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VIII. Der Antichrist und sein Werkzeug

Einen Tag später lag Hertha auf dem bequemen Diwan ihres mit üppiger Pracht ausgestatteten Gemaches. Vor den Fenstern befanden sich die hölzernen Gittervorsätze, die wohl einen Ausblick aus dem Fenster, aber keinen Einblick in dasselbe gestatteten. Sie dachte mit Wehmut an die Heimat und an Hasso, der am selben Orte und doch so ferne von ihr war.

»Ach, wäre ich doch daheim geblieben«, seufzte sie. Ihr Antlitz war blaß geworden und abgemagert in diesen zwei Wochen. Da wurde die Tür aufgerissen und hereinstürzte Machmud Effendi. Er kniete an dem Diwan nieder, faßte Herthas Hand und bedeckte sie mit leidenschaftlichen Küssen. Er war ein schöner, kräftig gebauter Mann in der kleidsamen Tracht der türkischen Offiziere.

»Hertha«, rief er leidenschaftlich, »jetzt habe ich lange genug gewartet, heute müssen Sie mein werden. Alles lege ich Ihnen zu Füßen; Sie sollen meine erste Gemahlin werden. Ja, wenn Sie es verlangen, will ich meine jetzige Gattin entlassen, und schwöre Ihnen mit heiligem Eide bei dem Barte des Propheten, keine andere Frau neben Ihnen zu nehmen.«

»Wenn Sie mich lieb haben, Machmud, wie Sie sagen«, erwiderte Hertha ruhig, »so geben Sie mir die Freiheit wieder, denn ich kann nie die Ihre werden.«

»Nein«, keuchte er, »ich habe es mir geschworen, daß ich Sie heute gewinne, sonst gehen wir beide aus dem Leben.«

Hertha packte eine namenlose Angst, sie sprang auf.

Machmud versuchte sie zu umschlingen, doch Hertha entwand sich ihm und rief: »Rühren Sie mich nicht an! Es ist eine empörende Feigheit von einem Manne, sich an einer Wehrlosen zu vergreifen.«

In diesem Augenblick klopfte es, und als Machmud es nicht hörte, noch einmal. Herein trat der schwarze Eunuch, der Diener der Frauengemächer, und brachte auf silberner Platte eine Visitenkarte.

»Verflucht, doch ich kann ihn nicht abweisen«, murmelte er, und laut sagte er zu dem Diener: »Führe den Herrn in den Staatsraum; ich würde mir die Ehre geben, ihn zu empfangen.«

Kaum hatte Machmud das Zimmer verlassen, da löste sich bei Hertha die furchtbare Spannung in einem Tränenstrom. Als sie sich etwas gefaßt, kniete sie nieder und suchte Trost im Gebet. Da wurde sie aufgeschreckt durch ein Stimmengewirr vor ihrer Tür. Sie hörte Machmuds Stimme, wie er laut auf Französisch schalt. Dann ein Schuß – sofort darauf noch einer. Sie hörte einen schweren Körper fallen, dann Frauenstimmen wehklagen. Das alles geschah in wenigen Sekunden. Hertha hatte noch gar nicht die Möglichkeit gehabt, sich Gedanken über diese Vorgänge zu machen, da wurde die Tür geöffnet und – Hertha faßte mit der Hand nach ihrem Herzen, träumte sie oder war es Wirklichkeit? – in der Türöffnung stand die hohe Gestalt von Joseph Silberstein, aus einer Wunde an der linken Hand blutend.

»Hertha«, rief er und eilte auf sie zu.

»Joseph – Herr Silberstein, Sie hier?«

»Ich bin gekommen, Sie zu befreien und Ihrem Bruder zuzuführen«, sagte er.

Im überströmenden Gefühl des Glückes ließ sie es geschehen, daß er sie sanft an sich zog, und einen Augenblick ruhte ihr Haupt an seiner Brust.

»Gott lohne Ihnen, was Sie mir getan«, sagte sie, indem sie sich wieder aufrichtete, »aber Sie bluten ja, was ist denn geschehen?«

»Es hat einen Kampf gegeben. Der Türke schoß auf mich. Zur Verteidigung gab ich auch einen Schuß ab und habe ihn tödlich getroffen!«

»Um Gottes willen, wie furchtbar«, rief Hertha, und sie traten hinaus, wo die Frauen sich über Machmuds Leiche geworfen hatten und laut weinten und schluchzten.

»Kommen Sie schnell«, mahnte Joseph und zog Hertha mit sich fort. Als Joseph den schwarzen Eunuchen sah, packte er ihn bei der Schulter und sagte in drohendem Tone: »Du packst sofort die Sachen der Dame zusammen und bringst sie noch heute hinauf zur Schule. Wehe dir, wenn etwas fehlt.« Er gab ihm eine Goldlira Trinkgeld.

»Es ist traurig, daß es ein Menschenleben gekostet«, sagte Joseph, als sie im Wagen saßen, »aber ich bin wirklich unschuldig daran; ich kam nicht mit der Absicht, Blut zu vergießen.«

»Die arme Mutter tut mir so leid«, rief Hertha bewegt aus, »sie war immer gut zu mir; ich glaube sie hat mein Weh verstanden. Wird die Sache nicht noch schlimme Folgen haben?«

»Unsere Regierung wird die Sache mit der türkischen in Ordnung bringen.«

Als sie vor der Schule hielten, sprang der Kawaß der russischen Botschaft vom Bocke und öffnete den Schlag. Philipp kam heraus und nahm von Joseph eine Visitenkarte in Empfang mit dem Auftrag, sie Herrn Grafen Wildenstein zu geben, und führte beide oben in das Empfangszimmer.

»Bitte stellen Sie sich hinter diesen Vorhang«, bat Joseph.

Hertha gehorchte.

Als Philipp den Besuch eines Herrn und einer Dame gemeldet und Hasso die französische Visitenkarte gelesen: »Joseph Silberstein, russischer Minister des Auswärtigen«, schüttelte er verwundert den Kopf. »Joseph Silberstein«, so hieß doch auch der Agitator in Berlin, der damals Hertha gerettet, bei dessen Eltern sie freundlich aufgenommen war. Ob der so schnell avanciert ist? Aber mit einer Dame?«

Hasso begrüßte den Besuch zunächst sehr förmlich.

»Was verschafft mir die Ehre, Herr Minister?«

»Herr Graf werden in Berlin von mir gehört haben«, antwortete Joseph.

»Ach, dann sind Sie derselbe Joseph Silberstein, der einst meinen Geschwistern das Leben gerettet? Wie mich das freut. Seien Sie mir herzlich willkommen. Leider treffen Sie mich in großer Sorge. Meine Schwester ist in die Hände einer Mädchenhändlerin gefallen und schmachtet jetzt in einem türkischen Hause gefangen.«

»Sie irren, Herr Graf, Ihre Schwester ist in keinem türkischen Hause«, sagte Joseph mit feinem Lächeln.

»Um Gottes willen, was ist nun wieder geschehen? Wissen Sie etwas von ihr?«

»Ihre Schwester befindet sich in diesem Hause!«

»Mein Herr, Sie belieben zu scherzen.«

Da bewegte sich der Vorhang und Hertha trat hervor. Es war Hasso zuerst, als ob er einen Geist sähe, dann aber lagen sich die Geschwister in den Armen.

»Sie haben meine Schwester zum zweiten Male gerettet! Wie sollen wir Ihnen das vergelten, was Sie an uns getan?« Hasso ergriff Josephs beide Hände.

»Nun erzählen Sie aber, wie alles gekommen«, bat Hertha.

»Bald nachdem ich Sie zum letztenmal gesehen, wurde ich nach Rußland zurückgerufen. Wie Sie wissen, war die Revolution siegreich und mein Vetter Ruben wurde Präsident der Republik. Mich machte er zum Minister des Auswärtigen, weil ich schon bis dahin die Auslandspropaganda geleitet. Da uns die Stellung Rußlands zu Konstantinopel von ausschlaggebender Wichtigkeit ist, sind wir bald hierher gereist. Schon am Tage nach unserer Ankunft kam Rubens alter Vater zu mir, der von Ihrer Notlage wußte, und bat mich, etwas zu Ihrer Befreiung zu tun! Da mein Vetter es ablehnte, diplomatische Schritte deshalb einzuleiten, so habe ich auf eigene Faust gehandelt und freue mich, daß ich Ihnen dienen konnte.«

»Der alte Isaak, der Vater des Präsidenten!« sagte Hasso sinnend. »Ja, es ist das gleiche Feuer, das aus ihren Augen flammt; doch bei dem Präsidenten wirkt es Schrecken und Furcht, bei dem Vater Liebe und Vertrauen. Dann ist es auch Isaak gewesen, der dem Präsidenten beim Antritt der Fahrt entgegentrat?«

»Haben Sie auch von dem Zwischenfall gelesen? Es war eine Torheit des religiösen Fanatismus. Doch wir werden in diesem Punkte wohl verschiedener Meinung sein«, sagte Joseph düster.

»Ach«, rief Hertha besorgt aus, »nun haben wir über der Freude des Wiedersehens Ihre Wunde vergessen.« Das Blut rieselte auf den Teppich.

»Hertha wird Sie verbinden! Gestatten Sie, daß ich etwas Verbandzeug hole«, sagte Hasso, ohne auf Josephs Worte einzugehen.

Joseph und Hertha waren allein.

»Morgen reisen wir nach Rußland zurück. Hertha, ich weiß, daß Sie meine Liebe erwidern. Darf ich keinen Hoffnungsstrahl mitnehmen?«

»Ja«, sagte Hertha bewegt, »ich kann es nicht länger verbergen. Doch ich kann Ihnen nur eins sagen: Ich werde für Sie beten, daß Sie Jesum als Ihren Heiland erkennen. Wenn Sie einmal als Jesu Jünger vor mich treten werden, dann will ich Ihnen folgen, wo Sie hingehen.«

Als er traurig vor sich hinblickte, stand Hertha auf, trat zu Joseph, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küßte ihn auf die Stirn. »Joseph, denken Sie an mein Wort. Mein Herz wird nie einem anderen Manne gehören als Ihnen.«

Da nahm Joseph ihre Hand und führte sie an die Lippen: »Ich danke Ihnen, Hertha; aber ich fürchte, dies wird ein Abschied für ewig sein.«

»Ich habe die frohe Gewißheit, daß es nicht so sein wird«, sagte Hertha und schaute ihn strahlend an.

Inzwischen war Hasso mit dem Verbandzeug gekommen und Hertha konnte Josephs Wunde verbinden.

Dann aber erhob sich Joseph: »Ich habe heute Abend noch eine wichtige Unterredung mit dem Präsidenten und muß mich daher jetzt verabschieden.« Die Geschwister begleiteten ihn noch bis an den Wagen und gingen gleich darauf hinunter zum Postbüro, um durch ein Telegramm den Eltern von Herthas Rettung Mitteilung zu machen. Als sie zurückkehrten, hatte der Eunuch mit Hilfe eines Hamals bereits Herthas Sachen gebracht.

Es fing an zu dunkeln, als Joseph an der russischen Botschaft anlangte.

Er ließ sich bei dem Präsidenten melden. In dem großen, saalartigen Gemach, das mit dicken Smyrnateppichen belegt war, saß der Botschafter in einem Klubsessel, während der Präsident unruhig auf und nieder ging. Er sagte gerade: »Es tut mir leid, daß Sie, Herr Botschafter, unsere Grundsätze sich nicht zu eigen machen können; aber wir ehren Ihre Überzeugung. Sie werden es jedoch verstehen, wenn wir deshalb auf Ihre ferneren Dienste verzichten. Ich hoffe«, damit wandte er sich an Joseph, »daß du, Joseph Aaronjewitsch, eine geeignete Persönlichkeit zum Ersatz bereits in unserem Gefolge mitgebracht hast?«

»Du hast recht vermutet«, antwortete Joseph, »ich habe diesen Fall vorausgesehen, Ruben Issakjewitsch!«

»Ich danke Ihnen, Herr Botschafter«, sagte der Präsident mit einer leichten Neigung des Hauptes, so daß der Botschafter sich erhob und das Zimmer verließ.

»Ich bin über dein Tun unterrichtet, du hast selbst die Angelegenheit in die Hand genommen. Deine Verwundung zeigt mir, daß meine Vermutung recht behalten hat: Es ist nicht ohne Kampf abgegangen.«

»Und der Gegner ist im Kampf geblieben.«

»Ich hätte dich für klüger gehalten. Um einer Liebesaffäre willen bringst du unsere Sache in Gefahr.«

»Es galt ein Menschenglück«.

»Ein Menschenglück! Was will das heißen gegenüber der Sache, der wir dienen? Wenn die Volksstimmung dadurch aufgeregt wird gegen uns, kann der Schaden unberechenbar sein. Ich will versuchen, die Angelegenheit zu ordnen.«

Er ließ sich durch das Telephon mit dem Minister des Innern verbinden. Als der Minister sich meldete, sprach der Präsident durch den Fernsprecher: »Bitte, wollen Sie die Güte haben, die Redaktionen der Zeitungen zu verständigen, daß sie über die Schießerei im Hause von Machmud Bey in Bebek keine Nachrichten bringen. Die Sache könnte politisch unangenehme Folgen haben.«

»Ich hoffe, daß solche Sachen nicht wieder vorkommen und daß du dein weiches Herz in Zucht hältst. Die Angelegenheit ist damit für mich erledigt.«

Sie nahmen in zwei Klubsesseln Platz.

»Die Instruktionen für den neuen Botschafter! Soll die Regierung bleiben, oder nicht? Sollen wir hier eine Revolution veranlassen, oder nicht?«

»Wir müssen konsequent sein«, meinte Joseph, »und können das Bestehende nicht hier schonen, während wir es in anderen Ländern gestürzt haben, und ohne Revolution wird nie das kommunistische Prinzip zum Siege kommen.«

»Da bin ich anderer Meinung«, sagte der Präsident, »wie ich dir schon in Moskau sagte, können wir ohne das Großkapital und die Hochfinanz nichts ausrichten. Wir haben sie ja auch in Rußland geschont und nur das Kleinkapital, die Wohnungen der Besitzenden und die Läden den Massen ausgeliefert. Hier ist die Zentrale des Welthandels und des Weltkapitals. So bitter es uns ankommt, wir müssen es auch hier schonen, aber durch einige kleine Putsche in Schrecken setzen, damit es sich unseren Zielen zur Verfügung stellt. Die Hauptsache ist, daß wir reiten, und das Weltkapital unserem Zügel gehorcht.«

»Wenn es nur nicht anders kommt, so daß das Weltkapital reitet und wir ihm gehorchen müssen.«

»Das glaube ich nicht. Im Notfall haben wir immer noch die Massen in der Hand. Doch ist das nur ein alleräußerstes Mittel. Wenn wir hier die Massen einmal in Bewegung setzen, so läuft es auf eine Vernichtung des Weltkapitals und des Welthandels hinaus, und wir würden vielleicht noch weit Schlimmeres erleben, als unsere Genossen zu Trotzkis Zeit schließlich erleben mußten. Deshalb hier keine Revolution! Wir müssen die türkische Schattenregierung ruhig bestehen lassen, denn durch ihre Beseitigung würden wir den ganzen Islam gegen uns auf die Beine bringen. Dagegen ist es der Bedeutung Konstantinopels angemessen, wenn sein Zusammenhang mit der türkischen Regierung gelockert wird und es mehr den Charakter einer internationalen Freistadt erhält mit vorwiegend russischem Einfluß. Ich bitte dich, den neuen Botschafter in diesem Sinne zu instruieren. Wen hast du in Aussicht genommen?«

»Feodor Wassiljewitsch«, sagte Joseph. »Und wie soll es mit den christlichen Kirchen werden?«

»Unser Kirchenprogramm wird erst in Angriff genommen, wenn der Völkerbund zustande gekommen sein wird. Dann kann es um so wirksamer geschehen, weil es gleich in der Gesamtheit der Völker durchgeführt wird.«

»Ich werde Feodor Wassiljewitsch sogleich aufsuchen«, sagte Joseph und erhob sich.

»Veranlasse ihn gleich, daß er morgen, solange wir noch hier sind, eine Besprechung mit den führenden Finanzmännern veranlaßt. Diese Leute haben für reale Machtfaktoren stets ein feines Verständnis gehabt.«

Joseph ging und teilte Feodor Wassiljewitsch mit, was soeben festgelegt war.

Der Präsident blieb allein. Heute schien ihn niemand mehr beanspruchen zu wollen. Es war seit langer Zeit die erste stille Stunde, die sich ihm bot. Als Mann der Tat liebte er es nicht, sich dem Spiel der Gedanken und Empfindungen zu überlassen. Doch heute konnte er nicht anders. Die wochenlange unablässige Anspannung aller Tatkraft hatte ihn ermüdet. Sein bisheriger Lebensgang zog an seinem Auge vorüber. Er sah sich als kleines Kind, wie abends die fromme Mutter sich über sein Bett beugte und ihn beten lehrte zu dem Vater droben, der über den Sternen wohne. Dann kam die Schulzeit in der kleinen jüdischen Schule, von den Eltern gegründet, die in dem Rabbi Jeschua ben Joseph den kommenden Messias Israels sahen. Wie brannten da die Kinderherzen, als der Lehrer ihnen die Gestalt des Rabbi Jeschua vor Augen malte und ihnen die große Zukunft ihres Volkes zeigte, sobald es ihn als den Messias erkannt haben würde. Wie manches mußten sie von anderen Judenkindern aushalten, weil sie in diese Schule gingen; aber die Geschwister hielten fest zusammen in inniger Liebe und stärkten sich gegenseitig im Glauben. Gerade der Widerspruch entflammte immer mehr Rubens Begeisterung, so daß er mit 14 Jahren, als er zum Mann erklärt wurde, eine Hymne auf den Rabbi Jeschua dichtete, das erste und einzige Gedicht, das er verfaßt. Strophe für Strophe zog es ihm durch den Sinn. Dann kamen wilde Jugendjahre – Mädchengeschichten, aus denen er nicht rein hervorging. Dadurch trat das Gebet zurück, die Begeisterung erlosch. In jener Zeit war es, daß es gleichalterigen Genossen gelang, ihn für einen Geheimbund zu gewinnen, der mit Gewalt, durch Erregung von Umsturz das jüdische Volk aus seiner unterdrückten Stellung in Rußland befreien und es zur Macht und Herrlichkeit führen wollte. Die frommen Eltern beteten und flehten: »Ruben hüte dich, dein Weg ist nicht der Weg des Messias.« Doch es half nichts. Er kehrte sich immer mehr von dem Messias ab: »Wir selbst müssen unsere Messiasse werden«, pflegte er zu sagen. Gott, den Rabbi Jeschua, das heilige Wort begann er zu hassen, da sie sich ihm immer wieder in den Weg stellten. Doch sein Gewissen zeugte wider ihn und er suchte daher nach einem Mittel, sein Gewissen zu beruhigen. Da kam der furchtbare Tag des Pogroms. Er sah die zerfetzte Leiche der geliebten Mutter; er mußte gefesselt zusehen, wie seine schönen frommen Schwestern viehisch zu Tode gemartert wurden, er sah das Kreuz des Priesters, der die Plünderer anführte. Noch heute schüttelte Grauen seine Seele, wenn er dieses Tages gedachte. Da hatte er das Mittel, mit dem er sein Gewissen zum Schweigen brachte. Der Abgefallene fluchte dem Messias und sagte Gott endgültig ab. Seitdem war er von Erfolg zu Erfolg gegangen. Doch, war er glücklich geworden? Nein, glücklich war er eigentlich nur in seiner Kindheit gewesen. Wieder kam ihm das Messiaslied in den Sinn. Halb mechanisch bewegten sich seine Lippen.

Da, was war das? Dort hinten in dem saalartigen Raume glaubte er etwas zu sehen wie einen Nebel, und aus dem Nebel löste sich eine leuchtende Gestalt, die sich auf ihn zu bewegte.

»Rabbi Jeschua!« rief er aus. »Was willst du von mir?«

Da sah er hinter der Gestalt eine unabsehbare Schar in weißen Gewändern und die Gestalt deutete auf drei Frauengestalten mit leuchtenden Angesichtern.

»Mutter, Sawa, Raïssa!« rief er aus und sank auf seine Kniee.

Da war's ihm, als hörte er eine unendlich gütige, sanfte Stimme: »Ruben, noch einmal rufe ich dich. Es ist die letzte Stunde. Kehre um und folge mir nach!«

Ruben war auf den Teppich gesunken und ein furchtbarer Kampf riß ihn hin und her, so daß der Schaum vor seine Lippen trat. Da preßte er die Lippen zusammen, sprang auf, ballte die Faust und schrie: »Nein, Fluch dem Nazarener!«

Die Erscheinung war verschwunden. Doch da glaubte er ein Lachen zu hören, grell und höhnisch, und das Lachen verschmolz sich mit seiner Seele.

»Ha«, rief er aus, »ich werde dir zeigen, daß ich der Stärkere bin.« Dann ging er an seinen Schreibtisch und nahm ein Buch von Nietzsche: »Der Antichrist«, und las darin.

»Ja, du Großer«, sagte er, »du warst der erste Tropfen aus der großen Gewitterwolke. Die Wolke bin ich. Ich werde des Nazareners Namen austilgen auf Erden.«

Da klopfte der Diener und meldete, daß das Essen angerichtet sei.

Die Zusammenkunft mit den führenden Finanzmännern kam am nächsten Tage zustande, und die Herren erklärten sich bereit, den Wünschen der russischen Regierung in jeder Beziehung entgegenzukommen; eine allmähliche Umstellung der Gesellschaftsordnung nach kommunistischen Grundsätzen nicht zu verhindern, sondern vielmehr die Mittel dazu zur Verfügung zu stellen unter der Bedingung, daß der internationale Geld- und Handelsverkehr unangetastet bliebe und Konstantinopel die in Aussicht gestellte Unabhängigkeit erhalte. Trotzdem wurden von der russischen Diplomatie einige kleine Plünderungen ins Auge gefaßt, um der herrschenden Hochfinanz die Macht des Kommunismus vor Augen zu führen und sie zur pünktlichen Innehaltung der Abmachungen anzuhalten.

Gegen Abend verließ das russische Kriegsschiff die türkische Hauptstadt.


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