Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII

»Und was für einen Eindruck hat dieser Richard Häberlin sonst auf Sie gemacht?« fragte Miß Valler am Abend dieses ereignisreichen Tages, als sie beim Tee auf der Diele ihrer Pension saßen.

»Den denkbar besten. Ich kann einfach nicht glauben, daß er aus schnöder Goldgier heraus einen Mord begangen haben soll!«

»Und doch ist er der Mann, an dem ich vorbeigeschossen habe!« beharrte Toni mit einer Bestimmtheit, die jeden Zweifel ausschließen mußte. »Oder ist es doch der andere gewesen? Wie gut, daß ich ihn nicht getroffen habe!«

Mr. Hood, der die Geschichte am andern Morgen beim Rapport erfuhr, enthielt sich jeder Meinungsäußerung.

»Der Anfang ist gemacht, Mr. Holzer. Hüten Sie sich vor unzeitigen Urteilen. Sie trüben den Blick und behindern die kühle Beobachtung. Trachten Sie danach, den Zwillingsbruder kennenzulernen!«

Auch diese Aufgabe bot keinerlei Schwierigkeit. Am nächsten Tage war Korbin früher im Restaurant als Richard Häberlin. Er suchte eben sein Mittagessen aus, als der Schweizer an seinen Tisch trat und ihm freundlich zunickte.

»Da ist er ja schon, der Bruder Sterzinger«, bemerkte er lächelnd, und dazu schwenkte er seinen breitrandigen Schlapphut über den Haken. »Sehen Sie, wie sich Mucki freut, daß Sie wieder da sind. Das Erinnerungsvermögen an genossene Wohltaten ist bei Tieren doch besser entwickelt als bei Menschen.«

Der Pudel trippelte aufgeregt um Korbins Stuhl.

»Nun komm nur, Kleiner«, sagte der; »hier hab' ich auch was Schönes für dich mitgebracht!« – Er reichte ihm ein Stück Zucker, das der Hund, auf den Hinterbeinen sitzend, schnuppernd in Empfang nahm.

»Ja, Schönmachen kann er auch, der Mucki«, bemerkte Richard Häberlin und streichelte flüchtig den Kopf des Hundes. »Er ist nämlich ganz aus dem Häuschen, weil er weiß, daß wir heute einen Spaziergang nach dem Strand machen.«

»Sie haben's ihm wohl gesagt?«

Häberlin lachte gemütlich.

»So gebildet ist er nun freilich noch nicht, daß er deutsch versteht. Aber er weiß: wenn ich beim Ausgehen den dünnen Spazierstock in die Hand nehme, dann gibt's einen lustigen Tag für ihn.«

»Sie können also frei über Ihre Zeit verfügen?«

»Ich bin augenblicklich ohne einen festen Beruf, und für mich sind alle Tage des Herrn, wie man bei uns daheim sagt. Darf ich fragen, was Sie für Pflichten haben?«

»Gar keine!« lachte Korbin. »Ich lebe sozusagen vom Durchgebrachten. Habe in Alaska ein wenig prospected, Allzuviel ist dabei nicht herausgekommen, aber für eine Weile wird mich die Not nicht mit den Hörnern stoßen. Wenn Sie Gesellschaft bei Ihrem Spaziergange lieben und keine bessere finden als die meine …«

»Aber mein lieber Holzer, es wird mir eine Freude sein, zumal – Sie sprechen fließend englisch?«

»Ich denke doch. Bin lange genug unter diesen Leuten, um ihre so wenig melodische Sprache endlich nachmachen zu können.«

Herr Häberlin lächelte nachsichtig.

»Nun, wir Schweizer haben ja die Melodik der Sprache auch nicht gerade erfunden. Aber Sie haben schon recht: wenn mich ein Dockarbeiter in Frisco anspricht, verstehe ich keine Silbe. Leider ist's noch schlimm genug bei mir, wenn ich eine klare, geistig wesentliche Unterhaltung in englischer Sprache führen muß. Ich lese das Englische so ziemlich, aber das Sprechen fällt mir außerordentlich schwer. Mein Ohr hat den Tonfall der landläufigen Satzgefüge noch immer nicht recht erfaßt – und ähnlich ergeht es auch meinem Bruder – ah, ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß mich mein Bruder hier abholen wird. Wir wandern jeden Dienstag und Freitag den Strand entlang und reden über dies und das. Hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn er sich uns anschließt.«

Korbin beeilte sich zu versichern, daß es ihm eine besondere Freude sein werde, den Bruder des Herrn Häberlin kennenzulernen, zumal er ja aus den gestrigen Erzählungen schon einiges über ihn erfahren habe. Sie aßen miteinander in leichtplätschernder Unterhaltung über Land und Leute im Goldenen Westen, und Mucki, der sich außerordentlich gesittet benahm, bekam auch sein Teil von der Mahlzeit.

»Wo nur mein Bruder bleibt«, sagte Herr Häberlin plötzlich mit einem raschen Blick auf seine Armbanduhr. Er stand auf und verschwand einen Augenblick in der Drehtür, um einen Blick auf die Straße zu tun.

»Nichts von ihm zu sehen«, bemerkte er, als er wieder hereinkam und sich auf seinen alten Platz setzte. »Vielleicht hat der Zug Verspätung. Er wohnt nämlich bei den Seal Rocks draußen.«

Mucki, der Pudel, war unruhig. Er zerrte an der Leine und verriet Neigung, nach der Türe zu eilen.

»Merken Sie, wie er seinen Herrn spürt?« lächelte Häberlin. »Gleich wird mein Bruder durch die Drehtür eintreten!«

»Gehört der Hund denn nicht Ihnen, Herr Häberlin?«

»Nein, er gehört meinem Bruder Richard. Ich bin nämlich Georg Häberlin!«

In diesem Augenblicke schwang die Türe auf, und Richard Häberlin trat lächelnd an den Tisch der beiden.

»Nun, ist der kleine Scherz diesmal wieder gelungen?« fragte er.

Korbin war aufgestanden und blickte die Brüder Häberlin an, als müsse er sich erst langsam in der Wirklichkeit zurechtfinden.

»Wenn Sie Richard Häberlin sind«, sagte er endlich zu dem eben Eingetretenen, »dann allerdings ist Ihnen Ihr Scherz vortrefflich gelungen. Ich glaube kaum, daß ich so bald lerne, Sie voneinander zu unterscheiden.«

»Da brauchen Sie nur auf Mucki zu achten«, lachte Georg, »der kennt seinen Herrn ganz genau. So oft wir schon versuchten, ihn zu täuschen, es ist uns nie gelungen. Ich glaube, er riecht's einem jeden an, ob er heilig ist oder profan – ein kleiner Pfaff im Hundereich. Haben Sie nicht bemerkt, wie unruhig er wurde, als ich mich neben Sie setzte?«

»Verzeihen Sie, Herr Holzer«, sagte Richard, ernster werdend. »Ich rief gestern abend meinen Bruder an und erzählte ihm von dem Landsmanne aus den Tiroler Bergen. Er war gleich so begeistert von meiner neuesten Erwerbung, daß er versprach, heute in die Stadt zu kommen, um Sie wenn möglich kennenzulernen, obwohl es doch sehr ungewiß war, ob Sie schon heute wieder im französischen Restaurant speisen würden. Bei dieser Gelegenheit verabredeten wir auch unsern kleinen Scherz, den Sie hoffentlich nicht übelnehmen. Für uns ist die Geschichte ja alt, aber man freut sich immer wieder über das maßlose Erstaunen seiner Zeitgenossen, wenn sie sich durch unsere große Ähnlichkeit haben täuschen lassen. Sie ist vielfach schon Anlaß zu heitersten Szenen geworden – auch zu weniger heiteren übrigens. Dabei ist sie gar nicht so groß, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Wir haben schon oft mit leichtem Erschrecken feststellen müssen, daß die Beobachtungsfähigkeit des Menschen viel geringer ist, als man gemeinhin annimmt, und ich möchte wirklich nicht wissen, wie viele Falscheide diese Schwäche schon verschuldet hat. Das Auge erfaßt Äußerlichkeiten in Kleidung und Haltung, und wenn zwei Leute wie wir sich völlig gleichartig geben in eben diesen Äußerlichkeiten, dann ist das Auge leicht zu einem falschen Urteile zu verführen. In Wahrheit sind wir beide ja nichts anderes als ein neckisches Spiel der Natur – sind im tiefsten Sinne ›Einer‹. Am gleichen Tage geboren, haben wir nach den neuesten Ergebnissen der Zwillingsforschung sogar eine starke Chance, die Welt am gleichen Tage wieder zu verlassen, um mit Goethe zu sprechen ›nach dem Gesetz, nach dem wir angetreten‹. Dabei sind wir, ich sagte es schon, wirklich nicht gleich. Der aufmerksame Blick findet rasch allerlei Unterschiede.«

Das hatte Korbin für sich inzwischen auch festgestellt. Georg Häberlin war ein wenig kleiner. Seine Stirn war höher, und die Haare waren nicht so üppig gewellt, sondern dünn und strähnig. Trotzdem blieben in der Bildung des Gesichtes so viele Gemeinsamkeiten, daß die Täuschung auf den ersten Blick durchaus verständlich und verzeihlich blieb.

Sie tranken im französischen Restaurant noch einen Kaffee und besprachen in heiterster Stimmung das kleine Erlebnis, das sie eben gehabt hatten. Dann gingen sie zusammen hinunter an den Strand und unterhielten sich von ihren heimischen Bergen. Es stellte sich heraus, daß Georg in jüngeren Jahren ein hervorragender Alpinist gewesen war. Er erzählte fesselnd von einer Besteigung der Marmolata über die Nordwand, die er gemeinsam mit seinem Bruder ausgeführt hatte und bei der sie beide fast im Schneesturm umgekommen waren.

»Damals hatten wir zweifellos die bis dahin größte Chance, am gleichen Tage ums Leben zu kommen«, bemerkte er lächelnd. »Wir haben bisher alle unsere Unternehmungen gemeinsam durchgeführt, gefährliche und ungefährliche, gute und weniger gute. Ich glaube fast, selbst einen Mord würden wir gemeinsam begehen, wenn das Schicksal uns diesen Weg schicken sollte – und dann kämen wir, wie das so zu gehen pflegt, an einem Tage auf den elektrischen Stuhl.«

»Sie vergessen«, sagte Korbin, aufs tiefste betroffen, »daß es nicht das Schicksal ist, wie Sie sich ein wenig farblos ausdrücken, das uns einen Mord begehen läßt, sondern daß eine solche Tat immer unserer freien Willensentscheidung entspringt.«

Richard lächelte leichthin.

»Und Sie vergessen: wir beide sind in Wahrheit ›Einer‹ – haben also auch nur einen Willen!«

»Gewiß, aber einen Willen, der sich unter allen Umständen gegen alle Folgerungen wehren würde, die in einem Morde zu enden drohen!«

Georg blieb stehen und blickte Korbin aus großen Augen an. Er sah plötzlich dem dritten Bilde des Mr. Hood erstaunlich ähnlich.

»Sie sind noch jung, Herr Holzer, wissen noch zu wenig vom Leben. Aber lassen Sie sich sagen: Es gibt Augenblicke, in denen ein Mord der einzige Ausweg aus einer total verfahrenen Lage ist. Ich weiß wirklich nicht, ob dann mein Wille stark genug wäre, sich der notwendigen Folgerungen zu erwehren oder, wie ich es auszudrücken beliebe, sich dem Willen des Schicksals entgegenzustellen. Was meinst du dazu, Richard?«

»Ich meine, daß dies ein unerfreuliches und sinnloses Gespräch ist, das unserm jungen Freunde ein ganz falsches Bild von uns geben muß. Reden wir von etwas Erfreulicherem!«


 << zurück weiter >>