Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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33. Herbstfeier

Süße, goldene Stille des Herbstes.

Das langgestreckte Gebäude des Nonnenklosters liegt zuhinterst im Tal, erhöht über seinen Wiesengründen und am Fuße der braunroten Buchenwaldhänge, die es im Halbkreis schirmend umragen. Warm und blendend zerfließt das Sonnenlicht in dem weißen Duft, der über dem Gelände schwebt; und wird doch durch eben diesen Duft wieder sanft gemildert, so daß es nur wie eine gütige Liebkosung über Erde, Mensch und Tier hinflutet. Es ist die Stunde, wo die frommen Schwestern im hoch eingefriedeten Garten sitzen oder wandern, die letzten Blumen und summenden Bienlein betrachten und der Welt, in der sie trotz ihrer Andacht immer noch leben, einen verzichtenden Blick gönnen . . .

»Kann man an solchen Tagen glauben, Schwester, daß das Leben einst so bitter war?«

»Wohl, dir, Schwester, wenn du es nicht kannst! – Mich erinnert gerade diese Jahreszeit immer aufs neue an mein Leid, mag es auch schon volle zwanzig Jahre zurückliegen . . . Denn was ist bitterer, als ein lange ersehntes Glück endlich in den Händen zu halten – und alsbald mitansehen zu müssen, wie es einem unaufhaltsam durch die Finger rinnt?«

»Du hast recht: Es sind fast zwanzig Jahre her, seit wir beide kurz nacheinander hier unsern Frieden suchten; und nie haben wir darüber gesprochen, was uns hierhertrieb. Warum sich gegenseitig die Wunden aufreißen? Aber wenn die deine 424 immer noch blutet, so tröstet dich vielleicht, daß auch die meine noch brennt. Mein einziges Kind – ein Mädchen, so schön und gut wie dieser Sonnentag – zog mit jenen verblendeten Scharen ins heilige Land; und nie wieder haben wir etwas von ihm gehört. Heute noch frage ich mich: Ist sie tot? Lebt sie noch? Und wenn sie lebt, irgendwo, warum sandte sie niemals Nachricht? – Gott weiß es.«

»Schwester, du hast dein Kind leiblich verloren; mir aber hat sich die Seele des Jünglings, der mein starker, herrlicher Mann war, langsam, unrettbar verdunkelt und entfremdet, während ich ihn in diesen Armen, an dieser Brust hielt. Auch er war bei jenem Kreuzzug mit dabei und brachte, ohne daß er selber es wußte, sein Gemüt krank von den Greueln, die er geschaut und erlebt hatte, in die Heimat zurück! Was gibt es Furchtbareres, als einsehen zu müssen, daß selbst die größte Liebe sich als zu schwach erweist, in einem Menschen das Entsetzen über diese Welt zu besiegen und ihn zum Weiterleben zu überreden? Aber freilich: auch wir haben nachher dieses Dasein nicht mehr ertragen und haben uns hierhergeflüchtet, als wir uns am Ende unserer Liebe sahen, bevor unser Leben zu Ende war . . .«

»Schwester, ich blicke auf die Zeit, wo ich in der Welt war, wie auf ein anderes, früheres Dasein zurück. Wir sind zwar immer noch auf Erden, aber doch nicht mehr in der Welt: eine lange Wartezeit war und ist uns vielleicht noch beschieden, bis Gott uns in sein Reich aufnimmt und wieder mit denjenigen unserer Brüder und Schwestern zusammenbringt, die uns vorausgegangen sind. Dann werden auch wir, wie sie schon längst, aus dem trüben Qualm dieser Endlichkeit in die himmlische Verklärung eingehen und in ihr alle Geschöpfe in jener 425 ursprünglichen Reinheit und Schönheit erblicken, in welcher sie im Geiste des Schöpfers von Anfang an dastanden und von welcher wir in ihnen, solange sie lebten, in seltenen Augenblicken jenes Aufleuchten erkannten, das uns dessen ein Zeuge war: meine Ellenor wird endlich wieder in meine Arme eilen und mich und ihren Vater, der sich über ihren Verlust zu Tode grämte, in der ewigen Heimat empfangen, wo wir sie in der irdischen nicht wiedersehen durften . . .«

»O Schwester, Schwester: du hast länger dieses Dasein ertragen und bist besser in Gott eingedrungen! Laß an deinem Glauben den meinen stark werden, daß mit diesem Leibe alle Verdunkelung der Seele, mit diesem Leben alle Bitterkeit der Welt von uns armen Menschen abfalle, so daß wir einander wieder erkennen, wie wir wirklich sind! Dann wird auch mein Gerold mich nicht mehr von sich stoßen, wie er zuletzt tat; und mich nicht mehr eine Verführerin zu jener Sünde nennen, die Schuld an allem Weltübel sei; und nicht mehr als Sünde fliehen, was ihm und mir so lange Seligkeit war! Ich habe ihn als Weib, als Mutter, als Freundin geliebt und dennoch zuletzt alle Pforten seiner Seele verschlossen gefunden . . .«

»Verlieren oder Nichtmehrfinden! Ist es nicht dasselbe? Nämlich nur ein verschiedenes Erleben jener Tatsache, daß der Tod oft und oft in unsere Seele greift und dort Ernte hält, bevor er endlich auch den Leib mitnimmt? Aber eben dieses Sterben in der Seele, dieses soviel schmerzlichere, macht uns reif für die letzte Auflösung, wo nach so manchem Blust und Früchtesegen, der durch die Krone des Baumes zog, endlich auch der Wurzelstock zerfällt . . .«

»O Schwester, du weißt nicht, was ich litt, als mich sein erster Blick des Hasses traf, mit Furcht und Angst vermischt, wie 426 bei einem gehetzten Tier! Am andern Morgen war er von meinem Lager und aus der Burg verschwunden; und drei Tage lang wußte ich nicht, wo er war. Bis man ihn zuletzt auf dem Grunde einer Schlucht zerschmettert auffand . . . O, wenn ich glauben dürfte, daß er drüben wieder sein wird, der er früher war, und mich wieder sehen wird als die, die ich immer noch bin! Aber sollten nicht im Busen des Schöpfers, wo alles Lebendige sich vereinigt, auch alle seine heimgekehrten Kinder sich wiedererkennen und inniger zusammenschmelzen, als sie hier jemals es tun konnten? . . . Mit all seinen Geschöpfen – denke ich oft – tafelt Gott in ewiger Herrlichkeit; und dieses Erdenleben dauert nicht länger, als dort einer von dem immerwährenden Mahle der Liebe ans Fenster tritt, hinausschaut und wieder an seinen Platz zurückkehrt . . .«

»Begreifst du nun, Schwester, warum mir dieser goldene Tag wie ein Sinnbild der Seligkeit erscheint? Nicht in Sturm und Gewitter: im sanften Säuseln wohnt der Geist Gottes! Dort, wo sich auch die geschaffenen Geister einander nähern wie Blätter, die leicht wie Schäume durch die Luft hinschweben, von unsichtbaren Händen zusammengeführt! Dort, wo wir keinen Mund und keine Arme mehr brauchen, um uns mit ihnen wie mit schweren Werkzeugen unsere Liebe kundzutun; sondern wo schon der bloße Gedanke, nein, das bloße Gefühl im andern das Echo und die holde Gewißheit erweckt: Du und Ich! O, wie tief liegt dann diese Erde unter uns, hinter uns . . .«

»Gesegnet sei dieser Tag, der dir die Lippen löste, Schwester, und mir meinen Glauben entband! Mögen immerhin die Menschen sagen, daß ich tief in der Sünde wandelte: Vielleicht wollte ich auf Erden nur, was man erst drüben in ungetrübter Reinheit kann: ganz mich hingeben, ganz mich verschenken; 427 nur soweit glücklich sein, als ich glücklich machte. Wenn meine ergrauten Haare einst weiß sind wie die deinen, liebe Freundin, so werde auch ich nur noch im Geiste leben und meinen welken Leib als ein Kleid betrachten, aus dem sich die Seele langsam zurückgezogen hat, weil sie es doch eines Tages ablegen muß – und zuletzt, wenn sie mit Gott innerlich eins ist, auch ablegen will. Schon in der Welt empfand ich oft schmerzlich, was für ein dunkles und unzuverlässiges Gefäß dieser Körper ist für die Wonnen, deren die Seele sich fähig weiß; und sehnte ich mich darnach, daß bereits in der Gebärde der dargebotenen Lippe der Kuß enthalten sein möchte, der sie beseligt. Und immer mehr wächst diese Sehnsucht groß in mir, nur noch ein Funke unter Funken zu sein in der Sonnenbrust des Schöpfers und zugleich Teil zu haben an dem Licht, das er durch die Welt ergießt . . .«

»Deine Sehnsucht wird dir nicht unerfüllt bleiben, Schwester! Siehst du, wie selbst hier nahebei, auf unserm Friedhof, alles in warmen, goldenen Frieden gebettet liegt? Dieser duftigblaue Himmel senkt etwas von seiner Ewigkeit in unser Leben hinab; wir empfinden ihn wie ein Echo jener Ewigkeit, die wir im Herzen fühlen und die wohl für das irdische Dasein mit diesen hinfälligen Gliedern verbunden, aber gewiß nicht an sie gebunden ist. Wenn wir einst von drüben auf diese Stätte hier zurückblicken, wo unsere Leiber liegen, so werden sie uns wie alte, morsche Fahrzeuge vorkommen, die am Strande dieses wilden Meeres vergessen modern und von seinem dumpfen Wogenschlag langsam aufgelöst werden, derweil wir uns auf der Insel der Seligen freuen. Wie manche von unsern Schwestern haben wir doch begraben! Auch von mir wirst du eines Tages, was an mir irdisch ist, hier der Erde wiedergeben. Wisse dann, daß ich dem Bruder, dem immer noch deine Liebe gehört, von 428 dir künden werde, und daß ich dich an dem Tage, wo du mir nachfolgst, mit ihm zusammen drüben erwarten will . . . Horch, das Vesperglöcklein läutet! Laß uns zur Andacht einkehren und im Gebete uns Gott ergeben, der uns aus seiner Allmacht hervorgehen ließ, um uns, wann immer es ihm gefällt, in sie zurückzunehmen . . .«

Sie erheben sich von der steinernen Bank, auf der sie gesessen haben, und bewegen sich, zusammen mit andern dunklen Gestalten, nach der Klosterkapelle. Bald ist auch die letzte der Frauen, die irgendwo in Gedanken saß oder stand – in die herbstliche Feier der Natur hinausträumend und durch ihr irdisches Gold hindurch das ewige Leuchten des Paradieses erahnend – in dem weißen Gebäude verschwunden; und einsam liegt der ummauerte Garten wieder an der Berghalde da, überwacht von den herbstlichroten Waldhängen, die sich mit dem grünen Wiesengrund in das reife Licht der sinkenden Sonne teilen. Den abgeweideten Matten aber entsteigen rauchende Abendnebel, formen sich langsam, wie ein Nachklang entschwundener Wesen, zu einer bleichen Dämmerprozession und schweben zuletzt immer dichter um die kleinen Zellenfenster, hinter denen die Nonnen, eine jede allein, die Nacht verbringen.

 


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