Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

32. Auf der Grenzwacht

Die Bise bläst kalt und klar auf das schneelose nordische Land herab, fegt den aufgewirbelten Staub in Wolken an dunklen Wäldern vorbei, über blank gefrorene Tümpel und Teiche hinweg, und weht einen Trupp Deutschritter, die mit ihren weißen Mänteln wie ein menschgewordener Winter die Heide durchtraben, von ihrem Wachtritt gegen die heidnischen Preußen in den Hof der schwer ummauerten, einer Festung gleichenden Grenzherberge hinein.

Klirrendes Ausdemsattelspringen, hartes Getrappel abgeführter Pferde, Schlagen und Stampfen der erstarrten Hände und Füße – und mit blaugefrorenen Gesichtern verschwinden Ritter und Knechte im Innern des breiten Hauses. Während die Ritter die Stiegen in den Saal hinaufpoltern, drängen sich die Knechte zu ebener Erde vor dem Eingang in die Schenke, aus der ihnen die rotgoldenen Flammen eines riesigen Kaminfeuers entgegenlodern, die von der Glut beleuchteten Gesichter bereits eingetroffener Gäste neugierig-gespannt entgegenschauen. Wie die Wölfe fallen die Hungrigen über den Braten her, den der Wirt vom Spieß abschneidet, und über die vollen Holzbecher, die ihnen gereicht werden! Vergessen ist die bittere Kälte des klaren Abendhimmels, durch welchen, von keiner Dunstschicht abgehalten, die Todeskühle des Weltalls auf die Erde herniedersinkt; vergessen auch der schneidende Nordwind, der wie das dürre Klingeln der über das weite Land hingeschlagenen Frostfesseln um den Dachfirst saust und die rasenden 416 Arme des Kaminfeuers zu sich emporreißt. Ein Gefühl der Sattheit und aufquellenden Schwere erfüllt allmählich ihre Leiber mit der behaglichen Zuversicht der Kraft; und wie sie jetzt alle im Kreise um die auf russigschwarzem Hintergrund lodernde, züngelnde, sprühende Glut herumsitzen und von Zeit zu Zeit den Becher den Lippen zuführen, ist es ihnen, als sei dieses das einzige Feuer in der Welt und alles außerhalb ihm nur ein grauer Wintertraum.

Jetzt erst kommen sie auch dazu, die übrigen Gäste zu betrachten. Ein paar Kaufleute sind da, die in der Herberge nicht nur Unterkunft, sondern zugleich für ihre Waren die besten Kunden finden; und ein alter Mönch, welcher wie ein unauffällig forschender Vorbote erscheint, den die Kirche hinter den Schwertern der Deutschritter hersendet und dem noch weitere folgen werden, sobald einmal aus der Verteidigung Angriff geworden und dem Glauben neuer Boden hinzugewonnen ist. Aber während die Händler der leiblichen Notdurft so gut wie der Mittler des Seelenheils ihnen gleichgültig sind und vor ihren Blicken bald einmal nur noch wie in einem trüben Dunste schwimmen, fühlen sie, daß sie selber zum Gegenstand einer immer größeren Anteilnahme werden: gehören sie doch als Knechte der Deutschritter zu dem einzigen Schutze, den diese äußerste christliche Grenzmark des Nordens, mit der Zustimmung des Kaisers, aus dem heiligen Lande herrief.

»Es ist doch immer noch besser, wenn man mit dem Schwerte gegen die Heiden kämpft, statt mit leeren Händen!« bricht der grauhaarige Mönch das Schweigen, indem er mit wohlwollendem Lächeln die reisigen Gesellen betrachtet.

»Ha! Wer ist denn einmal ein solcher Narr gewesen, das 417 zu glauben?« prustet einer der Kaufleute los und greift nach dem Kruge. »Ich jedenfalls nicht!«

Stephan merkt, wie ihm das Blut in die Wangen schießt. Hatte nicht auch er einst zu diesen Narren gehört? Er schleudert einen schweren Tannenklotz in die Kaminglut, die wild aufstiebt und sich dann stillgeschäftig über die neue Nahrung hermacht; zugleich aber lauscht er auf jedes Wort, das um ihn herum gesprochen wird. So wie man aus einer sichern Burg heraus die Veränderungen des Wetters oder die Verschiebungen feindlicher Truppen beobachtet.

»Ihr seid eben alle jung und habt noch nicht viel erlebt«, redet der Mönch vor sich hin. »Aber es sind kaum fünfundzwanzig Jahre her, so zogen durch ganz Frankreich und Deutschland Tausende von Kindern, die das heilige Grab den Heiden entreißen wollten . . . Habt ihr davon nie etwas gehört?«

»Mag wohl sein,« mischt sich der Wirt ins Gespräch. »Doch wer könnte alle die Narrheiten im Sinn behalten, die auf dieser Erde schon versucht worden sind? Und besonders wir, die wir sozusagen am Rande der Christenheit leben! – Möchte übrigens wissen, Bruder, warum dir das eben jetzt einfällt!«

»Gottes Wege sind wunderbar!« versetzt der Mönch, zu den reisigen Knechten gewendet, die ihre Schwerter neben sich liegen haben. »Ihr wißt wenigstens, wer euch gegen die Preußen schickt: das ist euer Großmeister Hermann von Salza . . . Aber wußten jene unseligen Kinder, wer sie in ihr sicheres Verderben sandte?«

Was will dieser Mönch? denkt Stephan bei sich selbst. Er hat das Gefühl, als habe ein Spion seine Fährte entdeckt, seine Maske durchschaut und wolle ihn im nächsten Augenblick zur Rechenschaft ziehen; und mit der Gewalttätigkeit, an die ihn 418 das Kriegshandwerk gewöhnt hat, greift er, als machte er sich am Kamin zu schaffen, nach einem großen glühenden Scheit: er ist entschlossen, dem Mönch, bevor er das entscheidende Wort über die Lippen läßt, den Schädel einzuschlagen. Er will nicht mehr aus der Seelenruhe seines pflichttreuen Kriegerlebens herausgerissen werden.

»Weißt du es etwa, Bruder?« lacht einer der Kaufleute mit jenem Lachen, dem in seiner Behaglichkeit alles gleichgültig ist.

»Ja. Seit etwa sechs Wochen weiß ich's!« nickt der Mönch geheimnisvoll, so daß auf einmal aller Blicke an seinem Munde hangen. Auch hat dieser und jener sich inzwischen erinnert, von dem absonderlichen Kreuzzug gehört zu haben.

»Wer denn war es, frommer Bruder?« ruft da Stephan vom Feuer her. »Ich habe in Jerusalem einen gekannt, der war auch mit dabei gewesen und hat mir erzählt, was für Leiden sie durchmachen mußten.«

Die jähe Angst, man könnte es auf ihn abgesehen haben und ihm die Verantwortung an dem ganzen furchtbaren Geschehen aufladen wollen, ist auf einmal einer tiefen Neugierde gewichen. Was verschlägt es auch, wenn jetzt sein Name genannt wird? Wieviel Stephane gibt es in der Welt!

»Vor kurzem« – beginnt der Mann in der Kutte – starb in unserm Kloster ein Mönch, welcher sich Bruder Hieronymus nannte und bei uns vor vielen Jahren als ein im Geiste völlig Verstörter, der kein Woher und Wohin mehr wußte, aufgenommen worden war. Wenige Tage vor seinem Tode rief er uns alle zusammen und legte vor uns ein Geständnis ab, das uns zur Erklärung dafür wurde, warum er sich zeitlebens mit quälerischen Selbstvorwürfen geplagt hatte: Er sei es gewesen, berichtete er, der einem Schafhirten einen Brief des Heilands 419 übergeben und ihn zum Zuge in das heilige Land aufgefordert habe! Und lange Zeit habe er wirklich geglaubt, diesen Brief eines Nachts im Traume aus des Heilands eigener Hand empfangen zu haben; ja, er sei selber zuerst dem Hirtenknaben vorausgeeilt und habe die Leute auf sein Kommen vorbereitet. Wie dann aber das ins Große gewachsene Unternehmen fehlschlug und das ganze Abendland von Wehklagen erscholl über den Untergang der Kinder, da hätten ihn immer größere Zweifel befallen; und immer deutlicher habe er sich, gleichsam in weiter Ferne, in seiner Zelle stehen sehen, wie er sich mit einem spitzen Holz in den linken Arm stach und dann mit dem rechten Zeigefinger ein blutiges Kreuz auf ein Stück Pergament hinmalte. Ohne Zweifel habe er damals dem Teufel als Werkzeug gedient, wo er doch Gott zu dienen glaubte; und so wolle er denn wenigstens zum Schlusse seiner Seele jene Erleichterung verschaffen, die ihm trotz Beten und Fasten in all den Jahren fremdgeblieben sei. Gott wisse ohnehin alles; aber vor den Menschen möchte er seine Schuld bekennen . . .«

Alle schweigen. Einige der satten Kriegsknechte denken: Ihnen schreiben ihre Herren vor, was sie tun sollen; diesen der Großmeister. Aber wer steht hinter ihm? Der Kaiser Friedrich? Und wer gibt dem ein, was er tun soll? Schließlich erhält jeder von irgendwoher sein »Sendschreiben«! Und sie schauen in das Kaminfeuer, wo ein schwarzgebrannter Holzstoß von blauen Flämmchen so still umloht wird, daß sie wieder den Sturm übers Dach hinsausen hören.

Stephan aber ist es, als schaue er in das Räderwerk seiner Lebensuhr hinein, von der er bisher immer nur das Zifferblatt sah. Was ihn früher auf das tiefste erschüttert hätte, das erscheint ihm jetzt nur wie eine Bestätigung jenes eigenen Zweifels, 420 der ihn einen Augenblick durchzuckt hatte, als der Pilger ihm den Brief übergab: Warum anders kämpfte er ihn nieder, als weil der Fremdling ihm eben das sagte, was er selber zu hören wünschte? Also war der Teufel mindestens so sehr in ihm wie in dem vermeintlichen Boten Gottes mächtig gewesen! Aber war es wirklich der Teufel?

»Ich kann nicht glauben, daß der Böse ein frommes Unternehmen ins Werk setzte, auch wenn es einen schlimmen Ausgang nahm,« spricht Stephan in die Stille hinein. »Und überhaupt: Wenn Gott allmächtig ist, sollte er da nicht auch das Böse geschaffen haben? Ich denke oft, es ist für ihn nichts anderes als die dunkle Tafel, auf die er seine lichte Schrift schreibt –«

»Das ist der Stephan!« lacht einer seiner Kameraden. – »Er denkt wieder über die Schöpfung nach!« stichelt ein anderer. – »Du kannst ja gar nicht schreiben, Stephan . . .«, ein dritter.

»Dafür bin ich auch nicht der Herrgott!« gibt Stephan zurück und macht sich wieder am Kaminfeuer zu schaffen, wo der Holzstoß eben mit vielem Funkengestiebe zusammengebrochen ist. Aber jetzt werden keine Scheiter mehr nachgelegt; bald ist Schlafenszeit.

»Natürlich,« redet einer der Kaufleute gemächlich vor sich hin: »Wenn es den Buben und Maitli nicht selber gefallen hätte, in der Welt herumzuschwanzen, so wären sie auch nicht hinter einem falschen Brief hergelaufen . . .«

Das ist doch sonnenklar! Und alle stimmen ihm bei und wenden dann ihre Gedanken wieder etwas anderem zu. Den heidnischen Preußen, die sich so hartnäckig dem christlichen Glauben widersetzen. Den tapfern Deutschrittern, die ihnen über kurz oder lang den Fuß auf den Nacken setzen werden.

421 Übermächtig lastet die Müdigkeit des Tages auf ihnen. Schon fangen einige an, sich da und dort auf den herumliegenden Decken und Fellen ihr Lager zurecht zu machen; denn alles schläft in der Nähe des Kamins, wo die aschenbedeckte Glut eine starke Wärme ausströmt. Gleichwie die Ritter droben im Saal, von denen man die schweren Schritte immer spärlicher hört, um ihr Feuer herum schlafen.

Nur Stephan schläft nicht. Er bemerkt, wie in dem dämmerigen Raum, in den durch die hohen, vergitterten Fenster das kaltsilberne Licht des Vollmonds einfällt, einer nach dem andern zu schnarchen anfängt; und er lauscht auf das letzte, leise Knistern der Kaminglut in seinem Rücken und auf den draußen eisig Dach und Mauern umsausenden Wind. Und er staunt durch diese dem leiblichen Ohr vernehmbaren Geräusche hindurch in jenes lautlos-rastlose Getriebe der Welt hinein, das unentwegt den bunten Teppich des Lebens aus dem Nichts wirkt und in das Nichts verwirft.

Wenn er jedes einzelne der Kinder, welche er einer von ihm selbst brünstig ersehnten Glückseligkeit glaubte entgegenzuführen, mit eigener Hand ermordet hätte: das läge jetzt ebensogut im Vergangenen wie sein Jugendglaube und seine Jünglingshoffnungen! Nur wenig über den Kreis der Gegenwart hinaus reichen die Begriffe von Schuld und Verdienst: dann versinkt alles in ein gleichgültiges Grau, das keine Farben kennt; und niemand begreift mehr, wie man sich einmal über ein Rot oder ein Grün aufregen konnte. Ob er auch zu den Streitern des Glaubens gehört, er täuscht sich nicht darüber: Ihn hat die Welt fest eingefangen und ihren Alltagszwecken dienstbar gemacht; und so wird sie ihm wohl auch ihr Schicksal bereiten.

422 Er ahnt, daß sie morgen zu einem größeren Heerestrupp stoßen werden; und daß nur der Frühling abgewartet wird, um die heidnischen Preußen zu bekriegen. Wer weiß: Vielleicht liegt er in wenigen Wochen schon irgendwo erschlagen auf dem grünen Anger; vielleicht auch ein anderer, der ihm nie etwas zuleide getan hatte, von seiner Hand erschlagen! Blind fallen die Würfel in diesem rätseldüstern Dasein – Wer dürfte sich darüber beklagen?

Vielleicht aber ist dieses ganze Leben wirklich nur ein Schattenspiel; und die Flamme, die einst ihre jungen Herzen durchglühte, das einzig wahre Licht. Und vielleicht wurde es ihm nicht anders verdunkelt, als es überhaupt einem jeden im Laufe der Jahre von der zunehmenden Schwere alles Körperlichen verdunkelt wird; und er darf hoffen, daß er doch noch einmal auf den alten Quell der Sehnsucht stößt und in ihm Verjüngung erfährt. Wenn er sich nur diesem Zwange des Alltags entziehen könnte, wie er sich schon einmal in der Jugend aus den Banden der Gewöhnlichkeit losriß – nur daß es damals die äußere Welt zu erobern galt, während er heute die innere sich zurückgewinnen möchte . . .

Da fallen Stephan die Augen zu; und ein schwerer Schlummer entrückt ihn allen weiteren Fragen. Er unterscheidet sich in nichts mehr von den andern Gästen dieser Herberge, die um ihn herumliegen wie einst an frühlingsgrünen Hängen sein jugendliches Kreuzfahrerheer. Es sind alles Menschenlarven, in welchen der Schmetterling Seele von der Auferstehung träumt . . . 423

 


 << zurück weiter >>