaren Philisterkleidung, in der man ihn an Sonntagen in seinem Laden antraf, hatte er seine stämmige, kurznackige Figur in den modernen Anzug eines Weinreisenden gesteckt, von Kopf bis Fuß dieselbe senfähnliche Mißfarbe mit kleinen Punkten und Tüpfeln, dazu ein lächerlich kleines Hütchen mit einem blauen Bande. Er war erhitzt und schien, da er den Besuch erblickte, ein unerfreuliches Gespräch mit seinem Schwiegersohn abzubrechen. Das Reginchen warf ihrem Manne einen raschen Blick zu, den dieser mit einem leichten Achselzucken erwiederte. Dann aber, als die 198 Lampe gebracht und das einfache Abendessen aufgetragen war, kehrte die heitere Stimmung, die sonst an diesem kleinen Tische regierte, bald zurück, und auch der alte Herr wurde sichtbar gemüthlicher. Er erzählte Lea, daß seine Frau, die in ihrem Leben noch nicht weiter von Berlin fortgekommen sei, als bis Potsdam oder an den Müggelsee, auch diesmal dem Verlangen, ihre Tochter im eigenen Hause zu besuchen, hartnäckig widerstanden habe. Sie behaupte, was nicht mit Berliner Wasser gekocht sei, könne sie nicht vertragen, und die Eine Nacht, die sie einmal in Potsdam zugebracht, habe sie kein Auge zugethan, da man nur in Berlin gute Betten kenne. – Was soll man da machen, liebe Frau Doctorin? Weiber sind Weiber. Ich habe sie mit der Eifersucht zu kriegen versucht und ihr gedroht, ich würde die Frau Professorin, ich will sagen, Madame König, Ihre liebe Stiefmutter, bereden, mit mir zu kommen, da Ihr Herr Papa leider mit seiner Fußgicht nicht vom Fleck kann. Sie weiß, daß ich Ihre Frau Mama, trotz ihrer fünfundvierzig Jahre, für eine sehr schöne Dame halte und wir immer auf dem Neckfuß stehen. Aber sie hat auch wohl gewußt, daß das nur gespaßt war, denn dies junge Ehepaar – Ihre Herren Eltern mein' ich – ist nicht so leicht auseinanderzubringen. Nur schöne Grüße haben sie mir für Sie mitgegeben, und warum denn Sie sich nicht in Berlin sehen ließen? Sie seien es den Eltern doch am Ende schuldig und könnten so bequem bei ihnen unterkommen in der neuen Wohnung. – Es reise ein Lehrer der Mathematik, der rechnen gelernt und auch guten Grund 199 dazu habe, nicht so leicht, wie ein Hausbesitzer aus der Hauptstadt, sagte Lea mit leichtem Erröthen; auch habe Edwin die Ferien zur Erholung nöthig, und Berlin, wie er immer sage, sei eine große Menschenmühle, wo man in vierzehn Tagen völlig zerrieben würde. – Nun, er lebe schon über vierzig Jahre dort und sei noch immer gut im Stande, entgegnete der Alte. Aber Jeder habe seine Art und Manier. Er zum Beispiel würde kein halbes Jahr in so einem kleinen Nest aushalten, wie seine Kinder hier. Das komme ihm vor, wie wenn sich ein großer Hecht ins Altwasser verirrt hätte und nicht wieder ins fließende zurückfände. Die Zukunft, liebe Frau Doctorin, gehört den großen Städten; die kleinen sind auf den Aussterbe-Etat gesetzt. Ich werde es nicht mehr erleben, aber Sie vielleicht und die Kinder hier, und jedenfalls die kleinen Bälge, die da nebenan schlafen, daß in Deutschland nur alle fünfzig Meilen eine Stadt ist, dann aber auch eine gehörige, mit mindestens achtmalhunderttausend Einwohnern, die Vorstädte ungerechnet. Denn die Bildung, die die neue Zeit von den Menschen verlangt, ist nicht möglich ohne große Mittel, und Künste und Wissenschaften können doch nur in den großen Mittelpunkten gehörig bezahlt werden. – In unserm Bezirksverein, schloß er, habe ich einen Vortrag darüber gehört, der auch gedruckt werden wird. Ich schicke Ihnen einen Abdruck, sobald er heraus ist.

Und wer soll für die großen Städte das Fleisch und das Brod schaffen, lieber Vater? fragte Franzelius, der still zugehört und in diesen beiden Artikeln, die sein 200 Weib aufgetragen, eine große Verheerung angerichtet hatte.

Dafür haben wir die Eisenbahnen, versetzte der Meister, ohne alle Verlegenheit. Die Landleute, oder vielmehr die Gesellen der großen landwirthschaftlichen Industriegesellschaften werden jeden Morgen aufs platte Land hinausgefahren, bestellen die Aecker, besorgen das Vieh und dampfen Abends wieder in die Stadt zurück, wohin sie noch zeitig genug kommen, um Wilhelm Tell zu sehen oder die Lucca zu hören. Warum sollen denn diese braven Menschen von aller Bildung und Cultur ewig ausgeschlossen sein, bloß weil es auf den bisherigen Dörfern keine Theater, Concerte und Universitäten gegeben hat?

In der Heuernte werden sie doch auch manchmal draußen übernachten, warf Franzelius trocken ein.

Der Alte sah ihn von der Seite an, ob er im Ernst rede oder spotte. Auf dem ehrlichen, tapferkauenden Gesichte seines Schwiegersohnes war kein höhnisches Fältchen zu entdecken. Dennoch schwieg der alte Fortschrittsapostel sichtbar verstimmt, und es gelang Lea erst nach einiger Zeit, ihn wieder heiter zu machen. Sie erzählte von Heinrich Mohr's glücklicher Ehe und von seinem Vaterstolz. Sie ließ sich von Reginchens Bruder berichten, der auch seitdem geheirathet und eine glänzende Stellung in Rußland erhalten hatte, als Ingenieur an einer neuen Eisenbahn. Dazwischen begegneten ihre Augen zuweilen den verstohlen lächelnden und zwinkernden der kleinen blonden Frau, aus denen die Freude 201 über das vorher besprochene Geheimniß herausleuchtete, als ob sie sagen wollten: was ist all dies Geplauder gegen die große Neuigkeit, von der nur wir Beide wissen!

Als es Neun schlug, schickte sich Lea trotz Reginchens Zureden zum Aufbruch an. Sie wußte, daß man hier im Hause früh Nacht und früh wieder Tag machte. Als sie auch dem Meister Feyertag die Hand geben wollte, erklärte der, er lasse es sich nicht nehmen, sie nach Hause zu bringen. – Es ist nur um die Ecke, wehrte Lea ab, und wir sind in einem kleinen Nest, wo auch ohne Schutzmänner die Straßen bei Nacht sicher sind. – Der Alte ließ sich nicht zurückhalten. Er nahm das Hütchen mit dem blauen Band, klopfte seiner Tochter auf die Backe und gab dem Schwiegersohn etwas kühl die Hand. Sie sollten ihn nicht mehr erwarten, sagte er. Er könne ohnehin so früh nicht schlafen und wolle noch auf Abenteuer ausgehen.

Als sie unten auf der Straße waren, etwa zwanzig Schritte von dem Hause entfernt, blieb der wunderliche Mann plötzlich stehen und sagte zu seiner Begleiterin:

Sie haben wohl gemerkt, Frau Doctorin, daß ich noch was auf dem Herzen habe. Wissen Sie, warum ich eigentlich hier bin? Daran sind nicht, wie meine Tochter meint, die beiden schwarzen Kindsköpfe Schuld, obwohl ich die Jungens zum Fressen gern habe, sondern ein Traum. Sehen Sie, ich komme neulich Abends etwas spät aus unserer Bezirksversammlung, wo immer sehr gute Reden gehalten werden, und ärgere mich vorm Einschlafen, daß ich regelmäßig das Maul halten muß, 202 weil ich mich, wie mein Freund, der Assessor, sagt, überhaupt mehr leidend als activ an der Bildung betheilige. Na, es ist nicht Jedem gegeben, dacht' ich, ein großer Redner zu sein, und wer den Leuten bequeme Stiefel macht, sorgt auch mit für einen gesunden Fortschritt. Darüber schlafe ich endlich ein, und denken Sie, was mir träumt: ich stehe draußen auf dem Exercierplatz und sehe plötzlich von Kroll herüber so was Dunkles gegen mich herankommen, ordentlich in Reih und Glied, und macht eine Menge Staub, aber es ist ganz niedrig, nicht zwei Fuß überm Boden. Wie es näher heranrückt, was seh' ich? Lauter Schuh' und Stiefel, förmlich wie eine Armee in Regimenter abgetheilt, je nach der Sorte, Wasserstiefel, Tanzschuhe, Pantoffeln, Stiefeletten, kurz, was nur je in einer Schusterwerkstatt fabricirt worden ist, und zwar, wie ich gleich an der Façon und der Arbeit erkannte, in meiner eigenen. Und richtig, ohne daß es mir Einer gesagt hatte, wußte ich: das sind die sämmtlichen Schuh' und Stiefel, die dir, seit du in die Lehre gekommen, durch die Hände gegangen sind; das sind, so zu sagen, deine sämmtlichen Werke. Nun sieh dir einmal an, was du in diesem Leben vor dich gebracht hast, und ob du dir auf diese Art Fortschritt was Besonderes einbilden darfst. Ich sage Ihnen, Frauchen, es war ordentlich graulich, wie das schwarze Heer, ähnlich wie die Schwaben oder Russen hinter einem Küchenherd, an mir vorbeiwimmelte und durch den Thiergarten und ins Brandenburger Thor hinein – lauter Füße und kein Kopf – und ich stand da wie ein begossener 203 Hund und schlug mir vor die Stirne und mußte in allem Grauel plötzlich laut zu lachen anfangen, und darüber bin ich aufgewacht.

Wie ich Muttern den Traum erzähle, sagt sie bloß in ihrer ruhigen Manier: Da siehst du's nun, Feyertag, was bei den dummen Geschichten herauskommt. Der Traum bedeutet nichts Anderes, als: Schuster, bleib bei deinem Leisten! – Ich sagte nichts darauf. Ich kenne ja ihren beschränkten Standpunkt, und Weiber sind Weiber. Aber es stand in mir fest: mit der Schusterei ist's aus. Den Rest meines Lebens will ich an das Höhere setzen, Köpfe versohlen statt Füße, und diejenigen, die man über Einen Leisten spannen will, daß sie moralische Hühneraugen davon kriegen – ich meine dumm werden – denen will ich Luft schaffen helfen, was man Gedankenfreiheit nennt. Ich dachte auch gleich, dein Schwiegersohn, der ist der Rechte dazu. Den sollst du abholen, und dann wollt ihr mit einander auf Reisen gehen; er hat die Zunge, du das Geld, wie Moses und Aaron, und dann wollt ihr die Arbeiter-Vereine besuchen und überall nach dem Rechten und der wahren Bildung und Aufklärung sehen. Aber prosit die Mahlzeit! Glauben Sie, daß der Mensch, der doch früher so schöne Reden gehalten und Artikel geschrieben hat über alles Mögliche, daß der jetzt noch auf die Beine zu bringen ist? Wie ich ihm heute meinen Plan auseinandersetze, sieht er mich ganz ruhig an und sagt bloß: Das ist Alles recht schön, Papa, aber ich kann nicht mit; mein Geschäft leidet's nicht, daß ich in der Welt herumreise. – Und Abends führt 204 er mich in den Arbeiterverein, den er hier gegründet hat, und da ging es recht ordentlich und honnet zu, das muß man ihm lassen, aber was das Rhetorische betrifft, damit sah's man pauvre aus. Der Reinhold hatte ein Buch mitgebracht, ein gewisser Buckel hat's geschrieben, über Civilisation und Weltgeschichte und so Sachen. Aber schrecklich weitläufig und umständlich, keine Spur von brennenden Fragen und Standpunkten und Humaniora, und Vieles selbst für mich unverständlich, daß ich mich wunderte, wie sie Alle so geduldig zuhörten, als wie bei einer Predigt. Wie die Vorleserei aus war, denk' ich bei mir: Schwerebrett, Feyertag, diesen Provinzleuten solltest du mal den großstädtischen Horizont klar machen, und fange nun an, eine Rede zu halten, ganz fließend; denn erst vorgestern hatte mein Freund, der Assessor, etwas Aehnliches geredet, und was die rhetorischen Kniffe sind, die hab' ich längst weg und übe sie mir täglich ein an meinen Lehrjungen in der Werkstatt. Im Berliner Bezirksverein fehlt mir nur die Courage. Aber glauben Sie wohl, daß es auf diese kleinstädtischen Holzköpfe Eindruck machte? Weder das Absolute und Ablative, noch der Realismus und Gymnasiasmus wollte verfangen! – Alles, wie an die Wand hin geredet! Natürlich; so im stehenden Wasser hat man keine Ahnung, was der Strom des Zeitgeistes, und Wille und Vorstellung und die französische Revolution und das Selbst-Gouvernement – Sie wissen schon, was ich meine, Frau Doctorin. Aber diese beschränkten Menschen, wie ich nun fertig bin und frage, ob Jemand 205 Debatte wünsche, da steht bloß Einer auf und sagt, er hätte mich nicht verstanden, ich sollte mich deutlicher aussprechen, was ich eigentlich wollte. Der Reinhold aber sah nach der Uhr und sagte: für heute wär's zu spät. Das nächste Mal könnten sie darauf zurückkommen. Aber ich merkte wohl, er wollte nur verhindern, daß ich ihm bei seiner buckligen Civilisation in die Quere kam, darum schloß er die Sitzung. Ein Philister ist er geworden, glauben Sie mir, Frau Doctorin; Frau und Kinder und sein Geschäft – und was darüber ist, ist ihm egal. Nicht ganz so deutlich, wie meine Alte, hat er mir's gegeben, aber es kam doch auch darauf hinaus: ich sollte lieber bei meinem Leisten bleiben.

Sie sind selbst daran Schuld, Herr Feyertag, antwortete Lea lächelnd, während der alte Mann heftig aus seiner kleinen Birkendose schnupfte. Warum haben Sie unsern Freund durch eine allerliebste Frau so glücklich gemacht, daß ihm nun in seinem kleinen Kreise viel zu wohl ist, um auf Reisen zu gehen? Bleiben Sie ein paar Wochen hier und sehen Sie, wie er dabei nicht nur für sich sorgt, sondern auch für Alle, die mit ihm arbeiten, und Sie werden ihm gewiß nicht mehr böse sein, daß auch er bei seinem Leisten bleiben will.

Der Meister antwortete nichts darauf, sondern schüttelte nur den Kopf. – Sie waren indeß an Lea's Wohnung angekommen, einem niedrigen, einstöckigen Häuschen in einer Seitenstraße, wo nicht einmal eine Laterne brannte. Die Magd hatte sie kommen hören und trat mit dem Lämpchen in die Thür. 206

Wann kommt Ihr Herr Gemahl zurück? fragte der Alte mit einem Seufzer. Der wird mich hoffentlich verstehen und auch – dem Reinhold den Standpunkt klar machen.

Ich erwarte ihn in den nächsten Tagen. Sie müssen mich aber jedenfalls morgen besuchen, wir sprechen dann mehr davon. Glauben Sie mir, lieber Herr Feyertag, Sie richten auch bei Edwin nicht viel aus. Wir sind in unserer Enge so glücklich, und er besonders fühlt, daß er, auch ohne sich von der Stelle zu rühren, für die Welt wirken kann – ich zweifle sehr, ob er Ihren Plan billigen oder gar unterstützen wird. Indessen – ich will ihm nicht vorgreifen. Gute Nacht!

Sie reichte ihm herzlich die Hand und trat ins Haus, während der enttäuschte Meister, das Hütchen mit dem blauen Bunde tief in die Stirn gedrückt, brummend und vor sich hin gesticulirend in die Hauptstraße zurückging, um noch in irgend einer Weinstube empfänglichere Gemüther aufzusuchen. 207



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