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Drei Jahre, 1919, 1920, 1921, die drei schwersten Nachkriegsjahre Österreichs, hatte ich nun eingegraben in Salzburg gelebt, eigentlich schon die Hoffnung aufgebend, jemals wieder die Welt zu sehen. Der Zusammenbruch nach dem Kriege, der Haß im Auslande gegen jeden Deutschen oder deutsch Schreibenden, die Entwertung unserer Währung war so katastrophal, daß man sich im voraus bereits damit abgefunden hatte, sein Leben lang festgebannt zu bleiben an seine enge heimatliche Sphäre. Aber alles war besser gekommen. Man aß sich wieder satt. Man saß unbehelligt an seinem Schreibtisch. Es war nicht geplündert worden, es gab keine Revolution. Man lebte, man spürte seine Kräfte. Sollte man nicht doch wieder die Lust seiner jungen Jahre erproben und in die Ferne fahren?
An weite Reisen war noch nicht zu denken. Aber Italien lag nahe, nur acht oder zehn Stunden weit. Sollte man es wagen? Als Österreicher galt man drüben als der ›Erbfeind‹, obwohl man selbst nie so gefühlt. Sollte man sich unfreundlich abweisen lassen, an den alten Freunden vorbeigehen müssen, um sie nicht in eine peinliche Lage zu bringen? Nun, ich wagte es und fuhr eines Mittags über die Grenze.
Abends kam ich in Verona an und ging in ein Hotel. Man reichte mir den Meldezettel, ich trug mich ein; der Portier überlas das Blatt und staunte, als er unter der Rubrik Nationalität das Wort ›Austriaco‹ las. »Lei è Austriaco?« fragte er. Wird er mir jetzt die Tür weisen, dachte ich. Aber als ich bejahte, jubelte er beinahe. »Ah, che piacere! Finalmente!« Das war der erste Gruß und eine neuerliche Bestätigung des schon im Krieg empfundenen Gefühls, daß die ganze Haßpropaganda und Verhetzung nur ein kurzes intellektuelles Fieber erzeugt, im Grunde aber nie die wirklichen Massen Europas berührt hatte. Eine Viertelstunde später kam dieser wackere Portier eigens noch in mein Zimmer, um nachzusehen, ob für mich alles gut besorgt sei. Er lobte begeistert mein Italienisch, und wir schieden mit herzlichem Händedruck.
Am nächsten Tage war ich in Mailand; ich sah wieder den Dom, schlenderte durch die Galleria. Es war wohltuend, die geliebte vokalische Musik des Italienischen zu hören, sich so sicher in allen Straßen zurechtzufinden und die Fremdheit als etwas Vertrautes zu genießen. Im Vorübergehen sah ich bei einem der großen Gebäude die Aufschrift ›Corriere della Sera‹. Plötzlich fiel mir ein, daß hier in der Redaktion mein alter Freund G. A. Borgese in führender Stellung sei, Borgese, in dessen Gesellschaft ich – zusammen mit Graf Keyserling und Benno Geiger – in Berlin und Wien manchen geistig beschwingten Abend verbracht. Einer der besten und leidenschaftlichsten Schriftsteller Italiens und von außerordentlichem Einfluß auf die Jugend, hatte er, obwohl Übersetzer von ›Werthers Leiden‹ und Fanatiker der deutschen Philosophie, im Kriege scharf Stellung genommen gegen Deutschland und Österreich und Schulter an Schulter mit Mussolini (mit dem er sich später entzweite) zum Kriege gedrängt. Es war während des ganzen Krieges ein sonderbarer Gedanke für mich gewesen, einen alten Kameraden auf der Gegenseite als Interventionisten zu wissen; um so mehr empfand ich Verlangen, einen solchen ›Feind‹ zu sehen. Immerhin wollte ich es nicht darauf ankommen lassen, mich abweisen zu lassen. So hinterließ ich meine Karte für ihn und versah sie mit meiner Hoteladresse. Aber noch war ich die Treppe nicht hinunter, so stürzte schon jemand mir nach, das scharflebendige Gesicht leuchtend vor Freude – Borgese; nach fünf Minuten sprachen wir so herzlich wie immer und vielleicht noch herzlicher. Auch er hatte gelernt aus diesem Krieg, und von dem einen und dem andern Ufer waren wir einander nähergekommen als je.
So ging es überall. In Florenz sprang auf der Straße mein alter Freund Albert Stringa, ein Maler, auf mich zu und umarmte mich so heftig und unvermittelt, daß meine Frau, die mit mir war und ihn nicht kannte, glaubte, dieser fremde bärtige Mann plane ein Attentat auf mich. Alles war wie früher, nein, noch herzlicher. Ich atmete auf: der Krieg war begraben. Der Krieg war vorüber.
Aber er war nicht vorüber. Wir wußten es nur nicht. Wir täuschten uns alle in unserer Gutgläubigkeit und verwechselten unsere persönliche Bereitschaft mit jener der Welt. Aber wir brauchen uns dieses Irrtums nicht zu schämen, denn nicht minder als wir haben sich die Politiker, die Ökonomen, die Bankleute getäuscht, die gleichfalls in diesen Jahren eine trügerische Konjunktur für Gesundung nahmen und Ermüdung für Befriedigung. Der Kampf hatte sich in Wirklichkeit nur verschoben, vom Nationalen ins Soziale; und gleich in den ersten Tagen war ich Zeuge einer Szene, die ich erst später in ihrer weittragenden Bedeutung verstand. Wir wußten in Österreich damals nicht mehr von der italienischen Politik, als daß mit der Enttäuschung nach dem Kriege scharfe sozialistische und sogar bolschewistische Tendenzen eingerissen waren. An jeder Mauer konnte man in ungelenken Schriftzügen mit Kohle oder Kreide ein ›Viva Lenin‹ hingeschrieben sehen. Ferner hatte man gehört, daß einer der sozialistischen Führer namens Mussolini sich während des Krieges von der Partei losgesagt und irgendeine Gegengruppe organisiert hatte. Aber man nahm derlei Mitteilungen nur mit Gleichgültigkeit zur Kenntnis. Was hatte solch ein Grüppchen zu bedeuten? In jedem Land gab es damals solche Klüngel; im Baltikum marschierten Freischärler herum, im Rheinland, in Bayern bildeten sich separatistische Gruppen, überall gab es Demonstrationen und Putsche, die aber fast immer niedergeschlagen wurden. Und niemand dachte daran, diese ›Faschisten‹, die statt der garibaldischen roten Hemden sich schwarze beigelegt hatten, als einen wesentlichen Faktor der künftigen europäischen Entwicklung anzusehen.
Aber in Venedig bekam das bloße Wort plötzlich für mich einen sinnlichen Inhalt. Ich kam von Mailand nachmittags in die geliebte Lagunenstadt. Kein Träger war zur Stelle, keine Gondel, müßig standen Arbeiter und Bahnbeamte herum, die Hände demonstrativ in den Taschen. Da ich zwei ziemlich schwere Koffer mit mir schleppte, blickte ich hilfesuchend um mich und fragte einen älteren Herrn, wo hier Träger zu finden seien. »Sie sind an einem schlechten Tag gekommen«, antwortete er bedauernd. »Aber wir haben jetzt oft solche Tage. Es ist wieder einmal Generalstreik.« Ich wußte nicht, warum Streik war, und fragte nicht weiter danach. Wir waren derlei von Österreich zu gewohnt, wo die Sozialdemokraten sehr zu ihrem Verhängnis allzuoft dieses ihr schärfstes Mittel einsetzten, ohne es dann faktisch auszuwerten. Ich schleppte also mühselig meine Koffer weiter, bis ich endlich aus einem Seitenkanal einen Gondoliere mir hastig und verstohlen zuwinken sah, der dann mich und die beiden Koffer aufnahm. In einer halben Stunde waren wir, an einigen gegen den Streikbrecher geballten Fäusten vorbeisteuernd, im Hotel. Mit der Selbstverständlichkeit einer alten Gewohnheit ging ich sofort auf den Markusplatz. Er sah auffallend verlassen aus. Die Läden der meisten Geschäfte waren herabgelassen, niemand saß in den Cafés, nur eine große Menge von Arbeitern stand in einzelnen Gruppen unter den Arkaden wie Menschen, die auf irgend etwas Besonderes warten. Ich wartete mit ihnen. Und dann kam es plötzlich. Aus einer Seitengasse marschierte oder eigentlich lief in hastigem Gleichschritt eine Gruppe junger Leute, gut geordnet, die in geübtem Takt ein Lied sangen, dessen Text ich nicht kannte – später wußte ich, daß es die ›Giovinezza‹ war. Und schon waren sie, Stöcke schwingend, in ihrem Laufschritt vorbei, ehe die hundertfach überlegene Masse Zeit gehabt hatte, sich auf den Gegner zu stürzen. Der verwegene und wirklich mutige Durchmarsch dieser kleinen organisierten Gruppe war so rasch erfolgt, daß sich die andern der Provokation erst bewußt wurden, als sie ihrer Gegner nicht mehr habhaft werden konnten. Ärgerlich scharten sie sich jetzt zusammen und ballten die Fäuste, aber es war zu spät. Der kleine Sturmtrupp war nicht mehr einzuholen.
Immer haben optische Eindrücke etwas Überzeugendes. Zum erstenmal wußte ich jetzt, daß dieser sagenhafte, mir kaum bekannte Faschismus etwas Reales sei, etwas sehr gut Geleitetes, und daß er entschlossene, kühne junge Menschen für sich fanatisierte. Ich konnte meinen älteren Freunden in Florenz und Rom seitdem nicht mehr beipflichten, die mit einem verächtlichen Achselzucken diese jungen Menschen als eine ›gemietete Bande‹ abtaten und ihren ›Fra Diavolo‹ verspotteten. Aus Neugier kaufte ich mir einige Nummern des ›Popolo d'Italia‹ und spürte an dem scharfen, lateinisch knappen, plastischen Stil Mussolinis die gleiche Entschlossenheit wie bei dem Sturmlauf jener jungen Leute über den Markusplatz. Selbstverständlich konnte ich die Dimensionen nicht ahnen, die dieser Kampf schon ein Jahr später annehmen sollte. Aber daß ein Kampf hier und überall bevorstand und daß unser Friede nicht der Friede war, war mir von dieser Stunde bewußt.
Dies war für mich die erste Warnung, daß unter der scheinbar beruhigten Oberfläche unser Europa voll gefährlicher Unterströmungen war. Die zweite ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte mich, von der Lust des Reisens neuerdings angereizt, entschlossen, im Sommer nach Westerland an der deutschen Nordsee zu fahren. Ein Besuch in Deutschland hatte damals für einen Österreicher noch etwas Bestärkendes. Die Mark hatte sich gegen unsere verkümmerte Krone bisher großartig gehalten, der Genesungsprozeß schien in vollstem Gange. Pünktlich auf die Minute die Züge, sauber und blank die Hotels, überall rechts und links vom Gleise neue Häuser, neue Fabriken, überall die tadellose, lautlose Ordnung, die man im Vorkrieg gehaßt und im Chaos wieder schätzengelernt. Eine gewisse Spannung lag freilich in der Luft, denn das ganze Land wartete, ob die Verhandlungen in Genua und Rapallo, die ersten, bei denen Deutschland als Gleichberechtigter neben den vormals feindlichen Mächten saß, die erhoffte Erleichterung der Kriegslasten oder zumindest eine schüchterne Geste wirklicher Verständigung bringen würden. Der Leiter dieser in der Geschichte Europas so denkwürdigen Verhandlungen war niemand anderer als mein alter Freund Rathenau. Sein genialer Organisationsinstinkt hatte sich schon während des Krieges großartig bewährt; gleich in der ersten Stunde hatte er die schwächste Stelle der deutschen Wirtschaft erkannt, an der sie später auch den tödlichen Stoß empfing: die Rohstoffversorgung, und rechtzeitig hatte er (auch hier die Zeit vorausnehmend) die ganze Wirtschaft zentral organisiert. Als es dann nach dem Kriege galt, einen Mann zu finden, der – au pair den Klügsten und Erfahrensten unter den Gegnern – diesen als deutscher Außenminister diplomatisch entgegentreten konnte, fiel die Wahl selbstverständlich auf ihn.
Zögernd rief ich ihn in Berlin an. Wie einen Mann behelligen, während er das Schicksal der Zeit formte? »Ja, es ist schwer«, sagte er mir am Telephon, »auch die Freundschaft muß ich jetzt dem Dienst aufopfern.« Aber mit seiner außerordentlichen Technik, jede Minute auszunutzen, fand er sofort die Möglichkeit eines Zusammenseins. Er habe ein paar Visitenkarten bei den verschiedenen Gesandtschaften abzuwerfen, und da er vom Grunewald eine halbe Stunde im Auto dazu herumfahren müsse, sei es am einfachsten, ich käme zu ihm und wir plauderten dann diese halbe Stunde im Auto. Tatsächlich war seine geistige Konzentrationsfähigkeit, seine stupende Umschalteleichtigkeit von einer Materie zur andern derart vollkommen, daß er jederzeit im Auto wie in der Bahn ebenso präzis und profund sprechen konnte wie in seinem Zimmer. Ich wollte die Gelegenheit nicht versäumen, und ich glaube, es tat ihm auch wohl, sich mit jemandem aussprechen zu können, der politisch unbeteiligt und ihm persönlich seit Jahren freundschaftlich verbunden war. Es wurde ein langes Gespräch, und ich kann bezeugen, daß Rathenau, der persönlich von Eitelkeit keineswegs frei war, durchaus nicht leichten Herzens und noch weniger gierig und ungeduldig die Stellung eines deutschen Außenministers übernommen hatte. Er wußte im voraus, daß die Aufgabe vorläufig noch eine unlösbare war und daß er im besten Falle einen Viertelerfolg zurückbringen konnte, ein paar belanglose Konzessionen, daß aber ein wirklicher Frieden, ein generöses Entgegenkommen, noch nicht zu erhoffen war. »In zehn Jahren vielleicht«, sagte er mir, »vorausgesetzt, daß es allen schlecht geht und nicht nur uns allein. Erst muß die alte Generation aus der Diplomatie weggeräumt sein und die Generäle nur noch als stumme Denkmäler auf den öffentlichen Plätzen herumstehen.« Er war sich vollkommen bewußt der doppelten Verantwortlichkeit durch die Belastung, daß er Jude war. Selten in der Geschichte vielleicht ist ein Mann mit so viel Skepsis und so voll innerer Bedenken an eine Aufgabe herangetreten, von der er wußte, daß nicht er, sondern nur die Zeit sie lösen könnte, und er kannte ihre persönliche Gefahr. Seit der Ermordung Erzbergers, der die unangenehme Pflicht des Waffenstillstands übernommen, vor der sich Ludendorff vorsichtig ins Ausland gedrückt, durfte er nicht zweifeln, daß auch ihn als Vorkämpfer der Verständigung ein ähnliches Schicksal erwartete. Aber unverheiratet, kinderlos und im Grunde tief vereinsamt, wie er war, meinte er die Gefahr nicht scheuen zu müssen; auch ich hatte nicht den Mut, ihn zu persönlicher Vorsicht zu mahnen. Daß Rathenau seine Sache in Rapallo so ausgezeichnet gemacht hat, wie es unter den herrschenden Umständen damals möglich war, ist heute ein historisches Faktum. Seine blendende Begabung, rasch jeden günstigen Augenblick zu fassen, seine Weltmännischkeit und sein persönliches Prestige haben sich nie glänzender bewährt. Aber schon waren die Gruppen stark im Lande, die wußten, daß sie einzig Zulauf finden würden, wenn sie dem besiegten Volke immer wieder versicherten, daß es gar nicht besiegt und daß jedes Verhandeln und Nachgeben Verrat an der Nation sei. Schon waren die – stark homosexuell durchsetzten – Geheimbünde mächtiger, als die damaligen Leiter der Republik vermuteten, die in ihrer Vorstellung von Freiheit alle gewähren ließen, welche die Freiheit in Deutschland für immer beseitigen wollten.
In der Stadt nahm ich dann vor dem Ministerium von ihm Abschied, ohne zu ahnen, daß es der endgültige war. Und später erkannte ich auf den Photographien, daß die Straße, auf der wir gemeinsam gefahren, dieselbe war, wo kurz darauf die Mörder dem gleichen Auto aufgelauert: eigentlich war es nur Zufall, daß ich nicht Zeuge dieser historisch verhängnisvollen Szene gewesen. So konnte ich noch bewegter und sinnlich eindrucksvoller die tragische Episode nachfühlen, mit der das Unglück Deutschlands, das Unglück Europas begann.
Ich war an diesem Tage schon in Westerland, Hunderte und Aberhunderte Kurgäste badeten heiter am Strand. Wieder spielte eine Musikkapelle wie an jenem Tage, da Franz Ferdinands Ermordung gemeldet wurde, vor sorglos sommerlichen Menschen, als wie weiße Sturmvögel die Zeitungsausträger über die Promenade stürmten: »Walther Rathenau ermordet!« Eine Panik brach aus, und sie erschütterte das ganze Reich. Mit einem Ruck stürzte die Mark, und es gab kein Halten mehr, ehe nicht die phantastischen Irrsinnszahlen von Billionen erreicht waren. Nun erst begann der wahre Hexensabbat von Inflation, gegen den unsere österreichische mit ihrer doch schon absurden Relation von 1 zu 15 000 nur ein armseliges Kinderspiel gewesen. Sie zu erzählen mit ihren Einzelheiten, ihren Unglaublichkeiten würde ein Buch fordern, und dieses Buch würde auf die Menschen von heute wie ein Märchen wirken. Ich habe Tage erlebt, wo ich morgens fünfzigtausend Mark für eine Zeitung zahlen mußte und abends hunderttausend; wer ausländisches Geld wechseln mußte, verteilte die Einwechslung auf Stunden, denn um vier Uhr bekam er das Mehrfache von dem, was er um drei, und um fünf Uhr wieder das Mehrfache von dem, was er sechzig Minuten vorher bekommen hätte. Ich sandte zum Beispiel meinem Verleger ein Manuskript, an dem ich ein Jahr gearbeitet hatte, und meinte mich zu sichern, indem ich sofortige Vorausbezahlung für zehntausend Exemplare verlangte; bis der Scheck überwiesen war, deckte er kaum, was vor einer Woche die Frankierung des Pakets gekostet; man zahlte in der Straßenbahn mit Millionen, Lastwagen karrten das Papiergeld von der Reichsbank zu den Banken, und vierzehn Tage später fand man Hunderttausendmarkscheine in der Gosse: ein Bettler hatte sie verächtlich weggeworfen. Ein Schuhsenkel kostete mehr als vordem ein Schuh, nein, mehr als ein Luxusgeschäft mit zweitausend Paar Schuhen, ein zerbrochenes Fenster zu reparieren mehr als früher das ganze Haus, ein Buch mehr als vordem die Druckerei mit ihren Hunderten Maschinen. Für hundert Dollar konnte man reihenweise sechsstöckige Häuser am Kurfürstendamm kaufen. Fabriken kosteten umgerechnet nicht mehr als früher ein Schubkarren. Halbwüchsige Jungen, die eine Kiste Seife im Hafen vergessen gefunden, sausten monatelang in Autos herum und lebten wie Fürsten, indem sie jeden Tag ein Stück verkauften, während ihre Eltern, einstmals reiche Leute, als Bettler herumschlichen. Austräger gründeten Bankhäuser und spekulierten in allen Valuten. Über ihnen allen erhob sich gigantisch die Gestalt des Großverdieners Stinnes. Er kaufte, indem er unter Ausnutzung des Marktsturzes seinen Kredit erweiterte, was nur zu kaufen war, Kohlengruben und Schiffe, Fabriken und Aktienpakete, Schlösser und Landgüter, und alles eigentlich mit Null, weil jeder Betrag, jede Schuld zu Null wurde. Bald war ein Viertel Deutschlands in seiner Hand, und perverserweise jubelte ihm das Volk, das sich in Deutschland immer am sichtbaren Erfolg berauscht, wie einem Genius zu. Die Arbeitslosen standen zu Tausenden herum und ballten die Fäuste gegen die Schieber und Ausländer in den Luxusautomobilen, die einen ganzen Straßenzug aufkauften wie eine Zündholzschachtel; jeder, der nur lesen und schreiben konnte, handelte und spekulierte, verdiente und hatte dabei das geheime Gefühl, daß sie alle sich betrogen und betrogen wurden von einer verborgenen Hand, die dieses Chaos sehr wissentlich inszenierte, um den Staat von seinen Schulden und Verpflichtungen zu befreien. Ich glaube Geschichte ziemlich gründlich zu kennen, aber meines Wissens hat sie nie eine ähnliche Tollhauszeit in solchen riesigen Proportionen produziert. Alle Werte waren verändert und nicht nur im Materiellen; die Verordnungen des Staates wurden verlacht, keine Sitte, keine Moral respektiert, Berlin verwandelte sich in das Babel der Welt. Bars, Rummelplätze und Schnapsbuden schossen auf wie die Pilze. Was wir in Österreich gesehen, erwies sich nur als mildes und schüchternes Vorspiel dieses Hexensabbats, denn die Deutschen brachten ihre ganze Vehemenz und Systematik in die Perversion. Den Kurfürstendamm entlang promenierten geschminkte Jungen mit künstlichen Taillen und nicht nur Professionelle; jeder Gymnasiast wollte sich etwas verdienen, und in den verdunkelten Bars sah man Staatssekretäre und hohe Finanzleute ohne Scham betrunkene Matrosen zärtlich hofieren. Selbst das Rom des Sueton hat keine solche Orgien gekannt wie die Berliner Transvestitenbälle, wo Hunderte von Männern in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung unter den wohlwollenden Blicken der Polizei tanzten. Eine Art Irrsinn ergriff im Sturz aller Werte gerade die bürgerlichen, in ihrer Ordnung bisher unerschütterlichen Kreise. Die jungen Mädchen rühmten sich stolz, pervers zu sein; mit sechzehn Jahren noch der Jungfräulichkeit verdächtig zu sein, hätte damals in jeder Berliner Schule als Schmach gegolten, jede wollte ihre Abenteuer berichten können und je exotischer, desto besser. Aber das Wichtigste an dieser pathetischen Erotik war ihre grauenhafte Unechtheit. Im Grunde war die deutsche Orgiastik, die mit der Inflation ausbrach, nur fiebriges Nachäffertum; man sah diesen jungen Mädchen aus den guten bürgerlichen Familien an, daß sie lieber einen einfachen Scheitel getragen hätten als den glattgestrichenen Männerkopf, lieber Apfelkuchen mit Schlagsahne gelöffelt, als die scharfen Schnäpse getrunken; überall war unverkennbar, daß dem ganzen Volke diese Überhitztheit unerträglich war, dieses tägliche nervenzerreißende Ausgerecktwerden auf dem Streckseile der Inflation, und daß die ganze kriegsmüde Nation sich eigentlich nur nach Ordnung, Ruhe, nach ein bißchen Sicherheit und Bürgerlichkeit sehnte. Und im geheimen haßte sie die Republik, nicht deshalb, weil sie diese wilde Freiheit etwa unterdrückt hätte, sondern im Gegenteil, weil sie die Zügel zu locker in Händen hielt.
Wer diese apokalyptischen Monate, diese Jahre miterlebt, selbst abgestoßen und erbittert, der fühlte: hier mußte ein Rückschlag kommen, eine grauenhafte Reaktion. Und lächelnd warteten im Hintergrund dieselben, die das deutsche Volk in dieses Chaos getrieben, mit der Uhr in der Hand: »Je schlimmer im Land, desto besser für uns.« Sie wußten, daß ihre Stunde kommen würde. Um Ludendorff mehr noch als um den damals noch machtlosen Hitler kristallisierte sich schon ganz offenkundig die Gegenrevolution; die Offiziere, denen man die Epauletten abgerissen, organisierten sich zu Geheimbünden, die Kleinbürger, die sich um ihre Ersparnisse betrogen sahen, rückten leise zusammen und stellten sich im voraus jeder Parole bereit, sofern sie nur Ordnung versprach. Nichts war so verhängnisvoll für die deutsche Republik wie ihr idealistischer Versuch, dem Volke und selbst ihren Feinden Freiheit zu lassen. Denn das deutsche Volk, ein Volk der Ordnung, wußte nichts mit seiner Freiheit anzufangen und blickte schon voll Ungeduld aus nach jenen, die sie ihm nehmen sollten.
Der Tag, da die deutsche Inflation beendet war (1923), hätte ein Wendepunkt in der Geschichte werden können. Als mit einem Glockenschlag je eine Billion emporgeschwindelter Mark gegen eine einzige neue Mark eingelöst wurde, war eine Norm gegeben. Tatsächlich flutete der trübe Gischt mit all seinem Schmutz und Schlamm bald zurück, die Bars, die Schnapsbuden verschwanden, die Verhältnisse normalisierten sich, jeder konnte jetzt klar rechnen, was er gewonnen, was er verloren. Die meisten, die riesige Masse hatte verloren. Aber verantwortlich gemacht wurden nicht die den Krieg verschuldet, sondern die opfermütig – wenn auch unbedankt – die Last der Neuordnung auf sich genommen. Nichts hat das deutsche Volk – dies muß immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so haßwütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation. Denn der Krieg, so mörderisch er gewesen, er hatte immerhin Stunden des Jubels geschenkt mit Glockenläuten und Siegesfanfaren. Und als unheilbar militärische Nation fühlte sich Deutschland durch die zeitweiligen Siege in seinem Stolze gesteigert, während es durch die Inflation sich einzig als beschmutzt, betrogen und erniedrigt empfand; eine ganze Generation hat der deutschen Republik diese Jahre nicht vergessen und nicht verziehen und lieber seine Schlächter zurückgerufen. Aber das lag alles noch im Fernen. Äußerlich schien 1924 die wüste Phantasmagorie vorüber wie ein Irrlichttanz. Es war wieder heller Tag, man sah, wo aus und wo ein. Und schon grüßten wir in dem Aufstieg der Ordnung den Anfang einer dauernden Beruhigung. Abermals, abermals meinten wir, der Krieg sei überwunden, Toren, unheilbare, wie wir es immer gewesen. Jedoch dieser trügerische Wahn, er hat uns immerhin ein Jahrzehnt der Arbeit, der Hoffnung und selbst der Sicherheit geschenkt.
Von heute aus gesehen, stellt das knappe Jahrzehnt zwischen 1924 und 1933, vom Ende der deutschen Inflation bis zur Machtergreifung Hitlers trotz allem und allem eine Pause dar in der Aufeinanderfolge von Katastrophen, deren Zeugen und Opfer unsere Generation seit 1914 gewesen ist. Nicht daß es innerhalb dieser Epoche an einzelnen Spannungen, Erregungen und Krisen gefehlt hätte – jene wirtschaftliche von 1929 vor allem –, aber innerhalb dieses Jahrzehnts schien in Europa der Friede gewährleistet, und schon dies bedeutete viel. Man hatte Deutschland in allen Ehren in den Völkerbund aufgenommen, mit Anleihen seinen wirtschaftlichen Aufbau – in Wirklichkeit seine heimliche Aufrüstung – gefördert, England hatte abgerüstet, in Italien Mussolini den Schutz Österreichs übernommen. Die Welt schien sich wieder aufbauen zu wollen. Paris, Wien, Berlin, New York, Rom, die Siegerstädte ebenso wie jene der Besiegten, wurden schöner als je, das Flugzeug beschwingte den Verkehr, die Paßvorschriften linderten sich. Die Schwankungen zwischen Währungen hatten aufgehört, man wußte, wieviel man einnahm, wieviel man ausgeben durfte, die Aufmerksamkeit war nicht mehr so fieberhaft auf diese äußerlichen Probleme gerichtet. Man konnte wieder arbeiten, sich innerlich sammeln, an geistige Dinge denken. Man konnte sogar wieder träumen und auf ein geeintes Europa hoffen. Einen Weltaugenblick – diese zehn Jahre – schien es, als sollte unserer geprüften Generation wieder ein normales Leben beschieden sein.
In meinem persönlichen Leben war das Bemerkenswerteste, daß in jenen Jahren ein Gast in mein Haus kam und sich dort wohlwollend niederließ, ein Gast, den ich nie erwartet hatte – der Erfolg. Es ist mir begreiflicherweise nicht sehr behaglich, des äußeren Erfolgs meiner Bücher Erwähnung zu tun, und in einer normalen Situation hätte ich auch den flüchtigsten Hinweis unterlassen, der als Selbstgefälligkeit oder Prahlerei gedeutet werden könnte. Aber ich habe ein besonderes Recht und bin sogar gezwungen, diese Tatsache in der Geschichte meines Lebens nicht zu verschweigen, denn dieser Erfolg ist seit sieben Jahren, seit Hitlers Ankunft ein historischer geworden. Von den Hunderttausenden und sogar Millionen meiner Bücher, die im Buchhandel und unzähligen Häusern ihre sichere Stätte hatten, ist heute in Deutschland kein einziges mehr erhältlich; wer noch ein Exemplar besitzt, hält es sorgfältig verborgen, und in den öffentlichen Bibliotheken bleiben sie im sogenannten »Giftschrank« versteckt für die wenigen, die sie mit besonderer Erlaubnis der Behörden – meistens zu Beschimpfungszwecken – ›wissenschaftlich‹ benützen wollen. Von den Lesern, von den Freunden, die mir schrieben, wagt längst keiner mehr meinen geächteten Namen auf einen Briefumschlag zu setzen. Und nicht genug an dem: auch in Frankreich, in Italien, in all den zur Zeit geknechteten Ländern, in denen meine Bücher in Übertragungen zu den gelesensten gehörten, ist heute gleichfalls auf Hitlers Befehl der Bann verhängt. Ich bin heute als Schriftsteller, wie unser Grillparzer sagte, einer, der ›lebend hinter seiner eigenen Leiche geht‹; alles oder fast alles, was ich in vierzig Jahren international aufbaute, hat diese eine Faust zertrümmert. So spreche ich, wenn ich meinen ›Erfolg‹ erwähne, nicht von etwas, das zu mir gehört, sondern das einstmals zu mir gehörte wie mein Haus, meine Heimat, meine Selbstsicherheit, meine Freiheit, meine Unbefangenheit; ich könnte also den Absturz, den ich – mit unzähligen andern und ebenso Schuldlosen – später erlitten, nicht in seiner ganzen Tiefe und Totalität anschaulich machen, wenn ich nicht zuvor die Höhe zeigte, von der er erfolgte, und nicht auch die Einmaligkeit und Konsequenz dieser Ausrottung unserer ganzen literarischen Generation, für die ich eigentlich in der Geschichte kein zweites Beispiel weiß.
Dieser Erfolg war mir nicht plötzlich ins Haus gestürmt; er kam langsam, behutsam, aber er blieb bis zur Stunde, da Hitler ihn mit der Peitsche seiner Dekrete von mir wegjagte, beharrlich und treu. Er steigerte seine Wirkung von Jahr zu Jahr. Gleich das erste Buch, das ich nach dem ›Jeremias‹ veröffentlichte, der erste Band meiner ›Baumeister der Welt‹, die Trilogie ›Drei Meister‹, brach mir Bahn; die Expressionisten, die Aktivisten, die Experimentisten hatten sich abgespielt, für die Geduldigen und Beharrlichen war der Weg zum Volke wieder frei. Meine Novellen ›Amok‹ und ›Brief einer Unbekannten‹ wurden populär wie sonst nur Romane, sie wurden dramatisiert, öffentlich rezitiert, verfilmt; ein kleines Büchlein ›Sternstunden der Menschheit‹ – in allen Schulen gelesen – brachte es in kurzer Zeit in der ›Insel-Bücherei‹ auf 250 000 Exemplare. In wenigen Jahren hatte ich mir geschaffen, was nach meinem Empfinden für einen Autor die wertvollste Art eines Erfolges darstellt: eine Gemeinde, eine verläßliche Gruppe von Menschen, die jedes neue Buch erwartete, jedes neue Buch kaufte, die einem vertraute, und deren Vertrauen man nicht enttäuschen durfte. Allmählich wurde sie groß und größer; von jedem Buch, das ich veröffentlichte, waren in Deutschland am ersten Tage zwanzigtausend Exemplare verkauft, noch ehe eine einzige Anzeige in den Zeitungen erschienen war. Manchmal versuchte ich bewußt dem Erfolg auszuweichen, aber er folgte mir in überraschend zäher Weise nach. So hatte ich zu meinem privaten Vergnügen ein Buch geschrieben, die Biographie Fouchés; als ich es dem Verleger sandte, schrieb er mir, er gebe zehntausend Exemplare sofort in Druck. Ich beschwor ihn umgehend, nicht soviel von diesem Buch zu drucken. Fouché sei eine unsympathische Figur, das Buch enthalte keine einzige Frauenepisode und könne unmöglich einen größeren Kreis von Lesern heranziehen; er solle lieber zunächst nur fünftausend drucken. Nach einem Jahr waren fünfzigtausend Exemplare in Deutschland verkauft, im selben Deutschland, das heute keine Zeile von mir lesen darf. Ähnlich ging es mir bei meinem fast pathologischen Selbstmißtrauen mit meiner Bearbeitung des ›Volpone‹. Ich hatte vor, eine Fassung in Versen zu machen und schrieb mir in neun Tagen leicht und locker in Prosa die Szenen hin. Da zufällig das Hoftheater in Dresden, dem ich durch die Erstaufführung meines Erstlings ›Thersites‹ mich moralisch verpflichtet fühlte, in diesen Tagen angefragt hatte nach neuen Plänen, sandte ich ihm die Prosafassung, mich entschuldigend: was ich vorlege, sei nur eine erste Skizze für die geplante Ausarbeitung in Versen. Aber das Theater telegraphierte sofort zurück, ich solle um Himmels willen nichts ändern; tatsächlich ist das Stück in dieser Form dann über alle Bühnen der Welt gegangen (in New York bei der Theatre Guild mit Alfred Lunt). Was immer ich in jenen Jahren unternahm, – der Erfolg und eine ständig wachsende deutsche Leserschaft blieb mir treu.
Da ich es immer als meine Pflicht empfand, bei fremden Werken oder Gestalten biographisch oder essayistisch den Ursachen ihrer Wirkung oder Unwirkung innerhalb ihrer Zeit nachzugehen, konnte ich in manchen nachdenklichen Stunden nicht umhin, mich zu fragen, in welcher besonderen Eigenschaft meiner Bücher ihr für mich so unvermuteter Erfolg eigentlich begründet war. Letzten Endes glaube ich, stammt er von einer persönlichen Untugend her, nämlich daß ich ein ungeduldiger und temperamentvoller Leser bin. Jede Weitschweifigkeit, alles Schwelgerische und Vage-Schwärmerische, alles Undeutliche und Unklare, alles Überflüssig-Retardierende in einem Roman, einer Biographie, einer geistigen Auseinandersetzung irritiert mich. Nur ein Buch, das ständig, Blatt für Blatt, die Höhe hält und bis zur letzten Seite in einem Zuge atemlos mitreißt, gibt mir einen vollkommenen Genuß. Neun Zehntel aller Bücher, die mir in die Hand geraten, finde ich mit überflüssigen Schilderungen, geschwätzigen Dialogen und unnötigen Nebenfiguren zu sehr ins Breite gedehnt und darum zu wenig spannend, zu wenig dynamisch. Selbst bei den berühmtesten klassischen Meisterwerken stören mich die vielen sandigen und schleppenden Stellen, und oft habe ich Verlegern den kühnen Plan entwickelt, einmal in einer übersichtlichen Serie die ganze Weltliteratur von Homer über Balzac und Dostojewskij bis zum ›Zauberberg‹ mit gründlicher Kürzung des individuell Überflüssigen herauszugeben, dann könnten alle diese Werke, die zweifellos überzeitlichen Gehalt haben, erneut lebendig in unserer Zeit wirken.
Diese Abneigung gegen alles Weitschweifige und Langwierige mußte sich notwendigerweise von der Lektüre fremder Werke auf das Schreiben der eigenen übertragen und mich zu einer besonderen Wachsamkeit erziehen. An und für sich produziere ich leicht und fließend, in der ersten Fassung eines Buches lasse ich die Feder locker laufen und fabuliere weg, was mir am Herzen liegt. Ebenso verwerte ich bei einem biographischen Werke zunächst alle nur denkbaren dokumentarischen Einzelheiten, die mir zu Gebote stehen; bei einer Biographie wie ›Marie Antoinette‹ habe ich tatsächlich jede einzelne Rechnung nachgeprüft, um ihren persönlichen Verbrauch festzustellen, alle zeitgenössischen Zeitungen und Pamphlete studiert, alle Prozeßakten bis auf die letzte Zeile durchgeackert. Aber im gedruckten Buch ist von all dem keine Zeile mehr zu finden, denn kaum daß die erste ungefähre Fassung eines Buches ins Reine geschrieben ist, beginnt für mich die eigentliche Arbeit, die des Kondensierens und Komponierens, eine Arbeit, an der ich mir von Version zu Version nicht genug tun kann. Es ist ein unablässiges Ballast-über-Bord-werfen, ein ständiges Verdichten und Klären der inneren Architektur; während die meisten andern sich nicht entschließen können, etwas zu verschweigen, was sie wissen, und mit einer gewissen Verliebtheit in jede gelungene Zeile sich weiter und tiefer zeigen wollen, als sie eigentlich sind, ist es mein Ehrgeiz, immer mehr zu wissen, als nach außen hin sichtbar wird.
Dieser Prozeß der Kondensierung und damit Dramatisierung wiederholt sich dann noch einmal, zweimal und dreimal bei den gedruckten Fahnen; es wird schließlich eine Art lustvoller Jagd, noch einen Satz oder auch nur ein Wort zu finden, dessen Fehlen die Präzision nicht vermindern und gleichzeitig das Tempo steigern könnte. Innerhalb meiner Arbeit ist mir die des Weglassens eigentlich die vergnüglichste. Und ich erinnere mich, daß einmal, als ich besonders zufrieden von meiner Arbeit aufstand und meine Frau mir sagte, mir scheine heute etwas Außergewöhnliches geglückt zu sein, ich ihr stolz antwortete: »Ja, es ist mir gelungen, noch einen ganzen Absatz wegzustreichen und dadurch einen rapideren Übergang zu finden.« Wenn also manchmal an meinen Büchern das mitreißende Tempo gerühmt wird, so entstammt diese Eigenschaft keineswegs einer natürlichen Hitze oder inneren Erregtheit, sondern einzig jener systematischen Methode der ständigen Ausschaltung aller überflüssigen Pausen und Nebengeräusche, und wenn ich mir irgendeiner Art der Kunst bewußt bin, so ist es die Kunst des Verzichtenkönnens, denn ich klage nicht, wenn von tausend geschriebenen Seiten achthundert in den Papierkorb wandern und nur zweihundert als die durchgesiebte Essenz zurückbleiben. Wenn irgend etwas, so hat mir die strenge Disziplin, mich lieber auf engere Formen, aber immer auf das unbedingt Wesentliche zu beschränken, einigermaßen die Wirkung meiner Bücher erklärt, und es wurde wahrhaft beglückend für mich, dessen Gedanken von Anbeginn einzig auf das Europäische, auf das Übernationale gerichtet gewesen, daß sich nun auch aus dem Ausland Verleger meldeten, französische, bulgarische, armenische, portugiesische, argentinische, norwegische, lettische, finnische, chinesische. Bald mußte ich einen mächtigen Wandschrank kaufen, um alle die verschiedenen Exemplare der Übertragungen zu verstauen, und eines Tages las ich in der Statistik der ›Coopération Intellectuelle‹ des Genfer Völkerbundes, daß ich zur Zeit der meistübersetzte Autor der Welt sei (ich hielt es abermals meinem Temperament gemäß für eine Falschmeldung). Eines anderen Tags wiederum kam ein Brief des russischen Verlages, er möchte eine Gesamtausgabe meiner Werke in russischer Sprache veranstalten und ob ich einverstanden sei, daß Maxim Gorkij die Vorrede dazu schreibe. Ob ich einverstanden sei? Ich hatte als Schuljunge die Novellen Gorkijs unter der Bank gelesen, ihn seit Jahren geliebt und bewundert. Aber nie hatte ich mir eingebildet, daß er je meinen Namen gehört habe, geschweige denn, daß er etwas von mir gelesen und schon gar nicht, daß es einem solchen Meister wichtig genug erscheinen konnte, zu meinem Werk eine Vorrede zu schreiben. Und wieder eines andern Tages erschien, mit einer Empfehlung versehen – als ob es einer solchen bedurft hätte – in meinem Hause in Salzburg ein amerikanischer Verleger mit dem Vorschlag, mein Werk im ganzen zu übernehmen und fortlaufend zu publizieren. Es war Benjamin Huebsch von der Viking Press, der mir seitdem der verläßlichste Freund und Berater geblieben und, da all dies andere von den Stulpenstiefeln Hitlers in Grund und Boden gestampft ist, mir eine letzte Heimat im Wort erhalten hat, da ich die alte, die eigentliche, die deutsche, die europäische verlor.
Ein solcher äußerer Erfolg war gefährlich angetan, jemanden zu verwirren, der vordem mehr an seine gute Absicht als an sein Können und an die Wirksamkeit seiner Arbeit geglaubt hatte. An sich bedeutet jede Form der Publizität eine Störung im natürlichen Gleichgewicht eines Menschen. Im normalen Zustande ist der Name, den ein Mensch trägt, nicht mehr als was das Deckblatt für die Zigarre: eine Erkennungsmarke, ein äußeres, fast belangloses Objekt, das mit dem wirklichen Subjekt, dem eigentlichen Ich, nur lose verbunden ist. Im Falle eines Erfolges schwillt nun dieser Name gleichsam an. Er löst sich los von dem Menschen, der ihn trägt und wird selbst eine Macht, eine Kraft, ein Ding an sich, ein Handelsartikel, ein Kapital, und innerlich wiederum im heftigen Rückstoß eine Kraft, die den Menschen, der ihn trägt, zu beeinflussen, zu dominieren, zu verwandeln beginnt. Glückliche, selbstbewußte Naturen pflegen sich nun unbewußt mit der Wirkung, die sie ausüben, zu identifizieren. Ein Titel, eine Stellung, ein Orden und wie gar erst Publizität ihres Namens vermögen in ihnen eine höhere Sicherheit, ein gesteigertes Selbstgefühl zu erzeugen und sie zu dem Bewußtsein zu verleiten, ihnen käme besondere Wichtigkeit in der Gesellschaft, im Staate und in der Zeit zu, und sie blähen sich unwillkürlich auf, um mit ihrer Person das Volumen ihrer äußeren Wirkung zu erreichen. Aber wer von Natur aus mißtrauisch gegen sich selbst eingestellt ist, empfindet jede Art des äußeren Erfolges als Verpflichtung, sich gerade in diesem schwierigen Zustand möglichst unverändert zu erhalten.
Damit will ich nicht sagen, daß ich mich meines Erfolges nicht freute. Im Gegenteil, er beglückte mich sehr, aber nur insoweit er sich auf das von mir abgelöste Produkt, meine Bücher und den damit verbundenen Schemen meines Namens beschränkte. Es war rührend, wenn man in Deutschland zufällig in einer Buchhandlung stand, zu sehen, wie ohne einen zu erkennen ein kleiner Gymnasiast eintrat, die ›Sternstunden‹ verlangte und von seinem mageren Taschengeld bezahlte. Es konnte die Eitelkeit angenehm reizen, wenn im Schlafwagen der Kondukteur den Paß nach Einsicht des Namens respektvoller entgegennahm oder ein italienischer Zollbeamter, erkenntlich für irgendein Buch, das er gelesen, auf die Durchwühlung des Gepäcks großmütig verzichtete. Auch das rein Quantitative der persönlichen Auswirkung hat für einen Autor etwas Verführerisches. Durch Zufall kam ich eines Tages nach Leipzig gerade an dem Tage, da die Auslieferung eines neuen Buches von mir begann. Es erregte mich merkwürdig, zu sehen, wieviel menschliche Arbeit man unbewußt in Schwung brachte mit dem, was man in drei oder vier Monaten auf dreihundert Seiten Papier geschrieben. Arbeiter verpackten Bücher in mächtige Kisten, andere schleppten sie stöhnend hinunter zu den Lastautos, die sie zu den Waggons nach allen Richtungen der Welt brachten. Dutzende Mädchen schichteten in der Druckerei die Bogen, die Setzer, Binder, Verfrachter, Kommissionäre werkten von früh bis nachts, und man konnte sich ausrechnen, daß diese Bücher, zu Ziegeln gereiht, schon eine stattliche Straße aufbauen könnten. Auch das Materielle habe ich nie hochmütig verachtet. Ich hatte in den Jahren des Anfangs nie zu denken gewagt, je mit meinen Büchern Geld verdienen oder gar auf ihren Ertrag eine Existenz aufbauen zu können. Nun brachten sie plötzlich stattliche und immer steigende Summen, die mich für immer – wer konnte an unsere Zeiten denken? jeder Sorge zu entheben schienen. Ich konnte großzügig der alten Leidenschaft meiner Jugend frönen, Autographen zu sammeln, und manche der schönsten, der kostbarsten dieser wunderbaren Reliquien fanden bei mir zärtlich behütete Unterkunft. Für die im höheren Sinne doch ziemlich ephemeren Werke, die ich geschrieben, konnte ich Handschriften unvergänglicher Werke erwerben, Handschriften von Mozart und Bach und Beethoven, Goethe und Balzac. So wäre es eine lächerliche Pose, wollte ich behaupten, daß der unerwartete äußere Erfolg mich gleichgültig oder gar innerlich ablehnend gefunden hätte.
Aber ich bin ehrlich, wenn ich sage, daß ich mich des Erfolges nur freute, solange er sich auf meine Bücher und meinen literarischen Namen bezog, daß er mir aber eher lästig wurde, wenn sich Neugier auf meine physische Person übertrug. Von frühester Jugend an war nichts in mir stärker gewesen als der instinktive Wunsch, frei und unabhängig zu bleiben. Und ich spürte, daß bei jedem Menschen von seiner persönlichen Freiheit viel des Besten durch photographische Publizität gehemmt und verunstaltet wird. Außerdem drohte, was ich aus Neigung begonnen, die Form eines Berufs und sogar eines Betriebs anzunehmen. Jede Post brachte Stöße von Briefen, Einladungen, Aufforderungen, Anfragen, die beantwortet werden wollten, und wenn ich einmal einen Monat wegreiste, dann gingen nachher immer zwei oder drei Tage verloren, um die aufgehäufte Masse wegzuschaufeln und den ›Betrieb‹ wieder in Ordnung zu bringen. Ohne es zu wollen, war ich durch die Marktgängigkeit meiner Bücher in eine Art Geschäft geraten, das Ordnung, Übersicht, Pünktlichkeit und Geschicklichkeit erforderte, um richtig erledigt zu werden – all dies sehr respektable Tugenden, die leider meiner Natur keineswegs entsprechen und das reine, unbefangene Sinnen und Träumen auf das gefährlichste zu stören drohten. Je mehr man darum von mir Teilnahme wollte, Vorlesungen, Erscheinen bei repräsentativen Anlässen, desto mehr zog ich mich zurück, und diese fast pathologische Scheu, mit meiner Person für meinen Namen einstehen zu sollen, habe ich nie überwinden können. Mich treibt es noch heute vollkommen instinktiv, in einem Saale, einem Konzert, einer Theateraufführung mich in die letzte, unauffälligste Reihe zu setzen, und nichts ist mir unerträglicher, als auf einem Podium oder sonst exponierten Platz mein Gesicht zur Schau zu stellen; Anonymität der Existenz in jeder Form ist mir Bedürfnis. Schon als Knabe waren mir jene Schriftsteller und Künstler der früheren Generation immer unverständlich, die durch Samtjacken und wallendes Haar, durch niederhängende Stirnlocken wie etwa meine verehrten Freunde Arthur Schnitzler und Hermann Bahr, oder durch auffallende Barttracht und extravagante Kleidung sich schon auf der Straße erkenntlich machen wollten. Ich bin überzeugt, daß jedes Bekanntwerden der physischen Erscheinung einen Menschen unbewußt verleitet, nach Werfels Wort als ›Spiegelmensch‹ seines eigenen Ich zu leben, in jeder Geste einen gewissen Stil anzunehmen, und mit dieser Veränderung der äußeren Haltung geht gewöhnlich Herzlichkeit, Freiheit und Unbekümmertheit der inneren Natur verloren. Wenn ich heute noch einmal anfangen könnte, würde ich darum trachten, diese beiden Glückszustände, den des literarischen Erfolgs und den der persönlichen Anonymität gleichsam verdoppelt zu genießen, indem ich meine Werke unter einem anderen, einem erfundenen Namen, unter einem Pseudonym veröffentlichte; denn ist schon das Leben an sich reizvoll und voll von Überraschungen, wie erst das Doppelleben!