Konrad Falke
Der Kinderkreuzzug
Konrad Falke

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18. Eustachius und Alix

Alix steht in der Fensternische ihres Turmzimmers. Sie trägt das schlichte braune Gürtelgewand mit dem runden Halsausschnitt, das ihr noch die Mutter mit Goldfäden bestickte. Sie hat niemals ein von fremder Hand gefertigtes Trauerkleid angezogen.

Die tiefgelegenen Buchenwälder strecken tausend zerbrechlich-zarte, eben frisch begrünte Ästchen in den goldenen Abendhimmel empor. Über dem gebirgigen Horizont sinkt die Maiensonne, von der die Mauern zum erstenmal wieder warm geworden sind; und um die Firsten, die mit ihren Dächern die abgrundgleich eingesenkte Fläche des Burghofes umrahmen, schießen Schwalben hin und wieder. Bald in weiter Ferne verschwindend, bald aus ihr wieder auftauchend, erscheinen sie wie Gedanken im Antlitz der Erde, die in die Zukunft schweifen und sie in die Gegenwart hereinziehen wollen.

Der Hof in seiner Tiefe liegt gleich einem Brunnenschacht da, leer und grau; einzig der Widerschein des nachleuchtenden 74 Himmels erhellt ihn. Nichts mehr ist zu sehen von dem schwarzen Roß, den herbeieilenden Knechten, der stolzen Frau, die der Vater selber in den Saal hinausbegleitete. Nur aus den drei Fenstern in halber Höhe dringt seit einiger Zeit das klirrende Geräusch aufgetragener Schüsseln und Bestecke, miteinander anstoßender Becher und hin- und hergeschobener Kannen, untermischt von weinfroher Rede und Gegenrede; und jetzt schlägt der rötliche Schein aufgesteckter Fackeln aus ihnen hervor.

Alix senkt ihr Mädchenhaupt tiefer, so daß ihr zwei Locken in die Stirn fallen. Sie hört alles; und ihre Blicke schweifen zu den farbigen Glasscheiben der schmal und hoch in einen Hofwinkel eingebauten Schloßkapelle, wo unter der schweren Steinplatte ihre Mutter liegt. Und jedesmal, wenn aus den erhellten Fenstern im Wohnhaus Gelächter und Becherklang lauter durch den Hofraum herauftönen, hält sie in ihrer Seele mit letzten Kindeskräften den Schild der Liebe über eine wehrlose Tote, die ihr teuer ist; sie selber aber wird von einem feinen, scharfen Schmerz wie von einer glühenden Schnur umwunden und durch ihn vor einer unbegreiflichen Tatsache festgehalten, deren Geheimnis sie lösen muß. Warum fühlt sie, wenn die Gräfin über die Brücke einreitet, die Nähe einer Feindin und zieht sich in den Turm hinaus zurück, um sie, weil sie sie nicht bekämpfen kann, wenigstens zu belauschen und zu ergründen?

Seit die Mutter gestorben ist, steht so vieles, das sie vorher nicht einmal ahnte, wie eine häßliche Kröte vor ihrem Blicke. Ein unsichtbarer Schutz und Schirm, der alles Dunkle von ihr fernhielt, ist auf einmal wirkungslos geworden; die Welt schaut sie immer aufs neue mit drohenden Rätselaugen an, die sich ihr in die Seele bohren und auf deren heimliche Forderungen auch sie eines Tages – sie fühlt es – wird Antwort geben 75 müssen. Alles Unbegreifliche aber verdichtet sich ihrem siebzehnjährigen Erstaunen zu der Frage: Was besteht zwischen dem Vater und der fremden Frau?

Da nimmt drunten der Lärm zu; durch das Geschmetter umgestoßener Becher hindurch schallen derb lachende Männerworte und eine mehrfach kreischend abwehrende Frauenstimme. Und jetzt erbricht die schon fast schwarz eingedunkelte Mauerwand aus dem mittleren der drei erleuchteten Fenster etwas so Furchtbares, daß Alix droben in ihrer Nische einen halben Schritt zurücktritt, als wäre nicht der hohe Luftraum des Burghofes zwischen ihr und dem, was dort unten sich ereignet: die Gräfin ist mit trunkenem Gestammel rücklings auf das Gesimspolster gestürzt und streckt, während ihr vom Fackelschein erhelltes Gesicht über der Tiefe schwebt, die Arme, die die vollen Brüste zusammenpressen, zu nur noch schwacher Gegenwehr aus. Im letzten Augenblick scheint sie sich sogar als Verbündete ihres Verfolgers, der schwer und dunkel über sie hereinfällt, zu erklären und sein bärtiges Gesicht selber zum Kusse zu sich herniederzuziehen.

Alix ist es, als ob sich die Erde gespalten hätte und durch einen Riß in ihrer trügerisch-friedlichen Oberfläche die grauenhafte Wirklichkeit durchglühen ließe. Sie fühlt für einen Augenblick jene Spannung zerflattern, die allein die Welt in ihren Fugen und die Sterne in ihren Bahnen erhält und ohne die alles in Trümmer gehen müßte; und sie erschaudert vor diesem wahllosen Zugreifen unter der Sommersonne des Lebens, von welcher auch sie sich schon ein heimliches Fieber im Blute entzündet weiß. Die Erkenntnis durchzuckt sie, daß Sichwegwerfen und Aufgelesenwerden das Los ihres Geschlechtes sei, zwingt sie wie eine unerträgliche Last in die schwachen Knie nieder 76 und drückt ihr vor Scham beide Hände ins Gesicht, während von unten herauf mit grausamer Deutlichkeit hastig gesprochene Worte in ihre atemlos lauschende Seele dringen –

»Deine Tochter, Rudolf?« – »Wird uns bald nichts mehr vorzuwerfen haben. Die hat ja dein Pfäfflein!« – »Aber so laß doch! Denk an die Knechte!« – »Brauchst dich ja nicht ins Fenster zu legen. Anderswo ruht sich's weicher.« – »Dann hilf mir wenigstens auf, du Bär, und zeig mir wo!« – »Hab' ich es nicht? Warst nicht du's, die nicht sehen wollte . . .?«

Und was hört Alix noch weiter der dunklen Tiefe entsteigen? Ruckweises Ächzen und frohlockendes Lachen; Geräusch bauschiger Kleider, die sich aus der Zerknitterung befreien; im Saal verhallende Schritte, zugeschlagene Türen. Und dann ein Schweigen, das allenthalben wie Unkraut den Argwohn aus seinem gärenden Grund hervorsprießen läßt . . . .

Alix fühlt ihr Herz klopfen wie das einer wider Willen Schuldiggewordenen. Die drei erleuchteten Fenster sind wieder leer; der Schloßhof liegt wie ausgestorben in der Tiefe; am Himmel glitzern die Sterne. Sie preßt mit geschlossenen Augen die Stirn auf die Fensterbrüstung und krallt lange die Finger in die zuckende Unterlippe, während ein kühles Lüftchen ihr die Haare überhaucht, als wollte die Natur selber sie mitleidig trösten, weil sie sich ihr so unbarmherzig enthüllt hat.

Die ganze Burg unter ihr glüht. Ihr ist, als schwänge sich eine golden gleißende, furchtbar sprühende Fackel durch alle Gemächer und über alle Treppen, wo sie als Kind jemals stand und ging, spielte und froh war; sie fühlt, wie alles ausbrennt und wie sie selber, die sich hier hinaufgeflüchtet hat, nicht weiter fliehen kann, wenn ihr keine Flügel wachsen. Ist es wirklich die Burg ihrer Väter oder ist es ihr eigenes Herz, in welchem 77 diese Verwandlung vor sich geht und immer heftiger fordert, daß auch ihre Seele sich verwandelt – oder fortflieht?

Eine Berührung an der Schulter schreckt sie auf. Hinter ihr steht ihr Lehrmeister, der junge Mönch; sie sieht, wie er an ihr vorbei zu den roten Fensterausschnitten hinunterschaut und wie er mit schmerzlichem Ausdruck die Lippen zusammenpreßt. Hat er vielleicht, als er noch bei der Gräfin war, dasselbe erlebt, was er jetzt mitanschauen mußte? Sie weiß nicht, wann er eingetreten ist und wie lange er schon so dasteht: sie erinnert sich nur plötzlich wieder an das Gespräch, das sie vor wenigen Tagen miteinander geführt haben. Und sie blickt fragend, mit einer kurzen, fast heftigen Nackenbewegung, in sein schmales, scharf geschnittenes Gesicht – »Eustachius?«

Da gleitet seine Hand über ihren Scheitel und bleibt eine Weile auf ihrer Schulter ruhen. »Es ist wahr!« flüstert er bestätigend und küßt sie leise auf die Stirne. »Diese Nacht werden sie drunten im Tale vorbeiziehen, Tausende von Unglücklichen, wie wir es sind . . .« Und auch aus seinen Zügen leuchtet ihr eine Frage entgegen; aber er wagt nicht, sie in Worte zu fassen.

»Glaubst du nicht,« beben ihre Lippen unter seinem Blick, »daß Christus an seinem Grabe ein Wunder tut und mir meine Mutter –?« Die Tränen stürzen ihr hervor; ein hilfloses Schluchzen beugt ihr das Haupt, das sie seiner Kutte anschmiegt, während ihre Hände in die Falten greifen. – »Was für ein Wunder soll dann der Herr an mir tun?« klingt herb und nachdenklich seine Stimme über ihr. »Ich habe weder Vater noch Mutter gekannt . . .« Ein leichtes Zittern durchläuft seinen Körper, schwingt sich in die Erschütterung ihres eigenen jungen Leibes hinein und wächst mit ihr zusammen zur Welle an, die sie in ein gemeinsames Schicksal mit fortreißen wird.

78 »Eustachius – wir ziehen mit nach dem heiligen Land!« Alix springt auf, faßt ihn bei den Händen und hebt sie mit den ihren beschwörend vor sein Antlitz. Und aus seinen Augen möchte sie jenes Einverständnis hervorlocken, das ihr allein noch nottut, um alles, was ihr bisheriges Leben war, wie ein verhaßt gewordenes Kleid von sich abzuschütteln.

»Die Brücke liegt noch, und der Torwart ist eingeschlafen,« redet Eustachius vor sich hin und blickt an ihr vorbei in die Ferne. In Gedanken schaut er die Gräfin vor sich, erinnert sich ihrer fordernden Natur und begreift; aber er spürt auch in Alix die Angst des Blutes und fürchtet für sich und für sie. »Du weißt nicht, was du tun willst!« wehrt er schwach die Versuchung ab.

»Horch!« schreit sie leise auf und legt, mit ihm hinausblickend, die Arme um seinen Hals. Sie verharren beide ohne Regung: die Sterne glitzern; der Buchenwald umflüstert den Schloßberg; der Fluß rauscht von weit unten im Tale herauf. Da klingt wiederum, vom Wind bald stärker, bald schwächer hergetragen, der helle Sang junger Stimmen sehnsuchtsvoll und gläubig durch die Nacht. Die Kinder!

Es ist wie ein Pfeilschuß des Himmels: sie erraffen sich gegenseitig, an Haupt und Gliedern kalt überschauert, aufstöhnend wie Verzweifelte. Dort zieht die Heerschar Christi ihrem Vater entgegen, mitten durch eine Welt des Grauens nach dem Frieden, nach der Erlösung! Ein weißglühendes Band von Tönen leuchtet durch die irdische Dunkelheit und sucht den Weg zurück zur Heimat des Lichtes. Und sie zögern noch?

Wortlos verlassen sie die Fensternische, eilen, sich bei der Hand fassend, aus dem Gemach und die engwinklige Turmtreppe hinab, schreiten über den Hof und an dem schlafenden 79 Wächter vorbei durch das Tor hinaus, über die Zugbrücke hinweg, fort. Alix ist es, als fliehe sie eine Brandstätte; Eustachius aber geht der Erfüllung von Wünschen entgegen, die er sich selber nicht einzugestehen wagt: beide blicken sie kein einziges Mal nach der Burg zurück, um ja nicht in ihrem Entschlusse wankend zu werden. Auf wohlbekannten Pfaden wandern sie stundenlang durch die Maiennacht, bis sie unten im Tale an der großen Straße anlangen.

Dort setzen sie sich auf das grüne Rasenbord und harren des Pilgerzuges, daß er sie mitnehme. Sie hören jetzt den Gesang nicht mehr: aber es ist Gesang in den Lüften; Gesang in ihren hoffenden Herzen. Und während sie so Seite an Seite sitzen, spielen ihre Finger miteinander und gestehen sich heimlich ein, daß sie sich zu einem Unternehmen auf Leben und Tod verbunden haben . . .

 


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