Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Erstes Buch.

Erstes Kapitel.

In der Dorotheenstraße, mitten im lateinischen Viertel Berlin's, dessen bescheiden studentischer Anstrich nachgerade auch von weltstädtischer Cultur mehr und mehr verwischt zu werden droht, stand noch vor wenigen Jahren ein kleines zweistöckiges Haus, engbrüstig, unansehnlich und gleichsam eingeschüchtert zwischen seinen breitschultrigen Nachbarn, obwohl es alljährlich mit einer zartröthlichen Fleischfarbe frisch übertüncht wurde und erst kürzlich einen neuen Blitzableiter auf seinen altersmüden Giebel bekommen hatte. Aber der Besitzer, ein ehrsamer Schuhmachermeister, der freilich im Laufe der Zeit so viel vor sich gebracht hatte, um sich's in einem neuen, eleganteren Hause bequem machen zu können, hatte Alles, was ihm das Leben Freundliches beschert, unter diesem schiefgesunkenen Dache erlebt, und wenn er auch sonst ein Mann der Aufklärung und sentimentalen Vorurtheilen abhold war, wäre es ihm doch wie ein schnöder Undank erschienen, dem alten Zeugen und Beschirmer seines Glücks ohne zwingenden Grund den Rücken zu kehren. Hier hatte er fast in jedem Winkel einmal sein Haupt 4 niedergelegt, von dem Dachkämmerchen an, wo er als ein armer Tropf von einem Lehrjungen manche Nacht vor dem Geprassel der Traufe kein Auge zugethan, bis in die Putzstube des ersten Stocks vorn heraus, wo das Brautbett aufgeschlagen wurde, als er nach wacker bestandener Lehrzeit in seiner Eigenschaft als Obergeselle die Tochter des plötzlich verstorbenen Meisters heimgeführt hatte. Er war aber zu haushälterisch, um sich diese vornehme Wohnung länger als ein halbes Jahr zu gönnen, und hatte seitdem mit den Räumlichkeiten des zweiten Stocks vorlieb genommen, anspruchslos genug, da ihm zwei Kinder inzwischen herangewachsen waren und das Häuschen nur drei Fenster Front hatte. Die Zimmer der Beletage waren an ein altes kinderloses Ehepaar vermiethet worden, dem der Hausherr um keinen Preis gekündigt haben würde. Denn in dem weißhaarigen alten Manne verehrte er einen ehemals berühmten Tenor, den er noch in seiner Blüte gehört und bewundert hatte, und in dem kleinen, verwitterten alten Weibchen, seiner Frau, eine zu derselben Zeit nicht minder gefeierte Schauspielerin. Sie waren schon ein Dutzend Jahre pensionirt und lebten in ihren mit verblichenen Lorbeerkränzen und Bildern berühmter Collegen tapezirten Zimmerchen völlig sang- und klanglos ihre stillen Tage hin, ohne daß man recht wußte, womit sie sich die Zeit vertrieben, da auch Niemand zu ihnen kam. Diese Celebritäten gaben, in der Vorstellung des Hauseigenthümers, seinem Häuschen eine gewisse künstlerische Weihe, und er verfehlte nie, wenn das alte Pärchen von seinem einzigen Spazierschlich in der 5 Mittagsstunde nach Hause kam und gerade Kunden im Laden waren, den Ruhm der beiden verschollenen und sehr eingeschrumpften Größen, als Einer, der davon mitreden konnte, wieder aufzufrischen.

Im Erdgeschoß befand sich der Laden, über dem ein schwarzes Schild in Goldbuchstaben die Inschrift trug: Schuh- und Stiefelfabrik von Gottfried Feyertag. Den großen braunen Reiterstiefel und den rothen Pantoffel, die ursprünglich links und rechts daneben gemalt waren, hatte der Meister überstreichen lassen, da es ihm ärgerlich war, sie immer noch sehen zu müssen, nachdem die alten Façons aus der Mode gekommen waren. Denn auch in seinem Handwerk ging er mit der Zeit vorwärts und konnte doch unmöglich, so oft die Mode wechselte, eine Correctur auf seinem Ladenschilde anbringen. Hier unten übrigens ließ er seiner Frau das Regiment, da er selbst den größten Theil des Tages hinten in der Werkstatt war und ein scharfes Auge auf seine vier oder fünf Gesellen hatte. Ein schmaler Hausflur führte an dem Laden vorbei in ein enges, brunnenartiges Höfchen, in dessen Mitte sich ein hochaufgeschossener Akazienbaum erhob, bis zur Dreiviertelshöhe aus Mangel an Luft und Sonne abgestorben und nur am Wipfel noch mit blaßgrünen, schwindsüchtigen Blättern geziert, die jeden Herbst ein paar Wochen früher gelb wurden, als alles andere Laub. In einem Winkel, neben dem Pumpbrunnen, hatte das Töchterchen des Hauses, da sie noch ein Schulkind war, sich eine Laube bestellt, vom Obergesellen aus dünnen Stangen kunstlos zusammengenagelt und mit 6 bunten Bohnen umrankt, die zwar pflichtschuldigst jeden Sommer blühten, aber in den besten Jahren nie mehr als eine Handvoll verkümmerter Böhnchen lieferten. Desto üppiger gediehen in einem kleinen Beet längs der sogenannten Sonnenseite des Hauses allerlei Schattenpflanzen, wie sie auch in Cisternen und Kellerlöchern wuchern, und im Hochsommer, wenn wirklich die Sonne Mittags bis hinunter reichte, war der kleine Fleck in all seiner Dürftigkeit doch ganz lustig anzusehen, zumal wenn das blonde Reginchen, jetzt schon ein Jüngferchen von siebzehn Jahren, dort auf einem Schemel saß und – etwa am Sonntag – aus einem Leihbibliotheksbuch eine Räubergeschichte las.

Ein graues, verwahrlos'tes Hinterhaus, nur durch kahle Feuermauern mit dem Vorderhause verbunden, sah ebenfalls mit zwei Stockwerken zu je drei Fenstern in diesen Hof, und eine steile, baufällige Treppe, die bei jedem Schritt knirschte und stöhnte, führte am Erdgeschoß vorbei, wo die Werkstatt und die Schlafkammern der Gesellen lagen, zu den oberen Wohnungen. In der Nacht, in der unsere Geschichte beginnt, war es in all diesem Gewinkel erstickend heiß. Es war eine jener Spätsommernächte, in denen kein Lüftchen geht, kein Thau fällt, nur der Staub, den der Tag aufgewühlt hat, in leiser, unsichtbarer Wolke niederschwebt und Alles, was athmet, wie mit einem Alpdruck beklemmt. Ein schlanker junger Mann, in Strohhut und grauem Sommeranzug, schloß leise die Hausthür auf und ging auf den Zehen durch den schmalen Flur des Vorderhauses und dann 7 über die Steine, mit denen der Hof gepflastert war. Er konnte sich's nicht versagen, erst noch den Brunnenschwengel in Bewegung zu setzen und sich mit dem Wasser, das freilich auch nicht das frischeste war, das Gesicht und die heißen Hände zu kühlen. Das Geräusch der Pumpe schien aber Niemand zu wecken, wenigstens regte sich Nichts weder hüben noch drüben. Er stand ein Weilchen und ließ sich von der Luft trocknen; dabei sah er am Hinterhaus empor nach den Fenstern des obersten Stockwerks, in denen sich das grelle Mondlicht spiegelte. Nur eines stand offen, und eine große weiße Katze lag auf dem Sims davor und schien zu schlafen. Auch im ersten Stock waren die Fenster offen, und ein schwacher Lichtschimmer drang heraus und färbte ein Stückchen vom Stamme der Akazie mit blasser Röthe.

An alle Dem war nichts Merkwürdiges. Auch schien der einsame Nachtschwärmer unten am Brunnen mit seinen Gedanken weit weg von dieser beklommenen Enge in irgend einem Zaubergarten zu weilen. Wenigstens saß er jetzt mit einem Lächeln, als wäre ihm unendlich wohl, auf dem Schemelchen in der Bohnenlaube nieder und zerpflückte ein welkes Blatt, das er erst an die Lippen gedrückt hatte. Aus den offenen Fenstern der Werkstatt dicht über ihm hörte er das kräftige Schnarchen eines der Gesellen, dem es in der Kammer hinten zu eng geworden war, und ein Anderer schien aus dem Traum zu sprechen. Ein Geruch von frischem Leder, Pechdraht und Firnissen drang in seinen Winkel hinaus und hätte, im Verein mit jenen groben Naturlauten, jedem Andern 8 das Verharren in diesem Sommernachtstraum verleidet. Der im Strohhut aber schien sich nicht entschließen zu können, den harten Sitz unter dem dürftigen Blätterdach mit seinem gewohnten Bett zu vertauschen. Er hatte den Hut abgenommen und sich gegen die Mauer zurückgelehnt, deren Feuchte seinem heißen Kopfe wohlthat. Nun sah er durch das dünne Stabwerk in den Himmel hinauf, so viel das enge Mauerviereck davon sehen ließ, und fing an die Sterne zu zählen. Der Wipfel der Akazie schimmerte im Mondlicht wie aus Silber getrieben, und die Feuermauer gegenüber, so weit der bleiche Glanz herabdrang, blinkte wie mit zartem Eis oder Reif überfroren. – Nein, sagte der Einsame unten in der Laube, das Leben ist dennoch der Mühe werth! Freilich, das Schönste darin, so schön wie die Sterne dort, ist auch so fern wie sie – aber was thut's? Was man bewundern darf, was man nicht vergessen kann, – gehört einem das nicht so gut und besser, als wenn man's im Schrank hätte und den Schlüssel dazu verloren?

Aus diesem halb bewußtlos hingeträumten Selbstgespräch riß ihn der Schlag einer nahen Thurmuhr. Eins! sagte er für sich. Es wird nun doch Zeit, ans Schlafen zu denken. Wenn Balder am Ende wach geblieben wäre, um mich zu erwarten, obwohl ich mir's so dringend verbeten habe –

Er stand eilig auf und trat in das Haus. Als er sich behutsam die morschen Stufen hinauftastete und den Treppenabsatz des ersten Stockwerks erreichte, sah er zu seinem Erstaunen, daß die Thür, die in die Wohnung 9 führte, halb offen stand. Ein dunkles Vorzimmerchen führte in ein größeres Gemach, das von einer schläfrigen kleinen Lampe erhellt war. Im Sopha hinter dem Tisch lag, noch völlig angekleidet, eine weibliche Gestalt, in ein Buch vertieft. Der Schein fiel auf ein scharfgeschnittenes, düsteres Gesicht, über die erste Jugend hinaus, mit sehr dunklem Haar und starken Brauen, dem nur ein Zug von Kraft und Trotz einen gewissen Reiz verlieh. Die dichten Haare waren der Leserin ausgegangen, sie trug ein geringes Sommerkleid von Kattun, das die Schultern und Arme frei ließ. Keine Bewegung des Gesichtes verrieth, ob sie den spät Heimkehrenden gehört hatte, und wie er jetzt einen Augenblick draußen im Flur stehen blieb und durch die beiden Thüren hineinsah, schlug sie die Augen nicht von ihrem Buche auf und strich sich nicht einmal die Haarsträhne zurück, die ihr über die Stirn gefallen war.

Sie sind noch auf, Fräulein Christiane? sagte er endlich, die Schwelle des Vorzimmers betretend.

Wie Sie sehen, Herr Doctor, erwiederte sie mit einer tiefen Stimme, ohne sich übrigens stören zu lassen. Die Hitze läßt mich nicht schlafen – und vielleicht auch das Buch hier. Ich war so vertieft, daß ich Sie nicht einmal kommen hörte. Uebrigens ist es freilich Schlafenszeit. Gute Nacht!

Darf man fragen, Fräulein, was das für ein Buch ist, das Sie nicht schlafen läßt? fragte er, immer noch in dem dunklen Entrée.

Warum nicht? kam nach einigem Zaudern die 10 Antwort. Obenein haben Sie noch ein besonderes Recht darauf. Es ist Ihr Buch. Der Hausherr, Meister Feyertag, hat es vor Wochen von Ihnen geborgt und mir gestern so viel davon vorerzählt, daß ich es mir für einen Tag ausgebeten habe. Nun läßt es mich nicht wieder los.

Er lachte und trat jetzt vollends bei ihr ein. Also auch Ihnen hat er's angethan, dieser arge Rattenfänger, nach dessen Pfeife jetzt Männlein und Weiblein tanzen, ob sie auch seine Weisen manchmal abscheulich finden? Sie lesen gewiß eben auch das Kapitel über die Weiber, aus dem unser biederer Wirth täglich seiner guten Frau die verfänglichsten Stellen citirt, und obgleich es Sie empört, können Sie doch nicht davon weg. Er weiß es, der alte Sünder, wie man's anfangen muß, er hat seinen Göthe nicht umsonst gelesen:

Doch wem gar nichts dran gelegen
Scheinet, ob er reizt und rührt,
Der beleidigt, der verführt!

Sie irren, versetzte sie und richtete sich jetzt im Sopha auf, so daß ihr Gesicht durch die grüne Lampenglocke verschattet war. Ich habe zwar auch das Kapitel gelesen. Aber es hat mir keinen besonderen Eindruck gemacht, weder im Guten noch im Bösen. Es ist eine Caricatur, ganz ähnlich, und doch ganz falsch. Er scheint eben nur das gekannt zu haben, was man »die Weiber« nennt; »sage mir, mit wem du umgehst« – Nun, das sind wir ja gewohnt. Aber wo ich einen großen Respect vor ihm bekommen habe, das ist bei dem Kapitel »vom 11 Leiden der Welt«. Ich könnte beinah Satz für Satz eine Anmerkung dazu machen, ein Beispiel anführen aus dem, was ich selbst erlebt habe oder Andere habe erleben sehen. Und ich weiß auch, warum man es trotzdem so gern lies't: weil er es so gelassen hinsagt, so selbstverständlich und ohne Murren, daß man sieht, es wäre einfältig, sich darüber zu beklagen und für seine eigene armselige Person etwas Besseres zu verlangen oder zu hoffen, als was einer ganzen Welt beschert ist. Sie müssen mir noch seine anderen Schriften leihen.

Liebes Fräulein, versetzte er, wir sprechen mehr davon. Sie sollen nicht meinen, daß ich einer von den Philosophie-Professoren wäre, die den seltenen Mann todtschweigen wollten. Schade ist's freilich, daß er nicht noch lebt, um allerlei Fragen an ihn zu stellen, denen er in seinem sybaritischen Schmollwinkel im Schwan zu Frankfurt am Main sorgfältig aus dem Wege gegangen ist. Aber wie dem auch sei – diese Nacht ist zu schwül, um sich noch den Kopf warm zu philosophiren. Werfen Sie Ihren Schopenhauer beiseite, verehrtes Fräulein, und spielen Sie mir etwas vor, etwa die Mondscheinsonate, oder sonst so was tiefsinnig Süßes. Ich möchte mir das Ohr rein waschen von schnöder Balletmusik, die ich habe anhören müssen.

Sie und Balletmusik?

Nicht wahr, es klingt lächerlich, aber es ist dennoch wahr. Wie ich dazu gekommen bin? Sie kennen, wenigstens vom Ansehen, unsern Tyrannen, den sogenannten Medicinalrath, meinen Universitätsfreund und Leibarzt. 12 Er steigt ja jetzt alle Tage unsere Hühnerstiege hinauf. Nun habe ich mich diesen Sommer etwas überarbeitet, um eine Preisschrift fertig zu bringen, eine ganz überflüssige Eile, da ich mit meinen Ketzereien vor allen akademischen Ehren sicher bin. Indessen, das Accessit habe ich schon weg: einen ganz dummen Kopf mit so rebellischen Nerven, daß es fast an Ideenflucht grenzt oder an sonst eine der unschuldigeren Formen der Verrücktheit. Eine Reise, ein paar Wochen auf dem Rigi würden das beste Mittel sein. Aber unser Leibarzt hat sich aus guten Gründen gehütet, eine solche Luxusmedicin zu verschreiben. Man könne es auch billiger haben, meinte er, die Gedankenfabrik eine Weile feiern zu lassen. Er schlug mir vor, Karten zu spielen, eine Käfersammlung anzulegen, einen Pudel abzurichten oder mich zu verlieben. Leider hatte ich zu keiner dieser sehr einfachen und gewiß zweckmäßigen Kuren Lust oder Anlage. Da brachte er mir heute früh ein Billet zum Opernhaus; er hat immer seine Connexionen vor und hinter den Coulissen. Es handelte sich um ein neues Ballet, bei dem selbst einem alten, hartgesottenen Habitué Hören und Sehen vergehen sollte, geschweige einem Grillenfänger meines Schlages, der seit zehn Jahren nicht ins Opernhaus gekommen. Nun, ich habe dem Experiment nicht entrinnen können. Wer Mediciner zu Freunden hat, muß es sich gefallen lassen, zuweilen als ihr Versuchshund zu dienen, und ein Ballet ist immer noch besser, als eine silberne Röhre im Magen. 13

Er lächelte eigenthümlich, halb vergnügt, halb geheimnißvoll vor sich hin.

Spielen Sie mir die Mondscheinsonate, bat er jetzt wieder. Das Leben ist schön, Fräulein Christiane, trotz alles Leidens der Welt. Was haben Sie da für prachtvolle Rosen im Glase! Erlauben Sie –

Er nahm einen kleinen Strauß, der auf dem Tische stand, aus dem Gefäß und drückte ihn gegen sein Gesicht. Die überreifen Blüten zerfielen plötzlich, und die Blätter bedeckten das Buch.

Herrgott, sagte er, mit verlegenem Erröthen, da hab' ich was Schönes gemacht. Verzeihen Sie es mir, liebes Fräulein?

Gewiß, Herr Doctor, wenn Sie jetzt vernünftig sind und hinaufgehen, Ihren Rausch auszuschlafen. Denn Sie sind in einer Verfassung –! Sie müssen am besten wissen, wie Sie dazu gekommen sind.

Ich? ich wüßte nicht –

Mich zu bitten, daß ich Ihnen um halb zwei Uhr in der Nacht etwas vorspielen soll! Wollen wir die Hausleute wecken und uns – man kann mir von drüben in die Fenster sehen – und überhaupt –

Sie war aufgestanden und verschluckte das Uebrige. Ein paarmal ging sie durch das sauber aufgeräumte Zimmer, in welchem außer dem Klavier, ihrem Bett und einem Bücherschrank nicht viel Möbel standen. Sie strich jetzt das Haar von Stirn und Schultern zurück und stand, die nackten Arme über der Brust zusammengelegt, am Fenster still. Ein Seufzer hob diese Brust, die ihre Gedanken 14 und Gefühle streng zu verschließen gelernt hatte. So wartete sie scheinbar ruhig, bis er gehen würde.

Ich muß Ihnen wirklich sonderbar vorkommen, sagte er jetzt mit einem treuherzigen Ton. Wir sind seit Monaten Hausgenossen, ohne daß ich mir die Nachbarschaft anders zu Nutze gemacht hätte, als bei jenem ersten und einzigen Besuch, wo ich Sie bat, in gewissen Stunden, die ich mir zur strengsten Arbeit ausgesucht, nicht zu musiciren. Nun falle ich Ihnen bei nachtschlafender Zeit ins Zimmer und nehme mir Freiheiten heraus, wie ein alter Bekannter. Entschuldigen Sie mich mit meiner Ideenflucht, bestes Fräulein, und – schlafen Sie wohl!

Er verneigte sich leicht gegen das Fenster hin und verließ das Zimmer.

Sobald sie ihn die Treppe hinaufsteigen hörte, eilte sie in das dunkle Vorzimmerchen, schloß die äußere Thüre ab und schob noch den Riegel vor. Dann stand sie eine Weile und horchte ihm nach, ein Zittern lief über ihren Leib, der sich an die Thüre schmiegte, die Hände waren fest an die Klinke geklammert. Langsam ging er draußen ein paar Stufen hinauf und blieb dann wieder stehen, als habe ihn plötzlich ein träumerischer Gedanke überfallen. Da zuckte sie zusammen, seufzte schwer und kehrte mit schwankenden Schritten in das Wohnzimmer zurück. Das Kleid schien sie zu beengen, sie schälte sich aus ihm heraus, wie ein Falter aus seiner Puppe, und setzte sich dann im luftigsten Nachtkostüm an das offene Klavier. Es war ein altes, sehr ausgespieltes Instrument von 15 geringem Ton, und wie sie jetzt die schmalen Finger leicht über die Tasten gleiten ließ, klang es im Flur draußen wie Harfenspiel aus weiter Ferne herüber.

Der junge Mann war gerade auf der obersten Stufe angekommen, als er es herauftönen hörte.

Richtig! nun spielt sie doch die Sonate, sagte er für sich. Eine eigenartige, eigensinnige Person! Was sie nur für Schicksale erlebt haben mag? Ich will mich von morgen an mehr um sie bekümmern. Schade, daß sie so häßlich ist, und doch – was schadet's? In ihren Fingerspitzen ist Grazie. Was das aber auch für eine Musik ist!

Er stand eine Weile und lauschte den wohlbekannten wundersamen Tönen, die ihm Alles auszusprechen schienen, was er verworren in sich trug. Plötzlich hörte er eine Stimme von innen:

Bist du's, Edwin?

Freilich bin ich es, rief er zurück.

Im nächsten Augenblick hatte er die Thür geöffnet und war in das Zimmer getreten, das mit ruhiger Klarheit vom Monde durchleuchtet war. 16



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