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12.

Wenige Tage später entdeckte Roselore in einer illustrierten Zeitung, die ihr Vater mitgebracht hatte, ein Bild, bei dessen Anblick sie laut und hell auflachen mußte.

Pitt war verewigt worden! Genau so, wie er an jenem Sonntage vor dem Ziegenbocke geflohen war, in tollen Sprüngen dem Auto zueilend, das man freilich auf dem Bilde nicht sah! Aber man erblickte das Tablett mit dem wackelnden Geschirr darauf, Pitts krampfhafte Bemühungen, es sicher und ungefährdet weiterzutragen und zu gleicher Zeit dem nachglotzenden Ziegenbocke zu entfliehen. Sein Gesicht war unbeschreiblich komisch. Und darunter stand der Spottvers:

»Ein jeder denkt vom andern sich:
Das ist der Teufel sicherlich!«

Sie zeigte das Bild ihrem Vater, der vergnügt schmunzelte. »Nun hast du doch einmal ein Erlebnis da draußen gehabt,« meinte er. »Aber das Bild wollen wir aufheben, es ist wirklich drollig.«

»Ich fahre am nächsten Sonntag wieder nach Biesenthal,« sagte Roselore, ohne des Vaters Einwilligung vorher zu erfragen. »Ich muß der Liesel ein paar hübsche Tanzschritte beibringen, sie hüpft ja herum wie ein Lämmchen auf der Weide.«

Frau Stelling war nicht ganz damit einverstanden, daß Roselore am nächsten Sonntage schon wieder nach Biesenthal fuhr, aber nun hatte es der Vater einmal erlaubt, und sie mochte nicht widersprechen.

Es war wieder ein warmer, sonniger Tag. Aber diesmal kam kein Auto angefahren, dessen Insassen nach Kaffee verlangten, und die Stalltür zum Ziegenbockstalle war zugeschlossen, der Schlüssel in Frau Wandlers Tasche. Pitt war mit Kartoffeleinholen beschäftigt, die man vor Eintritt des Frostes noch in den Keller bringen wollte, und hatte keine Zeit, sich mit den beiden Mädchen abzugeben.

Fräulein Stellings Wohnung war bereits wieder vermietet. Ein altes Ehepaar zog dort ein.

»Sie bringen feine Möbel mit!« rühmte Liesel. »Ein geflügeltes Klavier.«

»Ach, du meinst einen Flügel!« verbesserte Roselore.

»Na ja, das is doch dasselbe … wenn ich auch nicht verstehen kann, weshalb man so ein Klavier Flügel nennt. Flügel hat doch nur die Gans und jeder andere Vogel.«

»Haben sie auch ein Büfett?« fragte Roselore neugierig, denn ein Büfett war das Ziel der Sehnsucht ihrer Mammy.

»Das brauchen sie doch nicht! Das haben wir doch selbst in unserem Schankzimmer!« belehrte sie Liesel. »Aber sie haben Teppiche und nennen das ›Brücken‹. Und das Allerschönste ist: sie haben einen Papagei! Einen zahmen bunten Papagei, der sogar sprechen kann.«

Das interessierte Roselore ungeheuer.

»Wo hast du denn den Papagei gesehen?«

»Nun, er ist ja schon bei uns. Sein Bauer steht im Wohnzimmer.«

»Und das erzählst du mir erst jetzt?« eiferte Roselore. »Komm, zeig' mir einmal den Papagei!«

Als sie beide staunend und etwas erregt vor dem vergoldeten Bauer standen, hinter dessen Stäben der schöne Papagei munter herumturnte, erzählte Liesel weiter:

»Mit Pitt ist unser Papchen schon sehr gut Freund. Er frißt ihm aus der Hand, er läßt sich von ihm den Kopf krauen und anfassen. Und morgens, wenn sich Pitt noch nicht bei ihm gezeigt hat, fängt er an zu rufen: ›Auf–stehen! Faul–pelz!‹ Das ist natürlich furchtbar komisch.«

»Papchen … Zucker!« schnarrte der Papagei bettelnd. Es war wirklich ein kluges Tier.

Liesel holte ein Stück Zucker herbei, das ihr der Papagei mit zierlicher Kopfbewegung aus den Fingern nahm. –

Liesel konnte sich nicht enthalten, die Tür des Bauers zu öffnen und mit der Hand hineinzugreifen. »Er soll sich einmal auf meinen Finger setzen!« sagte sie, denn sie wollte sich vor Roselore wichtig machen.

Papchen aber verstand die Bewegung falsch, und der Zucker mochte ihm gut geschmeckt haben. Er fuhr mit seinem Schnabel nach Liesels Fingern. Sie zog die Hand erschrocken zurück. Und kaum merkte das Tier, daß die Tür zu seinem Bauer offen stand, da war es auch schon hinaus … und, da unglücklicherweise das Fenster geöffnet war, mit ein paar schweren Flügelschlägen draußen im Freien … in den Zweigen einer breitästigen Linde, in denen er nun vergnügt herumkletterte, höher, immer höher hinauf.

Die beiden Mädchen standen vor Schreck wie erstarrt da.

»Pitt!« rief Roselore in höchster Angst. »Pitt, hilf uns!«

Sie mußten ein paarmal mit vereinten Kräften rufen, dann kam Pitt angesprungen.

Weinend wies Liesel mit dem Finger zum Fenster hinaus nach der herbstlich gefärbten Linde, von deren Ästen jedesmal ein wahrer Schauer von welken Blättern herniederraschelte, so oft Papchen von einem Zweige zum anderen turnte.

Mit einem einzigen Satze war Pitt zum Fenster hinaus, er rannte zu dem Baume hin, immer lockend, den Papagei rufend.

Aber dem Tier war zu wohl draußen in der Freiheit, es schaukelte von Ast zu Ast und ließ zuweilen seinen Neckruf hören: »Faul–pelz …«

Pitt begann den Baum hinaufzuklettern.

Nun sah man einmal so richtig, wie gewandt der Bengel war. Wie ein Affe schwang er sich von einem Ast zum anderen. Selbst dem Flüchtling schien die Bewunderung über solche Kletterfertigkeit zu kommen, die er vorher wohl niemals an einem Menschen beobachtet und am allerwenigsten hier in Biesenthal vermutet hatte. Papchen vergaß vor Staunen ganz seine weiteren Fluchtversuche, saß still da und schaute Pitt aus seinen großen runden Augen bewundernd zu.

.

Sie blieb auf der Schwelle vor Überraschung stehen. Da stand ja Pitt, ihr schwarzer Pitt, mit weißer Jacke, Schürze und Mütze.

Doch als Pitt endlich die oberste Spitze des Baumes erreicht hatte – es war eine hohe, alte Linde – und lockend nach Papchen greifen wollte, begann der Ausreißer wieder hinabzuturnen, nicht weniger graziös, als er vorhin hinaufgeklettert war.

Pitt ließ im Eifer seiner Verfolgung laute Rufe hören und schwang sich aufs neue dem Vogel nach.

Dieser, auf dem niedrigsten Aste angelangt, schien sich des vorhin genossenen Leckerbissens zu erinnern. Er flog aufs Fensterbrett, von da aus zu seinem Bauer hin und schlüpfte durch das Türchen wieder hinein.

Schwapp … klappte das Türchen hinter ihm zu.

Doch Papchen war darüber nicht böse. Er neigte sein Köpfchen zur Seite, sah die Mädchen zärtlich an und schnarrte, so schön wie er nur konnte: »Zuckerrrrr …«

»Eigentlich hast du ja nichts verdient, oder höchstens eine Tracht Prügel,« sagte Liesel streng. »Aber weil heute Sonntag ist und weil du brav wiedergekommen bist und wir uns vor meiner Freundin Rose nicht blamieren wollen, so will ich einmal ein Auge zudrücken …«

»Sieh nur, er tut es schon selbst!« rief Roselore vergnügt. – Es sah aber auch zu drollig aus, wie der Papagei zärtlich schmeichelnd das linke Auge schloß, das Köpfchen wiegte und bettelte: »Zuckerrrrr …«

Und er bekam den Zucker, von jedem der Mädel ein Stück, das er mit Behagen verzehrte.

Hinter den beiden Mädels stand Pitt. Auch er hatte den Kopf geneigt, wie in heimlicher Bitte, aber keines von den Mädchen dachte daran, ihm ein Stück Zucker zwischen die weißen, großen Zähne zu schieben. Und doch mochte er so gern Süßes essen, so schrecklich gern!

»Papchen es besser hat als Mensch,« dachte er schließlich ergeben-traurig und wandte sich zum Gehen.

Da sah ihn Roselore. Fühlte sie etwas von dem, was in dem dunkelhäutigen Burschen vorgegangen war? Sie zog aus ihrer Tasche ein Stück Schokolade hervor und reichte es ihm hin. »Hier, Pitt, weil du so schön geklettert bist!« sagte sie dabei.

Es war längst nicht mehr eine ganze Tafel Schokolade, und sie war auch nicht von der feinsten Sorte; aber Pitt machte ein Gesicht, als wenn ihm jemand ein Rittergut geschenkt hätte, und sprang mit funkelnden Augen davon.

»Er hat es hier ganz gut bei euch,« meinte Roselore, Pitt nachblickend.

»Wen meinst du, Rose?« fragte Liesel. »Den Papagei? Ach so, den Pitt meinst du!« Es klang etwas geringschätzig. Seitdem »Papchen« im Hause war, schien Pitt an Bedeutung verloren zu haben.

»Vater weiß noch nicht recht, was mit Pitt werden soll,« fuhr Liesel altklug fort. »Der Winter steht ja vor der Tür, und da kommen wenig Gäste heraus. Er ist ein unnützer Esser, meint Vater.«

»Aber er hilft doch überall, wo es nötig ist,« redete Roselore zu. »Und es war doch sehr gefällig von ihm, daß er sogleich dem Papagei nachgeklettert ist. Weißt du, das wäre auch ein Bild für die Zeitung gewesen! Schade, daß die Leute mit dem Auto nicht wiedergekommen sind. Aber ich werde mir zu Weihnachten einen Photoapparat schenken lassen, den bringe ich dann immer mit, wenn ich nach Biesenthal komme, und nehme Bilder für die Zeitungen auf. In Biesenthal ist immer etwas los.«

Zeitiger als sonst nahm Roselore heute von der Freundin Abschied, denn die Tage wurden jetzt merklich kürzer, und es war niemand von daheim gekommen, um sie abzuholen. Sie schied mit dem Versprechen, am nächsten Sonntag zur Schulfeier wiederzukommen, die Erlaubnis ihrer Eltern hierzu hatte sie schon erhalten.

Wie schnell war doch diese Woche verflogen! Sie war ausgefüllt mit den Vorbereitungen und Proben für Tante Lonis Hochzeitsfest. Die gesamte Klasse des Herrn Dorn sollte sich an der Aufführung beteiligen und danach bewirtet werden.

Denn das junge Lehrerpaar veranstaltete eine große Hochzeit! Herr Dorn hatte sogleich erklärt: »Gefeiert wird nach alter Sitte und altem Brauch.«

In einem feinen Hotel, wo sich anschließend an den Festsaal eine Bühne befand, war das Festessen bestellt worden. Großmutter Stelling hatte als Zugabe und besonderen Leckerbissen einige ihrer selbstgemästeten Gänse gestiftet, jener »weißen Teufel«, vor denen Pitt im Sommer die Flucht ergriffen hatte. Nun lagen sie friedlich da, mit zugekniffenen Augen und gerupften Fettleibern, und Pitt konnte unbedenklich ihre Schnäbel betrachten, die einstmals zischend und weitaufgerissen gegen ihn losgestürmt waren.

Aber auch im Gasthaus Wandler in Biesenthal gab es für den dunkelhäutigen Burschen viel zu bestaunen.

Der Saal war, nachdem er gründlich gefegt und gescheuert worden, mit bunten Wimpeln und Fähnchenketten geschmückt, die an den Wänden entlang und quer über die ganze Breite der Decke liefen. Rings am Rande waren gedeckte Tische für die Zuschauer aufgestellt, an der einen Schmalseite stand der besonders festlich dekorierte Tisch für das Brautpaar, für das Lehrerkollegium und für die Angehörigen. Roselore hatte beim Binden der Sträuße, Kränze und Girlanden geholfen, sie hatte Liesel beim festlichen Anzug beigestanden und Großmutter Stelling das schwarze Seidenkleid, das noch nach alter Mode gefertigt war, im Rücken zugehakt. Roselore trug heute, da sie ja nicht Mitwirkende, sondern Zuschauerin war, kein weißes Kleid wie die übrigen Mädel, die sich in den verschiedenen Reigen zeigen sollten. Sie hatte ein blaues Voilekleid angelegt, das die Arme freiließ, so daß sie sich frei und ungezwungen bewegen konnte. Sie machte auch von ihren freien Armen einen ausgiebigen Gebrauch, wirtschaftete überall herum und hätte am liebsten Pitt geholfen, die Gäste zu bedienen, wenn ihre Mutter es erlaubt hätte.

Nun mußte sie zwischen den Zuschauern sitzen, was ihr zuerst gar nicht behagen wollte.

Nachher aber wurde sie dessen froh. Noch niemals hatte sie den Gesangschor der Kinder so vollkommen auf sich wirken lassen können wie heute; denn wenn man selbst dabei ist, kann man keinen vollen Genuß des Gesamteindrucks gewinnen.

Wenn sie auch die gesungenen Chöre alle wohl kannte, so erschienen sie ihr heute doch neu und fremdartig. Und wie tapfer die Kinder sangen, wie frisch die Stimmen tönten!

Nicht weniger gut gefielen ihr die verschiedenen Huldigungsreigen: Namentlich der Reigen »Unter der Dorflinde« war reizend, und sie bedauerte, nicht inmitten der fröhlichen Schar sein zu können. Ein Knabe und ein Mädchen tanzten und sangen als »Edelmann und Schäferin«, und zwischendurch gab es manche hübsche Theaterszene, die zur Heiterkeit anregte. Liesel Wandler machte ihre Sache gut, sie hatte in einem Reigen der Winzerinnen mitzuwirken und dem Brautpaare zum Schlusse einen Korb mit Weintrauben zu überreichen.

Es waren genußreiche und gemütliche Stunden, in denen man deutlich herausfühlte, daß hier Lehrer, Eltern und Schüler eine einzige große Familie bildeten und einander verstanden. Die Braut empfing riesig viel Blumen von allen Seiten, Handarbeiten von den Schülerinnen und ein ganzes Arsenal von eingemachten Früchten in Gläsern, als Fundament für den neuen Hausstand. Auch an appetitlichen Würsten und einem zarten Schinken fehlte es nicht.

»Das ist ja das reine Schlaraffenland,« scherzte Fräulein Leontine, aber die Rührung über die Beweise von soviel Liebe und Anhänglichkeit waren ihr deutlich von ihrem lieben Gesicht abzulesen.

Dann kam auf einmal Liesel Wandler angeschossen. »Pitt möchte auch etwas vortragen,« sagte sie verlegen. »Darf er?«

»Gewiß,« beeilte sich die Braut zu versichern. »Ich freue mich darüber, sag' ihm das!«

Einer der Lehrer, der als Kantor an der Schule wirkte, hatte etwas mit Pitt vorbereitet. Es war das kleine Lied, das er so gern sang und das so hübsch klang in dem schwermütigen Ton mit dem Kehrreim:

Ach, sagte doch auch jemand
zu mir: »Ich hab' dich lieb!«

»Der arme Bursche hat Heimweh!« meinte Herr Dorn. »Kann's ihm nicht verdenken. Dort, wo er daheim ist, blühen jetzt die Zitronen- und Orangenbäume, singen die Vögel und plätschern die Bächlein, und die Lüfte wehen mild und düftereich. Ja ja, Liebe und Heimat gehören zusammen.«

»Heimat ist dort, wo Liebe ist,« sagte Fräulein Leontine sinnig. Da drückte er ihr herzlich die Hand.

Gar zu schnell verrannen die Stunden, und die Zeit des Aufbruchs rückte heran. Und nun trat für Tante Loni das bittere Muß zutage, einen weiten Heimweg machen zu müssen und zu wissen, daß am nächsten Morgen wieder eine weite Fahrt bevorstand.

Bedauerte sie es wohl, nicht mehr im Gasthaus »Zum wilden Jäger« zu wohnen?

Ach nein! Sie hatte ihr kleines, neues Heim schon so lieb, denn es war ja ihr eigen. Und bald, in wenigen Tagen würde sie darin nicht mehr allein sein, dann zog ihr Herzliebster zu ihr in das trauliche Nestlein. Roselore schwoll das Herz, wenn sie daran dachte. »Ich besuche Tante Loni dann oft,« nahm sie sich vor. »Es ist zu ihr ja nur halb so weit wie nach Biesenthal!«

Es gab dann eine fröhliche, gemeinsame Heimfahrt mit dem letzten Zuge, der zur Stadt fuhr. Nur die Braut war still, während die anderen scherzten. Sie hatte heute viel, allzuviel Glück und Liebe empfangen, und nun war ihr Herz voll davon.


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