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Dritter Teil.
Tagesanbruch

XVIII. Rast für die Müden

Am Abend eines stürmischen und regnerischen Novembertages drängten sich in einem Postamt der Müllerstraße in Berlin N die Menschen. Offenbar wurde der warme Raum zugleich als Wärmehalle benutzt, denn viele heruntergekommene Leute standen herum, von denen manche nichts an den Schaltern zu tun hatten. Unter ihnen ragte ein Mann mit hohlen Augen und struppigem Barte hervor, der fast unablässig hustete. Er schob sich zum Schalter durch und fragte:

»Sind Postsachen für Arno Müller da?«

»Jawohl, hier ist ein Brief und dann ist noch eine Geldsendung eingetroffen.«

»Ich habe aber keinen Ausweis hier.«

»Schadet nichts, denn Sie sind uns seit langem persönlich bekannt.«

Der Mann nahm Brief und Geld in Empfang, quittierte und wandte sich an ein hohlwangiges Weib, deren Wangen abgegrenzte rote Flecken trugen und deren Augen einen fiebrigen Glanz hatten.

»Komm, Elsbeth, wir wollen wieder gehen.«

Auf der Straße sagte Arno: »Beides ist aus Konstantinopel.«

Sie hatten einen langen Weg zurückzulegen, bis sie aus der Stadt herauskamen und auf ein kleines, halbverfallenes, einsam stehendes Häuschen zusteuerten. Auf ihr Klopfen öffnete ein Jude in langem Kaftan.

»Seid willkommen in meinem Hause, das jetzt auch euer Haus ist.«

»Wir sind dir so dankbar, Abraham, daß du uns einen Unterschlupf gewährst.«

»Keinen Dank; sind wir doch Brüder in Jeschua dem Messias.«

Arno und Elsbeth hatten sich inzwischen erschöpft auf zwei wackeligen Stühlen niedergelassen.

»Habt ihr auch gehört, was aufregt alles Volk?« fragte der Jude.

»Nein, was ist geschehen?«

»Es ist ein Jubel unter den Leuten und morgen sollen sein überall große Feste, denn der ›Schrecken der Erde‹ ist nicht mehr.«

»Haben die Schergen des Antichrists die beiden Zeugen gefaßt?«

»Sie haben lange nicht gewagt, ihnen etwas zu tun, denn sie hatten Angst vor dem Volk. Nun aber haben sie sie von hinten erschossen. Drei Tage haben die Leichen gelegen auf den Straßen von Jerusalem; niemand wagte sie anzufassen. Dann waren sie verschwunden. Das Volk aber sagt, sie seien auferstanden und dann sichtbar gen Himmel gefahren. Viele wollen das gesehen haben.« Offb. 11, 7-12.

»Es muß alles erfüllt werden, was die Propheten geredet haben«, sagte Elsbeth; sie zog ihr Neues Testament heraus und las daraus, von häufigem Husten unterbrochen, das elfte Kapitel der Offenbarung Johannis.

»Aber noch mehr ist geschehen, wie die Abendzeitungen berichten. Es sind veröffentlicht worden neue Gesetze gegen die Christen. Der Antichrist hat durch den Tod der zwei Zeugen wieder Mut bekommen. Die des ›Hochverrats‹ gegen den Volksstaat verdächtigen Christen sollen nicht mehr kommen in die Zuchthäuser, denn diese sind ganz überfüllt – sondern sollen kurzerhand erschossen werden. Und – die Kirche Israels soll unterliegen denselben Gesetzen, wie die übrigen Christen!«

»Ach Herr, wie so lange!« rief Arno aus.

»Die Welt feiert Feste, jubelt und jauchzt«, sagte Abraham, »aber sie hätte Grund zu heulen und zu klagen. Den Kindern Gottes aber gilt die Botschaft des Propheten: ›Tröstet, tröstet mein Volk und predigt ihm, daß seine Drangsalszeit ein Ende hat.‹ Denn bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr und sein gefangen Volk erlösen.«

»Die Gemeinde fleht ja Tag und Nacht um Verkürzung dieser großen Trübsal. Nun wird sie noch des letzten Schlupfwinkels beraubt, wo sie sich gemeinsam stärken konnte aus Gottes Wort. Auch das gläubige Israel und seine Versammlungen sind jetzt vogelfrei! Das werden wir hier auch schmerzlich zu spüren bekommen; denn nun wird die ungläubige Minderheit der jüdischen Gemeinde mit Jubel wieder einziehen in die große Synagoge in der Oranienburger Straße!«

»Laßt sie nur machen! Ihre Stunden sind gezählt. Der Herr ist doch herrlich in den Versammlungen seiner Heiligen. Er wohnt unter dem Lobe Israels.«

Elsbeth hatte eine Weile regungslos gestanden. Nun weiteten sich ihre Augen, sie schaute wie in weite Fernen, erhob die Arme und rief: »Seht ihr nicht? Hört ihr es nicht? Die himmlischen Heerscharen und die vollendete Gemeinde, sie jubeln und triumphieren schon jetzt: ›Die Reiche der Welt sind des Herrn und seines Christus geworden und er wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit.‹«

Doch horch! Hörte man nicht ein Geräusch am Fensterladen und Schritte vor dem Haus? Abraham stand auf und schlich leise hinaus.

Nach einer Weile kam er zurück und verschloß vorsichtig hinter sich die Tür. »Wenn die Katze durchs Haus schleicht, verbergen sich die Mäuse in ihren Löchern«, sagte er leise. »Ich glaube, es war ein Kriminalpolizist; ich befürchte, ihr seid bei mir nicht mehr sicher.«

Arno legte schützend seinen Arm um die Schultern seines Weibes und erwiderte: »Der Herr wird uns den Weg zeigen, den wir wandeln sollen. Morgen früh, ehe es hell wird, wollen wir aufbrechen.«

Ein kärgliches Mahl, von Elsbeth bereitet, erquickte die drei in Jesu Gemeinschaft verbundenen Menschen; dann zog das Ehepaar sich in eine kleine Kammer im Dachgeschoß zurück. Da fiel Arno der Brief und das Geld ein. Beim Schein einer kleinen Weihnachtskerze las er Hassos Brief vor.

Voller Freude teilte dieser den Geschwistern seine Verlobung mit Elpis Basilides mit und lud sie auch im Namen seiner Braut und Herthas herzlich zur Hochzeit ein. »Du mußt uns trauen, lieber Bruder, und wir hoffen ganz bestimmt, daß du uns keine Absage gibst. Und wie ihr uns die Reise zu eurer Hochzeit ermöglicht habt, so bitten wir, Hertha und ich, euch herzlich, das gleiche auch von uns anzunehmen. Mit gleicher Post senden wir euch das Reisegeld zu.« Arno kamen beim Lesen die Tränen in die Augen. Er zog Elsbeth an sich und sagte, indem er sie auf die Stirne küßte: »Ist es nicht wunderbar, wie der Herr uns so freundlich hilft? Sieh, wie er schon lange für uns den Weg bereitet hatte. Nun müssen wir aber gleich morgen abreisen. Wie gut, daß man im Weltstaat keine Reisepässe mehr braucht!«

»Mein Arno! Wie gut ist der Herr!«

Nach inbrünstigem gemeinsamen Gebet suchten sie ihr ärmliches Lager auf. Am Morgen, als es noch dunkel war, wachte Arno auf und weckte Elsbeth. »Liebchen, heute ist ein entscheidender Tag für uns; aber der Herr, der uns den Weg gezeigt, wird uns helfen.« Arno machte Licht, las einen Schriftabschnitt und betete, dann erhoben sich beide. Als sie fertig waren, taten sie ihre wenigen Habseligkeiten in ein Bündel und gingen hinunter. Abraham war schon wach geworden. Er war erstaunt, von der Wendung zu hören, die die Sache des Ehepaares genommen.

»Nun ist noch eine Schwierigkeit zu überwinden«, sagte Arno zu Abraham, während Elsbeth Feuer machte, um Kaffee zu kochen. »Wir können nicht ohne unser Kind reisen, denn wir wissen ja nicht, ob und wann wir wieder zurückkommen können. Unser Kind ist, wie du weißt, Abraham, bei meiner Schwiegermutter.«

»Seid getrost, der alte Abraham wird schon Rat schaffen. Wann reist ihr ab?«

»Mittags geht ein Schnellzug nach Breslau.«

»Ich werde gehen zu Frau Werner und sie wird bringen das Kind zur rechten Zeit auf den Schlesischen Bahnhof.«

»Gott lohne dir, Abraham, deine Liebe und Fürsorge!« Mit zufriedenem Herzen genossen diese armen Menschen, die doch so reich waren in ihrem Gott, ihren schwarzen Kaffee und ihr trockenes Brot und nahmen dann herzlich Abschied voneinander.

Die elektrischen Bahnen gingen noch nicht. So hatten sie eine weite Wanderung bis zur nächsten Ringbahnstation, auf der sie einen Frühzug nach Grunewald bestiegen. An der Villa des Warenhausbesitzers Kahn klingelten sie. Das Mädchen, das noch verschlafen gähnte, schüttelte gerade einige Decken aus einem Fenster aus. Als sie das Gartentor öffnete, brummte sie das Ehepaar an: »Na nu, wat wollen Sie denn in aller Morjenfrühe?«

»Können wir Herrn oder Fräulein Kahn sprechen?«

»Wat denken Sie denn, zu dieser Tageszeit?«

»Ja, wir müssen sie notwendig sprechen.«

»Na, denn wer ick mal det Freilein wecken.«

Nach kurzer Zeit kam sie wieder.

»Freilein war schon uff; se wird jleich kommen. Sie möchten rin kommen.«

Das Mädchen führte sie in ein elegantes Zimmer. Bald kam Rebekka, der Engel der Verfolgten, und begrüßte sie freundlich.

»Wir möchten Sie herzlich bitten um die Sachen, die Sie freundlicherweise für uns in Verwahrung genommen, denn wir reisen nach Konstantinopel zu unseren Geschwistern.« Arno erzählte den Anlaß.

»Nein, wie mich das freut. Sofort werde ich das Gewünschte besorgen.«

Es dauerte eine Weile, bis sie, beide Arme voll Kleidungsstücke, zurückkehrte.

»Hier ist ein Zimmer, in dem Sie sich umkleiden können.«

Bald war die Verwandlung geschehen, und niemand hätte in dem vornehm gekleideten Ehepaar die wie Bettelleute aussehenden Menschen von vorhin wiedergekannt.

»So«, sagte Rebekka, »die übrigen Sachen packe ich Ihnen in Ihren Koffer. Sie werden sie bei der langen Abwesenheit gebrauchen können.«

Bis sie den Koffer gepackt, hatte Arno durch einen benachbarten Friseur auch Haare und Bart wieder in einen Zustand bringen lassen, wie er unter zivilisierten Menschen üblich ist.

»Vater schläft noch, er hatte gestern wieder bis gegen Mitternacht in seinem Büro zu tun«, sagte Rebekka. »Aber ich hoffe, Sie werden noch einen Imbiß mit mir einnehmen; ich habe Ihnen auch noch manches zu erzählen.«

Das Mädchen, das die beiden verwandelten Menschen mit offenen Augen anstarrte, brachte duftenden Bohnenkaffee, Milch, Butter, Brot und Eier. Die Ausgehungerten langten tapfer zu. Dabei erzählte Rebekka, wie ihr Vater und sie durch alles, was sie erlebt, dem Herrn immer näher gekommen und nun ein Eigentum Christi geworden seien. Sie hätten nun nur noch einen Wunsch, mit den Versiegelten aus Israel zusammen zu sein in Jerusalem, der Heiligen Stadt. Elsbeth nahm Rebekkas Hand und drückte sie sanft.

»Wie lieb sind Sie uns immer gewesen, Rebekka! Aber nun stehen Sie uns noch inniger nahe, als liebe Schwester im Herrn.«

»Wann wollen Sie nach Jerusalem reisen?« fragte Arno.

»Sobald wir unsere Sachen hier geordnet haben.«

»Dann müssen Sie aber über Konstantinopel fahren. Wie würden wir uns freuen, Sie dort zu sehen! Aber auch um Ihretwillen ist es ratsam. Nach den gestern veröffentlichten Gesetzen teilen die messiasgläubigen Juden unser Geschick. Es gibt aber für uns gegenwärtig nur zwei Stätten, wo wir verhältnismäßig sicher sind: Konstantinopel wegen seiner augenblicklichen Rivalität mit dem Weltbundpräsidenten und das Heilige Land wegen der christenfreundlichen Politik des dortigen Statthalters.«

»Ja, Sie haben recht; ich verspreche Ihnen alles zu tun, was ich kann, damit wir über Konstantinopel reisen.«

Endlich mußte an den Aufbruch gedacht werden. Rebekka begleitete sie bis zum Gartentor.

»Jeschua, der Messias, geleite Sie!«

»Dem Herrn befohlen! Auf Wiedersehen in Konstantinopel.«

So klang es herüber und hinüber.

Mit der Stadtbahn fuhren sie bis zum Schlesischen Bahnhof, stellten dort ihren Koffer ab und machten noch manche kleine Einkäufe. Das Reisegeld war sehr reichlich bemessen worden. Da sie in diesem Stadtteil unbekannt waren, die Mäntel die Abwesenheit eines Abzeichens verbargen und überhaupt die Geschäftsleute seit einiger Zeit selten mehr sich vom Vorhandensein eines Weltbundabzeichens überzeugten, so konnten sie unbehelligt ihre Besorgungen erledigen.

Als sie gegen Mittag auf dem Bahnhof ankamen, erwartete sie im Wartesaal II. Klasse Elsbeths Mutter mit ihrem kleinen Hasso. Auch Fritz hatte die Mutter mitgebracht.

Mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit stürzte sich Elsbeth auf ihren Jungen, den sie ein Jahr nicht mehr gesehen und der seiner Mutter gegenüber zuerst sehr schüchtern und unbeholfen war. Erst allmählich schien es in seiner Erinnerung zu dämmern.

»Mutti«, sagte er und schlug die Ärmchen um ihren Hals.

»Nein Mutter, wie danke ich dir für alles, was du an ihm und uns so in der Stille getan hast!«

»Na, det is doch wol selbstverständlich, det 'ne Mutter zu ihre Kinner hält. Mach' nur keenen Schmuß mehr da drum. Ick freue mir bloß, det ihr endlich von hier wech kommt, so schwer es mich fällt, det ick dir, meine kleene Jöhre, so lange nich mehr sehen soll.« Sie zerdrückte eine Träne in ihrem Auge. »Und wie siehst du denn aus? So abjemagert! Det ist ja schließlich keen Wunder nich. Aber die rote Flecke und der Husten! Kind, du bist mich doch nich krank?«

»Liebe Mutter«, sagte Arno, »das wärmere, gesunde Klima am Bosporus wird ihr gewiß gut tun.«

Fritz erzählte den Geschwistern noch viel von dem, was er auf seinen Gängen durch die Gemeinde gesehen und erlebt hatte und entrollte vor ihnen ein Bild nach dem anderen von den furchtbaren Leiden, die über die Gemeinde Gottes gingen, aber auch von so vieler treuer Hilfe, die ihnen im verborgenen zuteil wurde.

Arno hatte, seit die Polizei ihr Versammlungslokal in der unterirdischen Kaschemme entdeckte, nicht mehr predigen können und hatte als ein von der Kriminalpolizei Gesuchter, dem sie schon zuweilen ganz nahe auf den Fersen gewesen, sich in seinen Hausbesuchen eine große Beschränkung auferlegen müssen. So war er über die letzten Vorgänge gar nicht mehr so auf dem laufenden.

Nach manchem Wort gegenseitigen Ermunterns und Trostes mußte Arno die Fahrkarten lösen, und bald waren die Minuten des Abschieds vorüber, die deshalb so schwer sind, weil man nie weiß, ob man einander nicht zum letzten Male gesehen.

»Endlich einmal Ruhe, endlich seit Jahren sicher vor der Verfolgung!«, das war die Empfindung Arnos und Elsbeths, als der Zug sich in Bewegung setzte. Die Entspannung nach all der Aufregung setzte sich in Müdigkeit um, und bald waren beide sowie auch der kleine Hasso eingeschlafen. Da sie den Schnellzug benutzen konnten, brauchten sie nicht vor Budapest umzusteigen. Von dort aus wählten sie die landschaftlich schönere Route über Predeal Bukarest, die sie durch Siebenbürgen über das malerisch gelegene Kronstadt, durch die rumänischen Karpathen führte. Nach ungefähr 48stündiger Fahrt trafen sie in der rumänischen Hafenstadt Constanza am Schwarzen Meere ein. Hier waren mehrere Stunden Aufenthalt, die sie nach der langen Fahrt mit Freuden begrüßten.

An dem sonnigen Herbsttage erging sich die ganze vornehme Welt der Stadt auf der eleganten Promenade, die etwas über dem Meeresstrande sich dahinzieht. Offiziere mit ihren Damen, reiche Engländer und Russen gingen in geschäftigem Müßiggange dort auf und nieder. Die einheimischen Damen fielen durch die grell bunten Farben ihrer Kleider, die dick aufgetragene Schminke und durch die Wolke von Parfüm auf, die sie hinterließen. Die Offiziere gehörten der Garnison Constanzas an. Ein kleines Heer zur Aufrechterhaltung der Ordnung hatte ja jeder kommunistische Staat behalten dürfen. Alle waren mit Weltbundabzeichen geschmückt. Bei den Damen hatte sich schon längst die Mode dieses Kennzeichens guter weltstaatlicher Gesinnung bemächtigt; in den mannigfachsten Formen, mit und ohne Edelsteine, trugen sie es als Broschen, als Anhänger, ja sogar in sehr vergrößerter Form als Gürtel, als Schärpen, als Haar- oder Hutbänder. Arno und Elsbeth hatten sich wohl gehütet, ihre Mäntel abzulegen, und so fielen sie als Reisende mit ihrem Mangel an Weltbundabzeichen nicht auf, um so weniger, als die Blicke der Vorübergehenden unwillkürlich sich auf den kleinen Hasso lenkten, der mit drolligem Geplauder neben den Eltern herlief.

In einem Zeitungskiosk kaufte Arno eine deutsch-rumänische Zeitung, um die neuesten Depeschen zu lesen. Sie setzten sich auf eine Bank, von der sie den weiten Blick auf den Hafen und das endlose Meer genossen, während das Kind vor ihnen im Sande spielte. Kaum hatte Arno angefangen zu lesen, stieß er einen Ruf der Überraschung aus. Unter den neuesten Nachrichten stand eine Mitteilung des Wolffschen Telegraphenbüros aus Berlin, die er Elsbeth zeigte. Sie lautete: »Berlin, den 20. November. Die Durchführung der neuen verschärften Völkerbundgesetze zum Schutze des Weltstaates zeigte schon in den ersten Tagen die Bestätigung des lange gehegten Verdachts einer engen Verflochtenheit weiter Kreise des Judentums mit der antistaatlichen Propaganda des Bundes der christlichen Kirchen. So wurde gestern festgestellt, daß ein schon seit Jahren gesuchter Hochverräter, der Pastor Graf Wildenstein, bei einem kürzlich zugewanderten Ostjuden Unterschlupf gefunden hatte. Der Jude wurde heute verhaftet und sofort erschossen. Der Verbrecher mit seiner Frau war entkommen, wahrscheinlich ins Ausland abgereist.«

Arno ergriff Elsbeths Hand und sagte: »Der gute Alte! Um unseretwillen mußte er in den Tod gehen! Aber ich glaube fest, daß er mit Freudigkeit seine Seele dem Herrn befohlen hat und daß er ihm einen siegreichen Eingang schenkt in sein ewiges Reich. Er ruhe in Frieden! Seine Werke folgen ihm nach!« Elsbeth weinte bitterlich; der Tod des treuen alten Juden ging beiden sehr zu Herzen.

Am Kai lag das stolze weiße Schiff, der rumänische Passagierdampfer, der sie nach Konstantinopel bringen sollte. Sie entschlossen sich, schon jetzt auf den Dampfer zu gehen, um das Kind zeitig zur Ruhe zu bringen.

Es war eine köstliche Fahrt. Die See war ruhig wie selten und der klare Sternenhimmel spiegelte sich in der glatten Wasserfläche, durch die das Schiff seinen weiß leuchtenden Schaumstreifen zog. Arno und Elsbeth standen Hand in Hand vorn am Bugspriet; ihnen war so feierlich zumut, und trotz des Ernstes der soeben erhaltenen Nachricht waren ihre Herzen voll Lob und Dank. Darum konnten sie auch alle Sorge um ihr Kind, um ihre eigene Gesundheit und ihre Zukunft so still und getrost in des Herrn Hände legen. Sie hatten es verlernt, für lange Zeit hinaus sich Gedanken zu machen. Alle ihre Zukunftswünsche und Hoffnungen gipfelten in dem Gebet der verfolgten Gemeinde: »Komme bald, Herr Jesu!«

Bald suchten sie die Ruhe in der Kajüte, wo sie den Kleinen friedlich schlafend vorfanden.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie an Deck kamen. Ein balsamischer Duft, wie von Lorbeer und Myrten, wehte von der Fahrtrichtung her, und bald sahen sie in der Ferne Land.

Nachdem sie dann mit dem Kleinen im Speisesaal gefrühstückt, gingen sie wieder hinauf, als das Schiff sich gerade dem Bosporuseingang näherte. Wilde, unbewohnte Berggegenden wurden auf dem europäischen wie auf dem asiatischen Ufer sichtbar.

Nach halbstündiger Fahrt begannen die beiden Ufer sich einander mehr zu nähern, und in der Nähe der Küsten tauchten die merkwürdigen Pfahlbauten der Fischer auf, von denen sie ihre Netze auszuwerfen pflegen, die erste Spur menschlicher Ansiedlungen. Dann bei dem asiatischen Kavak ein Kanonenschuß als Zeichen zum Halten. Die Maschine stoppte und die Quarantänekommission kam an Bord, um sich über den Gesundheitszustand der Passagiere zu informieren. Da sich nichts Verdächtiges fand, durfte das Schiff sofort weiterfahren. Nun begannen die bewohnten Gebiete, über dem Dörfchen Kavak, auf asiatischer Seite, erhoben sich die Ruinen eines alten »Genueserschlosses«, und in seiner Nähe auf dem Berge die Moschee des sogenannten Grabes des Josua. Bald reihten sich in ununterbrochener Reihenfolge die Bosporusorte an mit ihren eleganten Villen und schattigen Parks, unter ihnen besonders hervortretend auf asiatischem Ufer Beïkos und Anadolu Hissar, auf europäischem Böjükdere mit seinem Hinterland von prachtvollen Waldungen, in denen die alte Konstantinopeler Wasserleitung ihren Ursprung hatte, Therapia, beide mit den Sommerpalästen der Botschaften und Gesandtschaften der europäischen Mächte, Jeniköj mit den Sommervillen der reichen Griechen, Rumeli Hissar, Bebek und die uns schon bekannt gewordenen. Die Bosporusorte bildeten eine Millionenstadt für sich von einzigartigem Reiz. Seit der Entwicklung Konstantinopels zur Welthauptstadt hatte sich hier ein Luxus, eine Üppigkeit zusammengedrängt, wie man sie kaum an einem anderen Punkte der Erde findet. Nur wie im Fluge zogen die Bilder an unseren Reisenden vorüber, denn das Schiff hielt nirgends an. Dann tauchte bei einer Biegung wie ein Märchen aus 1001 Nacht das Bild der Stadt aus der blauen Meeresflut auf. Eine Moscheekuppel neben der anderen, jede eingefaßt von ihren schlanken Minarets, dazwischen die stattlichen Regierungsgebäude und Konaks; zu den Füßen der Stadt aber die Masten von Hunderten von Schiffen, die am Ausgang des Goldenen Horns vor Anker lagen, das Ganze überwoben von einem zarten violetten Schleier.

Arno und Elsbeth standen in Bewunderung versunken.

»Wie wunderbar, daß Gott uns dies noch beschert hat«, sagte Arno, indem er Elsbeth an sich zog.

»Vati, Mutti, wohnt hier der liebe Gott?« fragte der kleine Hasso.

»Wo gute Menschen wohnen, da wohnt auch der liebe Gott«, erwiderte ihm die Mutter ausweichend.

Eine und eine halbe Stunde waren sie durch den Bosporus gefahren, da legte das stolze weiße Schiff am Kai von Galata an. Schon von weitem winkten Hasso und Hertha, hinter ihnen wurde Philipp sichtbar, der seine beste goldgestickte Uniform angelegt hatte. Bald war der Koffer einem Hamal übergeben und die Geschwister begrüßten sich auf das innigste.

»Aber ihr Lieben, was habt ihr in diesen Jahren alles durchgemacht!« sagte Hasso. »Auf euren Angesichtern steht es geschrieben. Nun aber ist es schön, daß ihr da seid, und wir wollen das Zusammensein recht genießen. Elpis freut sich so sehr, euch kennen zu lernen, denn ihr könnt euch denken, daß ich viel von euch erzählt habe.« Hertha nahm den kleinen Hasso auf den Arm und trug ihn durch das Menschengewühl.

Die Zollschranken der einzelnen Länder waren im Weltstaat abgeschafft, und so konnten sie sofort mit ihrem Gepäck auf den Bosporusdampfer übergehen, der bereits an der Galatabrücke lag. Noch einmal fuhren Arno und Elsbeth dieselbe Strecke auf dem Bosporus, aber sie hatten mehr davon als das erste Mal. Wie wenn man durch eine Bildergalerie zuerst schnell hindurcheilt, um sich einen Überblick zu verschaffen und dann noch einmal mit liebevoller Sorgfalt sich mit jedem einzelnen Bilde beschäftigt, so ging es ihnen bei dieser Fahrt. Es war eine Fülle wunderbarer Einzelbilder, die sie nun mit Muße genießen konnten, belebt durch fesselnde Szenen aus dem türkischen Volksleben.

Und dann die Ankunft in Bebek! Welche Freude machte es Hasso, den Geschwistern alles zu zeigen. Arno und Elsbeth fühlten die grausige Vergangenheit hinter sich versinken wie einen wüsten Traum, und es war ihnen, als wandelten sie auf Märchenpfaden. Der Eindruck wurde verstärkt durch das herrliche Herbstwetter, wie es in Konstantinopel im November und Dezember oft eintritt. Es war wie an einem milden deutschen Sommertage, die Sonnenglut gemildert durch den kühlen Nordwind, der vom Schwarzen Meer her wehte.

Schon am Nachmittag kam Basilides Effendi mit Elpis. Arno und Elsbeth erquickten sich an dem frischen, fröhlichen und herzlichen Wesen des jungen Mädchens, von deren entschieden christlicher Stellung sie sich bald überzeugen konnten. Mit Freuden fand Arno es auch hier wieder bestätigt, wie die innige Gemeinschaft der Gotteskinder die Konfessionsschranken überwindet. Die leisen Bedenken, die ihm bei der Verlobung Hassos mit einer katholischen Griechin aufgestiegen waren, schwanden schon bei dieser ersten Begegnung.

Die Trauung wurde auf den 4. Dezember festgesetzt. Da öffentliche geistliche Amtshandlungen verboten und die Kirchengebäude den Kirchen genommen waren, so mußte die Trauung im Hause stattfinden, und zwar sollte außer Arno auch ein Priester der griechisch-unierten Kirche dabei amtieren, um auf diese Weise die Gemeinschaft im Geiste zum Ausdruck zu bringen.

Während Elpis mit einigen Freundinnen und Hertha emsig die Vorbereitungen zur Hochzeit trafen, benutzte Hasso die freien Nachmittage, um Arno und Elsbeth durch die herrliche Umgegend zu führen. Das Ehepaar durfte mit Dank gegen Gott dabei spüren, wie die südliche Sonne und das gesunde Klima Konstantinopels einen ungemein wohltätigen Einfluß auf die kranken Lungen ausübte.

In freundlichem Entgegenkommen hatte Reschad Bey ihnen das geräumige Gastzimmer der Schule zur Verfügung gestellt. Jeden Morgen beim Aufstehen genossen sie mit stets neuer Freude den herrlichen Blick aus ihren Fenstern hinunter in die tiefe Talschlucht und auf den Bosporus mit seinen Schiffen, und jeden Abend dankten sie miteinander aus vollem Herzen für diese Zeit der Erquickung mitten in einer Welt, die erzitterte von den antichristlichen Schrecken.

Der Hochzeitstag war herangekommen. Schon am frühen Morgen kamen eine größere Zahl weißgekleideter Mädchen mit dem Abzeichen der »Jungfrauenkonkregation vom allerheiligsten Herzen Jesu« in Basilides' Haus auf dem Berge. Sie beteten mit Elpis und sangen eine Anzahl schöner geistlicher Lieder. Dann schmückten sie die Braut mit den hochzeitlichen Gewändern. Bei jedem Stück der Brautkleidung wurde ein besonderer Spruch gesagt.

Im größten Zimmer war ein Tisch als Altar hergerichtet. Ein Kruzifix und viele Leuchter standen darauf. Als Arno und der Priester gekommen waren, wurden die Lichter entzündet und das Brautpaar trat vor den Altar. Arno und der Priester, beide im Ornat, amtierten zusammen. Während Arno die Traurede hielt, segnete der Priester Eulogius mit den vielen Zeremonien, wie sie in der unierten griechischen Kirche üblich sind, das Brautpaar ein. Es war ein herzerquickender Anblick, zwei Geistliche der evangelischen und der katholischen Kirche, die sich jahrhundertelang mit der äußersten Erbitterung bekämpft hatten, hier friedlich miteinander des Amtes walten zu sehen.

Ein schönes Chorlied der Jungfrauenkongregation bildete den Schluß der Feier.

Das Hochzeitsmahl wurde im Atrium des Hauses eingenommen. Fröhliche Reden und liebliche Gesänge würzten das Mahl. Nach dem Essen führten die Jungfrauen im Garten einen Reigen auf, während das Brautpaar und die übrigen Gäste von der geräumigen Laube zuschauten, an der die herrlichen Marschall-Niel-Rosen sich emporrankten.

»Wie freundlich ist der Herr«, sagte Elsbeth, indem sie sich an ihren Gatten schmiegte, »auf dieser Oase läßt er uns eine Weile vergessen die Schrecknisse der Wüste.«

»Ja, du hast recht, eine Weile nur! Und wehe uns, wenn wir diese Erquickungstage uns zum Ruhepolster für das Fleisch werden ließen. Nein, wir sollen nur dadurch gestärkt werden, durch Gebet und Wachsamkeit uns um so mehr zu bereiten auf die kommenden Gerichte.«

Das junge Paar bezog eine Mietswohnung in einer der Schule benachbarten Villa, die Basilides Effendi ihnen wohnlich eingerichtet hatte. Der Vater blieb vorläufig noch in seinem Hause und behalf sich mit einer Aufwartung, so gut es ging. Natürlich sah Elpis alle paar Tage nach dem Rechten, ob ihrem Väterchen auch nichts fehlte.

In dieser Zeit erhielt Elsbeth einen Brief von Rebekka. Sie berichtete von den Verfolgungen, die die messiasgläubigen Israeliten zu bestehen hatten. Während der Antisemitismus sonst in dem bisher zum größten Teile von Juden regierten Weltstaate keinen Raum zur Betätigung hatte, waren die neuesten Erlasse des Völkerbundes das Signal für ihn, sich mit seinem ganzen aufgespeicherten Fanatismus auf die messiasgläubigen Juden wie auf ein ihm preisgegebenes Freiwild zu stürzen. Rebekka schrieb daher, sie wollten ihre Abreise beschleunigen und hofften am 10. Dezember nachmittags mit der Bahn in Konstantinopel einzutreffen; es würde ihnen eine große Freude sein, Arno und Elsbeth noch dort anzutreffen.


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