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Siebzehntes Kapitel

Schnee wirbelte in dichten weißgrauen Schleiern über die weite Fläche des Bodensees. Es war erst Ende Oktober, und doch lag das ganze Land schon winterlich weiß. Der Westwind heulte in den alten Pappeln und Buchen, er trieb immer neue Schneemassen heran. Nach dem heißen Sommer war dieser frühe Wintereinbruch doppelt hart.

Die beiden Maultiere schritten stumpf, mit traurig gesenkten Köpfen voran, ab und zu schüttelten sie sich, dann flog der nasse Schnee in schweren Packen von ihnen ab. Besorgt beobachtete Werner das zweite Maultier, das er an langem Strick hinter sich her führte. Bis gestern war er auf ihm geritten, bis es plötzlich zusammengebrochen war. Nun lief es heute, zitternd und strauchelnd hinterdrein, nur mit dem kärglichen Proviant bepackt.

Es war wirklich an der Zeit, auszuruhen, haltzumachen, ein trockenes Lager zu suchen. Die Tiere hatten schon recht.

Seitdem er bei treibendem Schlackerschnee nachts durch die Sperre bei Huteggen geritten war, die Maultiere mit lappenumwickelten Hufen, damit ja kein Geräusch ihn verriete, seitdem er den letzten Gruß mit dem jungen Supersaxo und dem tapferen Anthanmaten getauscht hatte, – seit dieser nassen traurigen Nacht war er nicht wieder trocken geworden, hatte er kein warmes Quartier gesehen.

Viel waren sie nachts marschiert, die braven Muli, besonders die ersten Reisetage, als sie noch das Rhonetal aufwärtszogen. Es wäre nicht gut gewesen, hätte einer sie erkannt. Werner konnte es sich ungefähr zurechtreimen, in welchem Rufe er dort stehen würde. Dann kam die Furka, und hatte es unten im Rhonetal kalt geregnet, so lag hier der Schnee knietief. Anfänglich wollte er die Gotthardstraße entlangziehen, nach Luzern und weiter nach Basel, – die alte Rheinbrücke dort mußte ja, altes Steingemäuer, die sie war, noch beschreitbar sein, – aber in Andermatt war er in eine wilde, schreiende Menschenmenge geraten, die, schon halbverhungert und -erfroren, umherirrte. Die Einwohner von Göschenen hatten nicht nur den Gotthardtunnel gesprengt, sondern auch die Teufelsbrücke, um den Strom verzweifelter, kranker und irrsinniger Menschen abzudämmen. Werner konnte es den Bergbauern des Reustales nachfühlen, aber er mußte nun zurück.

So war er über den Grimselpaß gezogen und weiter durch die Berge Unterwaldens. Selten sah er einen Menschen, einmal hatte er eine Frau erspäht, sie schien allein in einem kleinen Bauernhaus zu leben. Vorsichtig war er nähergeritten, aber als er sie anrief, lief sie schreiend davon. Nun zog er das Bodenseeufer ostwärts, in Konstanz hatte sich natürlich von Peter keine Spur gefunden. Bei Bregenz fand er einen Übergang, es ging nun auf Lindau zu.

Das zweite Maultier strauchelte fortwährend. Es mußte Ruhe haben, sonst ging es ein.

Einen Herzschlag lang schien ihm sein ganzes Unternehmen sinnlos.

Nun hatte er gerade die Schweiz hinter sich gebracht, in mühevollen vierzehn Nächten und Tagen, eine Strecke, die er vor einigen Monaten in einem Tage mit dem Wagen durchrast hatte. Wochen schwerster Reise standen ihm noch bevor, und der Winter fiel gewaltsam über das entvölkerte, geschlagene Land. Er war müde zum Umfallen, die Tiere würden demnächst sterben. Wie erst sollte Peter, der weltfremde Gelehrte, den Weg überstehen, vom Nordkap herunter, quer durch Deutschland …

Es war ganz und gar unmöglich.

Wahrscheinlich lag Peter irgendwo tot, niemals würde irgend jemand erfahren, wo er gestorben war. Und doch! Hatte Gerdis nicht etwas gesagt, in der Nacht, ehe er abritt? Etwas, was er nicht ganz verstand, das aber doch eine Hoffnung offen ließ für den Freund? Ich weiß nicht, wie das ist, hatte sie gemeint, ich weiß gewiß, daß Peter noch lebt, aber ich denke an ihn, als sei er tot. Die ganze Zeit schon, seitdem er weg ist.

Nun, wie man das auch deuten möchte, noch war es möglich, wahrscheinlich sogar, daß Peter noch lebte, irgendwo in diesem heillos zerrütteten Europa.

Vorwärts denn. Vielleicht lag er in der Kapelle bei Creglingen, vor dem herrlichen Altar von Riemenschneider, und zählte sehnsüchtig die Stunden, bis der Freund erschien, ihn zu holen. Vielleicht war er krank? Ja, das mochte es sein, und wenn nicht bald Hilfe kam, starb er dahin. Ach, nur nicht denken. Nicht an die Berichte Morristones denken, der nun Saas-Fee regierte, nicht an das, was er selbst auf der Reise schon erlebte, nicht an den Winter, der ihn umpfiff, und nicht an das nächste Jahr!

Er war an Lindau vorbei, nun strauchelte auch schon das Maultier, das er ritt. Fast wäre es gestürzt. Nein, so ging es nicht mehr weiter. Jetzt kamen die schwäbischen Hügel, die Berge der Rauhen Alp, man mußte mit ausgeruhten Tieren auf die Höhen hinauf.

In der Ferne zeigte sich ein verbranntes Gehöft, bräunlich schien es durch den treibenden Schnee. Werner hielt darauf zu. vielleicht, daß ein Stall noch zu gebrauchen war.

Als er dem verbrannten Gehöft näherkam, heulte ein Hund, laut und klagend. Einen Augenblick verharrte Werner. Er gestand es sich ein, – er hatte Furcht, nackte, erbärmliche Furcht vor Menschen.

Aber dann schien ihm dieser winselnde Tierlaut menschlicher als alles, was er in den letzten Tagen gehört, er ritt vorsichtig weiter. Das Geheul wurde stärker, es klang, als riefe der Hund um Hilfe. Glaubte das Tier denn noch an Hilfe? Oder an Menschen?

Als er in das verfallene Tor bog, verstummte der Hund. Werner rief, pfiff, es rührte sich nichts. Dunkel ragten die verkohlten Dachbalken in den grauschweren Himmel.

Er wagte nicht, abzusteigen. Wenn man ihm die Tiere nahm, während er nach dem Hunde suchte? Ohne die Tiere war er hilflos, kam er nicht nach Norden. Plötzlich aber hörte er etwas: es war nicht mehr der Hund, es war ein leises, schmerzhaftes Weinen, das Weinen eines leidenden Kindes. Werner sprang ab, band die Tiere an einem Apfelbaum fest, der im Hofe stand. Vorsichtig schritt er dem kleinen erschütternden Laut entgegen. Er kam aus dem Dachgeschoß eines halb zusammengestürzten Hauses. Die Treppe, die hinter der Küche emporführte, war eingefallen, verkohlt, im Hausflur lag Schnee. Im Schuppen aber fand sich eine Leiter, die bis zum Giebel emporreichte.

Drinnen war zunächst nichts zu erkennen. Nur der Hund begann wieder wütend zu knurren.

»Ist jemand da?« fragte Werner. Keine Antwort kam, nur das Knurren wurde weniger stark.

»Gut Freund ist hier, ihr braucht keine Angst zu haben.« Wieder erfolgte nichts.

»Kann ich helfen?« Da löste sich aus dem Schatten der Mauer eine Gestalt. Neben ihr kroch der Hund aus dem Dunkel hervor, Werner holte die sorgsam geschonte Taschenlampe hervor, nur in Notminuten, hatte er sich geschworen, würde er sie gebrauchen, es war seine einzige. Aber hier war offenbar eine solche Not.

Im gelben Schein der Lampe sah er ein Kind und einen Schäferhund. Das Kind, ein Mädchen, stand in zerfetzten Kleidern, blinzelte, angstvoll, ins Licht.

»Hunger«, weinte das Kind. Der Hund fletschte drohend die Zähne.

»Ja, du sollst zu essen bekommen. Viel zu essen.«

Das verhärmte, abgemagerte Gesichtchen hellte sich auf, ein Schein wie von innerem Licht flog darüber hin.

»Richtig zu essen?« hauchte der blutleere Mund.

»Richtig zu essen. Komm nur mit.«

Das Kind kam näher. Auch der Hund humpelte heran, erst jetzt sah man, daß sein linkes Vorderbein zerschmettert war, auch das Kind wies an den Händen schwere Brandwunden auf.

»Nicht weh tun«, klagte es.

»Nein, ich tu dir nicht weh«, beruhigte Werner das kleine Geschöpf. Vorsichtig nahm er das Körperchen auf den Arm, trug es die Leiter herunter. Der Hund blieb im Dachgiebel stehen, sah aufmerksam hinterher. Das Mädchen war eiskalt, in seinem dünnen, zerrissenen Hemdchen mußte es entsetzlich frieren. Werner trug es bis zu dem Hauseingang, dann holte er den Hund.

Schließlich hatte er Mädchen und Hund, dazu seine Maultiere in einer halbwegs trockenen Ecke des Stalls. Er machte Feuer, gierig krochen Tier und Kind an die Wärme. Dann holte er Heu für die Maultiere, gab dem Hunde von seinen Fleischvorräten, etwas Schinken und ein wenig getrocknetes Ochsenfleisch, dem Kinde kochte er eine Erbssuppe. Erst als der kleine Mund gierig die heiße Suppe in sich sog und der Hund wedelnd und winselnd ihm die Füße umschmeichelte, auch die Maultiere behaglich kauten, fiel ihm auf, daß er für sich selbst ja keinerlei Essen hergerichtet hatte.

Nachdenklich brockte er noch einmal eine Erbswurst in den Kessel. Als er dann auch selber seine Suppe löffelte, begann er das Kind auszufragen, das bisher stumm, mit großen Augen ihm zugesehen hatte. Wie heißt du denn?«

»Erna.«

»Und wo sind deine Eltern?«

»Tot.«

»Schon lange?«

Das Kind schwieg, es dachte nach. »Ich weiß nicht«, sagte es dann, »eine Woche?«

Offenbar war es sich nicht darüber klar, ob eine Woche wohl sehr lange sein mochte.

»Wie sind sie denn gestorben?« fragte Werner weiter.

»Als sie das Haus angesteckt haben. Vater hat noch mit dem Dreschflegel gehaut, aber sie haben ihn doch totgemacht. Und die Mutter auch. Und sie liegen hinten im Brunnen.«

Werner durchfuhr es siedend heiß. Wie gut, daß er nicht zu dem Brunnen gelaufen war, Wasser für die Suppe zu holen, daß er mit Schneewasser gekocht hatte!

Grauenhaft war es, wie das Kind erzählte.

»Ja, und dann hab ich geschrien und dann haben sie mich auch geschlagen und auf den Boden geschleppt, und der Phylax ist immer hinterher.«

»Guter Phylax!«

Der Hund ließ Werners Füße, er kroch zu dem kleinen Mädchen hin und leckte ihm die Hände.

»Dann haben sie angezündet. Und dann bin ich umgefallen, und ich bin wieder aufgewacht, da war alles abgebrannt und der Phylax hat mich geleckt, so wie jetzt.«

Das Kind, überwältigt von der Erinnerung, fing wieder zu weinen an.

»Aber weißt du nicht, wer es war?« fragte Werner. Wenn er die Burschen fing, er würde sie totschlagen mitleidlos, und wenn die ganze Reise darüber zum Teufel ging. Das Kind verbrennen zu wollen, weil sie es nicht totschlagen wollten!

Aber woher sollte das Mädchen die Plünderer kennen? Sicher waren es Kerle gewesen, von weit her, die räubernd ihre Straße zogen, bis der Tod sie schlug.

Das Mädchen sah ihn unter Tränen an.

»Gewiß weiß ich das«, sagte es. »Das war doch der Xaver.« Sie schien sich zu wundern, daß Werner das nicht wußte.

»Der Xaver?« Werner war, als hätte er einen Schlag vor den Kopf bekommen.

»Ja, der Vetter von der Mutter. Aus Etzlingen. Er hat eine Wurst haben wollen, und die Mutter wollte sie ihm geben. Dann ist der Vater gekommen und hat sie wieder fortgenommen, weil wir doch nur noch drei Würste gehabt haben. Und der Vater hat gesagt, der Xaver soll machen, daß er vom Hof kommt.«

»Und dann hat der Xaver den Vater erschlagen?«

Das Mädchen nickte.

Die Maultiere scharrten im Stroh.

So also sah es aus. Werner war mit einem Male entsetzlich müde. Es schien ihm sinnlos zu sein, noch irgend etwas zu tun. Mochte die Welt einfallen. Sie war nichts mehr wert, war niemals etwas wert gewesen. Er starrte trübe in das sinkende Feuer.

Dann hörte er das Mädchen etwas sagen. Es dauerte lange, ehe er die Frage des Kindes begriff. »Bist du traurig?« hatte sie gefragt.

Rührung stieg in ihm auf. Nein, noch war ein Kind da, noch war die Welt nicht verloren. Diese Frage hatte sie wieder erlöst. Er nahm das Mädchen auf den Schoß.

»Was machen wir nur mit dir? Hierbleiben kannst du doch nicht, und mitnehmen kann ich dich doch auch nicht. Hast du denn keine Verwandten in der Nähe?«

»Verwandte?«

»Ja, Onkel oder Tante oder Großvater …«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Dann huschte wieder das Leuchten, über das Gesicht. »Großmutti. Großmutti wohnt in Betzheim.«

»In Betzheim. Und wie weit ist es bis dahin?«

Das Mädchen sah ihn wieder ängstlich an. »Ich weiß nicht. Ein paar Stunden?«

So war es nicht zu machen, das sah Werner. »Weißt du denn wenigstens den Weg dahin?«

Jetzt nickte Erna eifrig. »Sonntags sind wir oft dagewesen. früher …« Sie brach ab.

»Nun gut«, beschloß Werner, »morgen bringen wir dich zu deiner Großmutti. Und jetzt werde ich dir erst mal die Ärmchen und Händchen verbinden, und dann wird geschlafen.«

Er wickelte sorgsam die Wunden in zwei weiße Mullbinden, die er aus seiner Satteltasche hervorzauberte, es tat ordentlich gut, diese sauberen weißen Streifen inmitten der Verwahrlosung zu sehen. Dann schüttete er neben den Maultieren sich und dem Kinde ein warmes Lager.

* * *

Das Haus, zu dem Erna in Betzheim ihn führte, lag abseits des Dorfes. Ein vierschrötiger eisengrauer Bauer empfing ihn, Dreschflegel in der Faust. Hinter der Tür, die in Ledergelenken hing, starrte ein altes Mütterchen hervor.

»Gut Freund«, rief Werner von weitem.

»Das kann jeder sagen«, rief der Bauer dawider. Erst als er das Kind erkannte, das Werner vor sich im Sattel hielt, sank ihm die Waffe herab. Der Weg war weiter gewesen, als Werner es gedacht hatte. Nun schlief das Kind in seinen Armen.

»Ernerl«, schrie der Bauer, »'s Ernerl«, rief die Frau und kam herausgetrippelt.

Sie nahmen ihm das Kind aus der Hand, sie nahmen es sich gegenseitig von den Armen, Erna begann leise zu weinen.

Die traurige Geschichte war bald erzählt. Dem alten Bauern stand die helle Wut im Gesicht.

»Der Xaver«, dröhnte er und hieb mit der Faust auf den Tisch, »der Lump, wenn ich ihn erwisch! Totschlagen tu ich ihn, erwürgen mit den eigenen Händen! Die eigene Bas totzuschlagen, wegen einer Wurst! Es sind schlimme Zeiten, Herr. Arg schlimme Zeiten.«

Er sah wild vor sich hin. »Aber ich weiß schon, wo ich ihn auftreib, den Haderlumpen, den elendigen!«

Die alte Frau schlug einmal über das andere die Hände zusammen. Sie konnte das alles nicht fassen.

Später kam der Ortsvorstand dazu. Und nun erzählten sie beide, von den ersten Tagen, wie alles zusammenbrach, wie die ersten Plünderungen kamen, wie die erste Verzweiflung losbrach.

»Ja, da hat denn unser Vorstand hier einen Sicherheitsdienst eingerichtet. Tag und Nacht steht jetzt die Wache, und ins Dorf kommt uns keiner. Zuerst war das überall hier so in der Runde. Alle haben ihre Schuldigkeit getan, nach dem ersten Schrecken hat sich alles wieder zusammengefunden gehabt. Sind auch ganz gut gefahren dabei. In den Alpentälern solls wohl noch so sein. Aber dann ist so ein Weibsstück einmal dahergekommen, sah ganz elendiglich aus vor lauter Hunger und Not, da ist unsereins halt ein einziges Mal mildherzig gewesen. Und am andern Tag hatten wir die Seuche im Dorf.

Da hats nichts mehr genutzt, daß wir Wache gestanden sind früh und spät, der Tod hat uns von innen zerrissen. Sind nur wenige übergeblieben. In den Nachbardörfern sind die Leichen überall herumgelegen; wir haben uns nur retten können, weil wir gleich jedes Haus, wo einer gestorben ist, niedergebrannt haben. Und wer in dem Hause gelebt hat, der hat müssen auf die Vorwerke gehen, und hat nicht vor zwei Monaten wieder heimgedurft. So sind wir durchgekommen.

Aber wies werden soll im Frühjahr, das weiß keiner. Keinen Pflug, keine Hacke. Wir können das Land nit bestellen, Herr.«

Ja, das sei wohl überall so, meinte Werner. Gut nur, daß sie sich so wacker hielten. Vielleicht, daß doch noch etwas wieder aufkäme, wenn viele für sich tapfer blieben. Ob sie denn gar kein Eisen mehr hätten?

»Schauns, Herr, ich weiß nit, woher Sie kommen. Wir hätten Sie schon ausgetrieben, wenn Sie die Erna nicht gebracht hätten vom Letzlinger Hans. Ich bin Schmied, hab alles studiert, ob man das hingewordene Eisen nit wieder härten könnt, hab tagelang vor dem Holzkohlenfeuer gehockt, aber es schmilzt nit mehr zusammen zur Härte, es bleibt wie Blei. Und womit soll mans hämmern?«

Der mächtige Mann starrte vor sich hin. »Nein, nein, Herr, im Frühjahr gehts zu End. Aber wir wollen wenigstens anständig sterben, da wo unsere Väter begraben sind, da wollen wir uns hinlegen. Und nit so hinter einer Hecke verrecken wie die Vagabunden alle. – Wenn man wenigstens ein Messer hätt«, stöhnte er auf.

Werner stand auf, ging in den Stall. Er wühlte in den Satteltaschen, dann zog er vorsichtig eines seiner beiden schweren Schwedenmesser heraus. Er prüfte Klinge und Griff, dann ging er zurück.

»Da«, sagte er, und legte das blinkende schwere Ding dem Schmied in die Hand. »Solang es das gibt, brauchen Sie nicht zu verzweifeln.«

Vorsichtig, als ob man ihm ein kostbares zerbrechliches Stück Glas gereicht hätte, wog der Mann das Messer in seiner Hand. Seine Augen wurden starr, feierlich strich er über die Schneide, dann nahm er das Messer beim Griff und schnitt langsam einen Holzspan vom Tisch. »Mein Gott«, sagte er andächtig. »Daß es so etwas noch gibt. Ein Messer, ein richtiges Messer. Und ganz hart und scharf.« Er sah Werner an. »Ist das ein besonderer Stahl? Ist es überhaupt Stahl?« Seine tiefe brüchige Stimme zitterte, dicke Tränen liefen ihm über die bärtigen Wangen. »Herr, Herr, wo haben Sie das her? Wie ist das möglich?«

Werner beugte sich zu dem Manne. »In einem Tunnel hats gelegen. Da sind die Strahlen, die von dem Stern gekommen sind, als er in die Sonne gestürzt ist, nicht hingekommen.«

Der Schmied fuhr zurück. Er starrte Werner an, dann sprang er auf Werner los. »In einem Tunnel?« schrie er. »In einem Tunnel? Reden Sie doch, Mensch, in einem richtigen Eisenbahntunnel?«

»In einem Straßentunnel«, erwiderte Werner; er begriff nicht die Aufregung des Mannes.

»Aber, Herr, Herr«, und nun weinte der große starke Mann wirklich hell los, »dann ist ja alles gut, dann sind wir ja gerettet, gerettet!« Er schrie es hinaus. Er umarmte Werner, er tanzte in der Stube umher. »Daß das möglich ist, oh Gott, oh Gott«, und plötzlich kniete er hin und begann inbrünstig zu beten.

Werner begriff nichts von alledem.

»Aber was haben Sie denn?« fragte er behutsam.

Der Schmied sah verklärt zu ihm auf. »Einen Tunnel haben wir in der Nähe, Herr, einen Tunnel. Einen Eisenbahntunnel. Mit Schienen drin.«

Er verstummte wieder, überwältigt von seinem Glück.

Werner gab es einen Riß mittendurch. Daß er daran nicht gedacht hatte, die ganze Zeit über daran nicht gedacht hatte, an die Eisenbahnschienen in den Alpentunnels, im Simplon und im Sankt Gotthard, an den Lötschbergtunnel und an all die anderen! Tor, der er war. Er mußte lachen, so albern, so dumm schien ihm das alles zu sein. Auf das Selbstverständlichste von der Welt war er nicht verfallen. Und womöglich trugen ihm jetzt die Banditen aus Sitten das kostbare Eisen aus den Bergdurchstichen weg und machten Waffen daraus.

Er mußte sofort umkehren, mußte sofort die Tunnels besetzen lassen. Die Sperre mußte bis Visp herunter; Zermatt, das Simplontal, das ganze Rhonetal aufwärts mußte in seine Hand kommen. Er hätte sich schlagen können über seine Dummheit. Und dieser Schmied hier, der begriff das alles sofort. O, Werner Erlinspiel, wie klug du doch bist!

Aber ohne Peter? Ohne Peter konnte er nicht zurück. Was sollte er Gerdis sagen? Würde sie begreifen, daß die Eisenbahnschienen in den Bergen wichtiger waren als Peter? Nein, niemals würde sie das einsehen. Drohte denn überhaupt Gefahr? Jetzt, im Winter, in diesem frühen, schneereichen Winter, wo alle Pässe dicht verschneit lagen?

Höchstens in den Simplon konnte man hinein. Gerade in den Simplon, der das meiste Eisen bergen mußte, mit seinen fast zwanzig Kilometern Länge. Wußten nicht schon überhaupt viele um das Geheimnis? Mußten nicht gerade durch den Simplon Tausende gezogen sein auf ihrer Flucht? Und dabei die Schienen bemerkt haben, glatt, hart, aus altem Eisen?

Von Brig her mußten sie eingedrungen sein, und von Iselle aus.

Nein, es gab nichts mehr zu retten, das Eisen des Simplon war verloren. Der Schmied begriff nicht, daß der Mann da mit einem Male so niederbrach, so ganz zerstört auf seinem Stuhle hockte. Er schob es auf die Erschöpfung, auf die lange Reise. Hatte der Fremde nicht gesagt, er käme aus der Schweiz? Ein gut Stück Weg, da durfte einer schon müde sein.

Er nahm das Messer an sich, verbarg es sorgsam in seinem Rock. »Vielen Dank, Herr«, stammelte er, »vielen Dank. Der Himmel möge Ihnen gut sein, alle Tage.«

Er ging rückwärts hinaus. Werner rührte sich nicht.

Wie ein Rasender lief der Schmied ins Dorf hinab. Drei Minuten später rannte er mit einer Schar junger Burschen aufs Feld hinaus, dem fernen kleinen Tunnel zu.

Im Tunnel fanden sie, etwa zehn Meter hinter dem Eingang, festes Eisen. Dazu einen Streckenhammer, zwei Spitzhacken und einen schweren Vorschlaghammer, drei Schraubenschlüssel und einen Apparat zum Glätten der Schienenstöße. Offenbar war am Tage vor der Katastrophe im Tunnel gearbeitet worden.

Als die Männer zurückkamen, jubelnd, singend, die Werkzeuge vor sich hertragend, als wären sie erbeutete Feldzeichen, saß Werner noch immer regungslos im Stuhl. Nun fiel der Jubel über ihn her, er mußte aufstehen, mußte die Hämmer ansehen und die Hacken. Mußte den Dank annehmen überglücklicher Menschen.

Das Ernerl sah mit großen Augen darein, es begriff nichts, aber es spürte, daß der Jubel dem guten Onkel galt, der es aus der kalten und finsteren Bodenkammer geholt hatte, und so lief es zu Werner Erlinspiel hin, drückte sich an ihn und sagte mit einem klaren, feinen Stimmchen: »Guter Mann.«

Das war zuviel, mühsam verbarg Werner die aufsteigenden Tränen. »Männer«, sagte er und strich dabei dem Mädelchen über das blonde Haar, »macht erst kurze Schwerter für euch aus dem Eisen, und Messer und Sägen und Feilen, damit ihr euch Pfeil und Bogen anfertigen könnt. Und erst wenn ihr Schwerter und Lanzen und Bogen habt, dann erst macht Sensen und Pflüge. Ohne Waffe werdet ihr nichts ernten.«

Er stand aufrecht da, seine Augen sahen in eine große Ferne. Er sah Saas-Fee, Gerdis und Morristone, Zurbriggen und Anthanmaten.

»Ich will euch noch etwas geben, Männer, weil ihr tapfer gewesen seid.« Er zog seinen Browning hervor, den er an einem kleinen Riemen unter der Achsel hängen hatte. »Hier habt ihr eine Waffe, wenn es ganz hart wird für euch. Munition gebe ich euch noch. Aber schießt nur im äußersten Notfall, ein Schuß muß genügen. Dann habt ihr Ruhe. Und dann schafft hier wieder Deutschland, ein Stück von Deutschland. So wie wir es kennen. Gerade, tapfer, anständig.«

Der Schmied empfing die Waffe. »S'ist wie beim Christkindl«, murmelte er. »Wer seid Ihr nur, Herr?« Ehrfürchtig sah er Erlinspiel an. »Wollt Ihr nicht bei uns bleiben und uns sagen, was wir tun sollen?«

»Glauben und arbeiten«, sagte Werner. »Und tapfer sein. Nichts als das. Dann wird alles gut werden mit euch und mit dem Land.«

»Bleibt hier«, baten sie alle nun.

»Nein, ich kann nicht bleiben, weil ich nach einem Freunde suchen muß, quer durch Deutschland. Und weil ich dann zurück muß ins Tal von Saas-Fee, das ist fern im Süden der Schweiz, wo die hohen Pässe sind.«

»Was können wir für Sie tun«, bat der Schmied.

»Ja, was könntet ihr tun?« fragte Werner.

»Wir werden Ihre Maultiere füttern, daß sie die Reise überstehen, und wir werden Euch Essen mitgeben für viele Wochen, und was Ihr sonst wollt. Sprecht nur. Wir sind so sehr in Eurer Schuld.« Der Schmied bat fast demütig.

Da kam Werner ein Gedanke, der erste klare Gedanke, seitdem er vor sich hingebrütet hatte.

»Einen sehr großen Dienst könntet ihr mir schon tun, Dorfvorstand«, sagte er langsam. »Aber es ist große Gefahr dabei, und vielleicht kommt einer nicht wieder heim dabei.«

Heftiger beteuerten nun alle, daß sie tun würden, was auch Werner verlangen möchte.

»Wollt ihr mir einen Brief besorgen an meine Leute im Saaser Tal?«

»Das wollen wir wohl«, rief der Schmied. »Meine Neffen können gehen, zwei fixe Burschen. Sagt ihnen nur, wie sie gehen sollen, sie werdens schon finden, Wies aussieht in der Welt wissen sie, und sind zwanzig Jahre alt, Zwillingsbrüder. Die zwingens schon. Gebt nur den Brief.«

Werner fiel ein Stein vom Herzen.

Der Etzlingerjosef hatte Papier und Tinte im Haus, aber die Federn waren halt alle unbrauchbar. So mußte denn mit Bleistift geschrieben werden. Und Werner schrieb, an Morristone, daß er mit den Zermattern nun doch sich zusammentun sollte, so aber, daß die Zermatter darum bäten, und er solle schauen, daß er die vielen Bergdurchstiche der Gornergratbahn in die Hand bekäme im Zermatter Tal, dazu den Simplontunnel. Vielleicht auch den Lötschberg. Denn überall im Berg seien die Eisenbahnschienen gesund geblieben.

Er schrieb den Brief englisch. So konnte vielleicht kein Schade entstehen, falls ihn doch die Burschen verloren oder er ihnen genommen wurde. Natürlich, es würde Wochen dauern, bis die beiden den Brief abliefern konnten, – aber besser, er versuchte dies, als daß Monde vergingen, bis er selbst wieder heimkam.

Der Schmied holte seine Neffen, Werner erklärte ihnen den Weg, er zeichnete ihn ihnen auf, warnte sie vor gefährlichen Stellen, und besonders vor den Leuten aus Sitten. Die beiden sahen aufgeweckt und stolz drein, froh, den ehrenvollen Auftrag zu bekommen, froh auch, ein Abenteuer bestehen zu müssen.

»Das Dorf dankt dem Manne da das Leben«, sagte der Schmied feierlich. »Er hat uns gerettet. Ihr sollt unseren Dank abstatten, indem daß ihr den Brief sicher dorthin besorgt, wohin er soll, nach Huteggen, wies der Herr gesagt hat. Macht uns keine Schand, Burschen!«

Die beiden erglühten. Sie drückten Werner die Hand. »Dank schön«, sagten sie, »wir wollens wohl ausrichten.«

* * *

Als es Abend wurde, ritt Erlinspiel weiter, dem Norden zu. Das Dorf gab ihm das Geleit ein gutes Stück, dann ritt er allein in die sinkende Nacht. Sein nächstes Ziel war Creglingen, wie er es vereinbart hatte mit Peter. In drei Tagen konnte er dort sein. Nein, er hatte die Maultiere nicht erst im Dorfe auffüttern lassen können, er mußte vorwärts, vorwärts. Ihm war, als stieße ihn etwas voran, eine Ahnung, eine Macht, ein Befehl, ein körperlicher Anruf.

Er hatte keine Hoffnung, in Creglingen Peter zu finden. Nein, mit dem Warten vor dem Altarbild war es sicher nichts. Er mußte weiter, über Ansbach an Nürnberg vorbei nach Kronach und die Saale entlang nach Naumburg, dann kam das Industriegebiet, man konnte jetzt noch keine Pläne fassen. Irgendwie würde er schon nach Potsdam kommen, zu dem kleinen Haus an der Römerschanze.

Schade, daß er die Autostraßen nicht entlang reiten konnte, aber die vielen eingestürzten Brücken mußten ihn zu sehr aufhalten. Da waren die alten Straßen besser. Vielleicht stand auch noch hier und da eine alte Steinbrücke oder ein Steg von Holz, und vielleicht froren die Flüsse, es war ja jetzt schon hundekalt.

Ja, und dann mußte man den Gotthard sich einverleiben und im Westen die Grenze bis St. Maurice vorschieben. Im Süden brauchte man das Valdivedro bis Domodossola, am besten war es, man schob die Herrschaft gleich bis an den Lago Maggiore vor, dann deckte man das ganze Südtal der Gotthardbahn bis Bellinzona ab. Aber da war die Verteidigung schwer, zu offen lag der See nach Süden ausgebreitet. Die Waffen würden nicht hinreichen.

Er zuckte zusammen. War es denn gar nicht anders möglich, als daß er nur noch an Kampf dachte, an Eroberung und Waffen? Konnten die Menschen nicht freiwillig das tun, was nötig war?

Er dachte nach, er lauschte in sich hinein.

Es pfiff der Sturm, es rann der Schnee hernieder.

»Nein«, sagte er laut in die Nacht hinein. »Nein.« Eine große Entscheidung war gefallen.


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