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Endlich war der lang ersehnte Augenblick gekommen, da wir mit dem letzten Jahr des alten Jahrhunderts auch die Tür des verhaßten Gymnasiums hinter uns zuschlagen konnten. Nach mühsam bestandener Schlußprüfung – denn was wußten wir von Mathematik, Physik und den scholastischen Materien? – beehrte uns, die wir zu diesem Anlaß schwarze feierliche Bratenröcke anziehen mußten, der Schuldirektor mit einer schwungvollen Rede. Wir seien nun erwachsen und sollten durch Fleiß und Tüchtigkeit unserem Vaterlande Ehre machen. Damit war eine achtjährige Kameradschaft zersprengt, wenige meiner Gefährten auf der Galeere habe ich seitdem wiedergesehen. Die meisten von uns inskribierten sich an der Universität, und neidvoll blickten uns diejenigen nach, die sich mit anderen Berufen und Beschäftigungen abfinden mußten.
Denn die Universität hatte in jenen verschollenen Zeiten in Österreich noch einen besonderen, romantischen Nimbus; Student zu sein, gewährte gewisse Vorrechte, die den jungen Akademiker weit über alle Altersgenossen privilegierten; diese antiquarische Sonderbarkeit dürfte in außerdeutschen Ländern wenig bekannt und darum in ihrer Absurdität und Unzeitgemäßheit einer Erklärung bedürftig sein. Unsere Universitäten waren meist noch im Mittelalter gegründet worden, zu einer Zeit also, da Beschäftigung mit den gelehrten Wissenschaften als etwas Außerordentliches galt, und um junge Menschen zum Studium heranzulocken, verlieh man ihnen gewisse Standesvorrechte. Die mittelalterlichen Scholaren unterstanden nicht dem gewöhnlichen Gericht, durften in ihren Collegien nicht von den Bütteln gesucht oder belästigt werden, sie trugen besondere Tracht, hatten das Recht, sich ungestraft zu duellieren und waren als eine geschlossene Gilde mit eigenen Sitten oder Unsitten anerkannt. Im Lauf der Zeit und mit der zunehmenden Demokratisierung des öffentlichen Lebens, als alle andern mittelalterlichen Gilden und Zünfte sich auflösten, verlor sich in ganz Europa diese Vorrechtsstellung der Akademiker; nur in Deutschland und in dem deutschen Österreich, wo das Klassenbewußtsein immer über das demokratische die Oberhand behielt, hingen die Studenten zäh an diesen längst sinnlos gewordenen Vorrechten und bauten sie sogar zu einem eigenen studentischen Kodex aus. Der deutsche Student legte sich vor allem eine besondere Art studentischer ›Ehre‹ neben der bürgerlichen und allgemeinen zu. Wer ihn beleidigte, mußte ihm ›Satisfaktion‹ geben, das heißt, mit der Waffe im Duell entgegentreten, sofern er sich als ›satisfaktionsfähig‹ erwies. ›Satisfaktionsfähig‹ wiederum war nun nach dieser selbstgefälligen Bewertung nicht etwa ein Kaufmann oder ein Bankier, sondern nur ein akademisch Gebildeter und Graduierter oder ein Offizier – kein anderer unter den Millionen konnte der besonderen Art ›Ehre‹ teilhaftig werden, mit einem solchen bartlosen dummen Jungen die Klinge zu kreuzen. Anderseits mußte man, um als ›richtiger‹ Student zu gelten, seine Mannhaftigkeit ›bewiesen‹ haben, das heißt, möglichst viele Duelle bestanden haben und sogar die Wahrzeichen dieser Heldentaten als ›Schmisse‹ im Gesicht tragen; blanke Wangen und eine nicht eingehackte Nase waren eines echt germanischen Akademikers unwürdig. So sahen sich die Couleurstudenten, das heißt solche, die einer farbentragenden Verbindung angehörten, genötigt, um immer neue ›Partien schlagen‹ zu können, sich gegenseitig und andere völlig friedfertige Studenten und Offiziere unablässig zu provozieren. In den ›Verbindungen‹ wurde auf dem Fechtboden jeder neue Student für diese würdige Haupttätigkeit ›eingepaukt‹ und auch sonst in die Gebräuche des Burschenschaftswesens eingeweiht. Jeder ›Fuchs‹, das heißt jeder Neuling, wurde einem Corpsbruder zugeteilt, dem er sklavischen Gehorsam zu leisten hatte und der ihn dafür in den edlen Künsten des ›Komments‹ unterwies, die da waren: bis zum Erbrechen zu saufen, einen schweren Humpen Bier in einem Satz bis zur Nagelprobe (bis zum letzten Tropfen) zu leeren, um so glorreich zu erhärten, daß er kein ›schlapper Bursche‹ sei, oder Studentenlieder im Chor zu brüllen und im Gänsemarsch nachts durch die Straßen randalierend die Polizei zu verhöhnen. All das galt als ›männlich‹, als ›studentisch‹, als ›deutsch‹, und wenn die Burschenschaften mit ihren wehenden Fahnen, bunten Kappen und Bändern samstags zum ›Bummel‹ aufzogen, fühlten sich diese einfältigen, durch ihr eigenes Treiben in einen sinnlosen Hochmut getriebenen Jungen als die wahren Vertreter der geistigen Jugend. Mit Verachtung sahen sie auf den ›Pöbel‹ herab, der diese akademische Kultur und deutsche Männlichkeit nicht gebührend zu würdigen verstand.
Für einen kleinen Provinzgymnasiasten, der als grüner Junge nach Wien kam, mochte wohl diese Art forscher und ›fröhlicher Studentenzeit‹ als Inbegriff aller Romantik gelten. Noch jahrzehntelang sahen in der Tat die bejahrten Notare und Ärzte in ihren Dörfern weinselig gerührt empor zu den in ihrem Zimmer gekreuzt aufgehängten Schlägern und bunten Attrappen, stolz trugen sie ihre Schmisse als Kennzeichen ihres ›akademischen‹ Standes. Auf uns dagegen wirkte dieses einfältige und brutale Treiben einzig abstoßend, und wenn wir einer dieser bebänderten Horden begegneten, wichen wir weise um die Ecke; denn uns, denen individuelle Freiheit das Höchste bedeutete, zeigte diese Lust an der Aggressivität und gleichzeitige Lust an der Hordenservilität zu offenbar das Schlimmste und Gefährlichste des deutschen Geistes. Überdies wußten wir, daß hinter dieser künstlich mumifizierten Romantik sich sehr schlau berechnete, praktische Ziele versteckten, denn die Zugehörigkeit zu einer ›schlagenden‹ Burschenschaft sicherte jedem Mitglied die Protektion der ›alten Herren‹ dieser Verbindung in den hohen Ämtern und erleichterte die spätere Karriere. Von den Bonner ›Borussen‹ führte der einzig sichere Weg in die deutsche Diplomatie, von den katholischen Verbindungen in Österreich zu den guten Pfründen der herrschenden christlich-sozialen Partei, und die meisten dieser ›Helden‹ wußten genau, daß ihre farbigen Bänder ihnen in Hinkunft ersetzten mußten, was sie an eindringlichen Studien versäumt, und daß ein paar Schmisse auf der Stirne ihnen bei einer Anstellung einmal förderlicher sein konnten, als was hinter dieser Stirne war. Schon der bloße Anblick dieser rüden, militarisierten Rotten, dieser zerhackten und frech provozierenden Gesichter hat mir den Besuch der Universitätsräume verleidet; auch die anderen, wirklich lernbegierigen Studenten vermieden, wenn sie in die Universitätsbibliothek gingen, die Aula und wählten lieber die unscheinbare Hintertür, um jeder Begegnung mit diesen tristen Helden zu entgehen.
Daß ich an der Universität studieren sollte, war im Rate der Familie von je beschlossen gewesen. Aber für welche Fakultät mich entscheiden? Meine Eltern ließen mir die Wahl vollkommen frei. Mein älterer Bruder war bereits in das väterliche Industrieunternehmen eingetreten, demgemäß lag für den zweiten Sohn keinerlei Eile vor. Es handelte sich schließlich doch nur darum, der Familienehre einen Doktortitel zu sichern, gleichgültig welchen. Und sonderbarerweise war die Wahl mir ebenso gleichgültig. An sich interessierte mich, der ich meine Seele längst der Literatur verschrieben, keine einzige der fachmäßig dozierten Wissenschaften, ich hatte sogar ein geheimes, noch heute nicht verschwundenes Mißtrauen gegen jeden akademischen Betrieb. Für mich ist Emersons Axiom, daß gute Bücher die beste Universität ersetzen, unentwegt gültig geblieben, und ich bin noch heute überzeugt, daß man ein ausgezeichneter Philosoph, Historiker, Philologe, Jurist und was immer werden kann, ohne je eine Universität oder sogar ein Gymnasium besucht zu haben. Zahllose Male habe ich im praktischen Leben bestätigt gefunden, daß Antiquare oft besser Bescheid wissen über Bücher als die zuständigen Professoren, Kunsthändler mehr verstehen als die Kunstgelehrten, daß ein Großteil der wesentlichen Anregungen und Entdeckungen auf allen Gebieten von Außenseitern stammt. So praktisch, handlich und heilsam der akademische Betrieb für die Durchschnittsbegabung sein mag, so entbehrlich scheint er mir für individuell produktive Naturen, bei denen er sich sogar im Sinn einer Hemmung auszuwirken vermag. Insbesondere an einer Universität wie der unsern in Wien mit ihren sechs- oder siebentausend Studenten, die durch Überfüllung den so fruchtbaren persönlichen Kontakt zwischen Lehrern und Schülern von vornherein hemmte und überdies durch allzu große Treue zu ihrer Tradition gegen die Zeit zurückgeblieben war, sah ich nicht einen einzigen Mann, der mich für seine Wissenschaft hätte faszinieren können. So wurde das eigentliche Kriterium meiner Wahl nicht, welches Fach mich am meisten innerlich beschäftigen würde, sondern im Gegenteil, welches mich am wenigsten beschweren und mir das Maximum an Zeit und Freiheit für meine eigentliche Leidenschaft verstatten könnte. Ich entschloß mich schließlich für Philosophie – oder vielmehr ›exakte‹ Philosophie, wie es bei uns nach dem alten Schema hieß –, aber wahrhaftig nicht aus einem Gefühl innerer Berufung, denn meine Fähigkeiten zu rein abstraktem Denken sind gering. Gedanken entwickeln sich bei mir ausnahmslos an Gegenständen, Geschehnissen und Gestalten, alles rein Theoretische und Metaphysische bleibt mir unerlernbar. Immerhin war hier das rein stoffliche Gebiet am eingeschränktesten, der Besuch von Vorlesungen oder Seminaren in der ›exakten‹ Philosophie am leichtesten zu umgehen. Alles, was not tat, war, am Ende des achten Semesters eine Dissertation einzureichen und einige Prüfungen zu machen. So legte ich mir von vornherein eine Zeiteinteilung zurecht: drei Jahre um das Universitätsstudium mich überhaupt nicht bekümmern! Dann in dem einen letzten Jahr in scharfer Anstrengung den scholastischen Stoff bewältigen und irgendeine Dissertation rasch fertigmachen! Dann hatte die Universität mir gegeben, was einzig ich von ihr wollte: ein paar Jahre voller Freiheit für mein Leben und für die Bemühung in der Kunst: universitas vitae.
Überblicke ich mein Leben, so kann ich mich an wenige so glückliche Augenblicke erinnern wie jene ersten dieser Universitätszeit ohne Universität. Ich war jung und hatte darum noch nicht das Gefühl der Verantwortung, Vollendetes leisten zu müssen. Ich war leidlich unabhängig, der Tag hatte vierundzwanzig Stunden, und alle gehörten mir. Ich konnte lesen und arbeiten, was ich wollte, ohne irgend jemandem Rechenschaft schuldig zu sein, die Wolke der akademischen Prüfung rührte noch nicht an den hellen Horizont, denn wie lang sind drei Jahre, gemessen am neunzehnten Lebensjahr, wie reich, wie füllig und wie voll von Überraschungen und Geschenken kann man sie gestalten!
Das erste, was ich begann, war, meine Gedichte in einer – wie ich meinte: unerbittlichen – Auslese zu sammeln. Ich schäme mich nicht, zu bekennen, daß mir eben absolvierten neunzehnjährigen Gymnasiasten als der süßeste Geruch auf Erden, süßer als das Öl der Rosen von Schiras, damals jener der Druckerschwärze erschien; jede Annahme eines Gedichts in irgendeiner Zeitung hatte meinem von Natur aus sehr schwachbeinigen Selbstbewußtsein einen neuen Anschwung gegeben. Sollte ich nicht jetzt schon ansetzen zu dem entscheidenden Sprunge und die Veröffentlichung eines ganzen Bandes versuchen? Der Zuspruch meiner Kameraden, die mehr an mich glaubten als ich selbst, entschied. Ich sandte das Manuskript verwegen genug gerade an jenen Verlag, der damals der repräsentative für deutsche Lyrik war, Schuster & Löffler, die Verleger Liliencrons, Dehmels, Bierbaums, Momberts, jener ganzen Generation, die zugleich mit Rilke und Hofmannsthal die neue deutsche Lyrik geschaffen. Und – Wunder und Zeichen! – es kamen einer nach dem andern jene unvergeßlichen Glücksaugenblicke, wie sie sich im Leben eines Schriftstellers auch nach den größten Erfolgen nicht mehr wiederholen: es kam ein Brief mit dem Signet des Verlags, den man unruhig in Händen hielt, ohne den Mut, ihn zu öffnen. Es kam die Sekunde, wo man angehaltenen Atems las, daß der Verlag sich entschlossen habe, das Buch zu veröffentlichen und sich sogar das Vorrecht für die folgenden ausbedinge. Es kam das Paket mit den ersten Korrekturen, das man mit maßloser Erregung aufschnürte, um die Type zu sehen, den Satzspiegel, die embryonale Gestalt des Buchs, und dann nach wenigen Wochen das Buch selbst, die ersten Exemplare, die man nicht müde wurde zu beschauen, zu betasten, zu vergleichen, einmal und noch einmal und noch einmal. Und dann die kindische Wanderung zu den Buchläden, ob sie schon Exemplare in der Auslage hätten und ob sie in der Mitte des Ladens prangten oder bescheiden am Rande sich versteckten. Und dann das Warten auf die Briefe, auf die ersten Kritiken, auf die erste Antwort aus dem Unbekannten, dem Unberechenbaren – alle diese Spannungen, Erregungen, Begeisterungen, um die ich jeden jungen Menschen heimlich beneide, der sein erstes Buch in die Welt wirft. Aber dies mein Entzücken war nur eine Verliebtheit in den ersten Augenblick und keineswegs Selbstgefälligkeit. Wie ich bald selbst über diese frühen Verse dachte, ist durch die einfache Tatsache bezeugt, daß ich nicht nur diese ›Silbernen Saiten‹ (dies der Titel jenes verschollenen Erstlings) nie mehr neu drucken, sondern kein einziges Gedicht daraus in meine ›Gesammelten Gedichte‹ aufnehmen ließ. Es waren Verse unbestimmter Vorahnung und unbewußten Nachfühlens, nicht aus eigenem Erlebnis entstanden, sondern aus sprachlicher Leidenschaft. Immerhin zeigten sie eine gewisse Musikalität und genug Formgefühl, um sie interessierten Kreisen bemerkbar zu machen, und ich konnte mich über mangelnde Aufmunterung nicht beklagen. Liliencron und Dehmel, die damals führenden lyrischen Dichter, gaben dem Neunzehnjährigen herzliche und schon kameradschaftliche Anerkennung, Rilke, der so sehr von mir Vergötterte, sandte mir als Gegengabe für das ›so schön gegebene Buch‹ einen ›dankbar‹ gewidmeten Sonderdruck seiner jüngsten Gedichte, den ich als eine der kostbarsten Erinnerungen meiner Jugend aus den Trümmern Österreichs noch nach England herübergerettet habe (wo mag er heute sein?). Gespenstisch freilich mutete es mich zuletzt an, daß diese erste freundschaftliche Gabe Rilkes an mich – die erste von vielen – vierzig Jahre alt war und die vertraute Schrift mich aus dem Totenreiche grüßte. Die unvermutetste Überraschung von allen jedoch war, daß Max Reger, neben Richard Strauss der größte damals lebende Komponist, sich an mich um die Erlaubnis wandte, sechs Gedichte aus diesem Bande vertonen zu dürfen; wie oft habe ich seitdem davon eines oder das andere in Konzerten gehört – meine eigenen, von mir selbst längst vergessenen und verworfenen Verse durch die brüderliche Kunst eines Meisters hinübergetragen über die Zeit.
Diese unverhofften Zustimmungen, die auch von freundlichen öffentlichen Kritiken begleitet waren, zeitigten immerhin die Wirkung, mich zu einem Schritt zu ermutigen, den ich bei meinem unheilbaren Mißtrauen gegen mich selbst nie oder zumindest nicht so frühzeitig unternommen hätte. Schon in der Gymnasialzeit hatte ich außer Gedichten kleinere Novellen und Essays in den literarischen Zeitschriften der ›Moderne‹ veröffentlicht, nie aber mich unterfangen, einen jener Versuche einer mächtigen und weitverbreiteten Zeitung anzubieten. In Wien gab es eigentlich nur ein einziges publizistisches Organ hohen Ranges, die ›Neue Freie Presse‹, die durch ihre vornehme Haltung, ihre kulturelle Bemühtheit und ihr politisches Prestige für die ganze österreichisch-ungarische Monarchie etwa das gleiche bedeutete wie die ›Times‹ für die englische Welt und der ›Temps‹ für die französische; selbst keine der reichsdeutschen Zeitungen war so sehr um ein repräsentatives kulturelles Niveau bemüht. Ihr Herausgeber, Moritz Benedikt, ein Mann von phänomenaler Organisationsgabe und unermüdlichem Fleiß, setzte seine ganze, geradezu dämonische Energie daran, auf dem Gebiete der Literatur und Kultur alle deutschen Zeitungen zu übertreffen. Wenn er von einem namhaften Autor etwas begehrte, wurden keine Kosten gescheut, zehn und zwanzig Telegramme hintereinander an ihn gesandt, jedes Honorar im voraus bewilligt; die Feiertagsnummern zu Weihnachten und Neujahr stellten mit ihren literarischen Beilagen ganze Bände mit den größten Namen der Zeit dar: Anatole France, Gerhart Hauptmann, Ibsen, Zola, Strindberg und Shaw fanden sich bei dieser Gelegenheit zusammen in diesem Blatte, das für die literarische Orientierung der ganzen Stadt, des ganzen Landes unermeßlich viel getan hat. Selbstverständlich ›fortschrittlich‹ und liberal in seiner Weltanschauung, solid und vorsichtig in seiner Haltung, repräsentierte dieses Blatt in vorbildlicher Art den hohen kulturellen Standard des alten Österreich.
Dieser Tempel des ›Fortschritts‹ barg nun noch ein besonderes Heiligtum, das sogenannte ›Feuilleton‹, das wie die großen Pariser Tageszeitungen, der ›Temps‹ und das ›Journal des Débats‹, die gediegensten und vollendetsten Aufsätze über Dichtung, Theater, Musik und Kunst ›unter dem Strich‹ in deutlicher Sonderung von dem Ephemeren der Politik und des Tages publizierte. Hier durften nur die Autoritäten, die schon lange Bewährten zu Wort kommen. Einzig die Gediegenheit des Urteils, vergleichende Erfahrung vieler Jahre und vollendete Kunstform konnten einen Autor nach Jahren der Erprobtheit an diese heilige Stelle berufen. Ludwig Speidel, ein Meister der Kleinkunst, Eduard Hanslick hatten für Theater und Musik dort die gleiche päpstliche Autorität wie Sainte-Beuve in Paris in seinen ›Lundis‹; ihr Ja oder Nein entschied für Wien den Erfolg eines Werks, eines Theaterstücks, eines Buches und damit oft eines Menschen. Jeder dieser Aufsätze war das jeweilige Tagesgespräch der gebildeten Kreise, sie wurden diskutiert, kritisiert, bewundert oder befeindet, und wenn einmal ein neuer Name inmitten der längst respektvoll anerkannten ›Feuilletonisten‹ auftauchte, bedeutete dies ein Ereignis. Von der jüngeren Generation hatte einzig Hofmannsthal mit einigen seiner herrlichen Aufsätze dort gelegentlich Eingang gefunden; sonst mußten jüngere Autoren sich beschränken, rückwärts im Literaturblatt versteckt, sich einzuschmuggeln. Wer auf der ersten Seite schrieb, hatte seinen Namen für Wien in Marmor gegraben.
Wie ich die Courage fand, eine kleine dichterische Arbeit der ›Neuen Freien Presse‹, dem Orakel meiner Väter und der Heimstatt der siebenfach Gesalbten, anzubieten, ist mir heute nicht mehr faßbar. Aber schließlich, mehr als eine Zurückweisung konnte mir nicht widerfahren. Der Redakteur des Feuilletons empfing dort bloß an einem Tage der Woche zwischen zwei und drei Uhr, da durch den regelmäßigen Turnus der berühmten, festangestellten Mitarbeiter nur ganz selten Raum für die Arbeit eines Außenseiters war. Nicht ohne Herzklopfen stieg ich die kleine Wendeltreppe zu dem Büro empor und ließ mich anmelden. Nach einigen Minuten kam der Diener zurück, der Herr Feuilletonredakteur lasse bitten, und ich trat in das enge, schmale Zimmer.
Der Feuilletonredakteur der ›Neuen Freien Presse‹ hieß Theodor Herzl, und es war der erste Mann welthistorischen Formats, dem ich in meinem Leben gegenüberstand – freilich ohne selbst zu wissen, welch ungeheure Wendung seine Person im Schicksal des jüdischen Volkes und in der Geschichte unserer Zeit zu erschaffen berufen war. Seine Stellung war damals noch zwiespältig und unübersehbar. Er hatte mit dichterischen Versuchen begonnen, früh eine blendende journalistische Begabung gezeigt und war zuerst als Pariser Korrespondent, dann als Feuilletonist der ›Neuen Freien Presse‹ der Liebling des Wiener Publikums geworden. Seine Aufsätze, heute noch bezaubernd durch ihren Reichtum an scharfen und oft weisen Beobachtungen, ihre stilistische Anmut, ihren edlen Charme, der selbst im Heiteren wie Kritischen nie die eingeborene Noblesse verlor, waren das Kultivierteste, was man sich im Journalistischen erdenken konnte, und das Entzücken einer Stadt, die für Subtiles den Sinn sich geschult hatte. Auch im Burgtheater hatte er mit einem Stück Erfolg gehabt, und nun war er ein angesehener Mann, vergöttert von der Jugend, geachtet von unseren Vätern, bis eines Tages das Unerwartete geschah. Das Schicksal weiß immer sich einen Weg zu finden, um den Menschen, den es braucht für seine geheimen Zwecke, heranzuholen, auch wenn er sich verbergen will.
Theodor Herzl hatte in Paris ein Erlebnis gehabt, das ihm die Seele erschütterte, eine jener Stunden, die eine ganze Existenz verändern: er hatte als Korrespondent der öffentlichen Degradierung Alfred Dreyfus' beigewohnt, hatte gesehen, wie man dem bleichen Mann die Epauletten abriß, während er laut ausrief: »Ich bin unschuldig.« Und er hatte bis ins innerste Herz gewußt in dieser Sekunde, daß Dreyfus unschuldig war und daß er diesen grauenhaften Verdacht des Verrats einzig auf sich geladen dadurch, daß er Jude war. Nun hatte Theodor Herzl in seinem aufrechten männlichen Stolz schon als Student unter dem jüdischen Schicksal gelitten – vielmehr, er hatte es in seiner ganzen Tragik schon vorausgelitten zu einer Zeit, da es kaum ein ernstliches Schicksal zu sein schien, dank seines prophetischen Instinkts der Ahnung. Mit dem Gefühl, zum Führer geboren zu sein, wozu ihn seine prachtvoll imposante äußere Erscheinung nicht minder als die Großzügigkeit seines Denkens und seine Weltkenntnis berechtigte, hatte er damals den phantastischen Plan gefaßt, dem jüdischen Problem ein für allemal ein Ende zu bereiten, und zwar durch Vereinigung des Judentums mit dem Christentum auf dem Wege freiwilliger Massentaufe. Immer dramatisch denkend, hatte er sich ausgemalt, wie er in langem Zuge die Tausende und Abertausende der Juden Österreichs zur Stefanskirche führen würde, um dort in einem vorbildlich symbolischen Akt das gejagte, heimatlose Volk für immer vom Fluch der Absonderung und des Hasses zu erlösen. Bald hatte er das Unausführbare dieses Plans erkannt, Jahre eigener Arbeit hatten ihn vom Urproblem seines Lebens, das zu ›lösen‹ er als seine wahre Aufgabe erkannte, abgelenkt; jetzt aber, in dieser Sekunde der Degradierung Dreyfus', fuhr der Gedanke der ewigen Ächtung seines Volkes wie ein Dolch ihm in die Brust. Wenn Absonderung unvermeidlich ist, sagte er sich, dann eine vollkommene! Wenn Erniedrigung unser Schicksal immer wieder wird, dann ihm begegnen durch Stolz. Wenn wir leiden an unserer Heimatlosigkeit, dann eine Heimat uns selbst aufbauen! So veröffentlichte er seine Broschüre ›Der Judenstaat‹, in der er proklamierte, alle assimilatorische Angleichung, alle Hoffnung auf totale Toleranz sei für das jüdische Volk unmöglich. Es müsse eine neue, eine eigene Heimat gründen in seiner alten Heimat Palästina.
Ich saß, als diese knappe, aber mit der Durchschlagskraft eines stählernen Bolzens versehene Broschüre erschien, noch im Gymnasium, kann mich aber der allgemeinen Verblüffung und Verärgerung der Wiener bürgerlich-jüdischen Kreise wohl erinnern. Was ist, sagten sie unwirsch, in diesen sonst so gescheiten, witzigen und kultivierten Schriftsteller gefahren? Was treibt und schreibt er für Narrheiten? Warum sollen wir nach Palästina? Unsere Sprache ist deutsch und nicht hebräisch, unsere Heimat das schöne Österreich. Geht es uns nicht vortrefflich unter dem guten Kaiser Franz Joseph? Haben wir nicht unser anständiges Fortkommen, unsere gesicherte Stellung? Sind wir nicht gleichberechtigte Staatsangehörige, nicht eingesessene und treue Bürger dieses geliebten Wien? Und leben wir nicht in einer fortschrittlichen Zeit, welche alle konfessionellen Vorurteile in ein paar Jahrzehnten beseitigen wird? Warum gibt er, der doch als Jude spricht und dem Judentum helfen will, unseren bösesten Feinden Argumente in die Hand und versucht uns zu sondern, da doch jeder Tag uns näher und inniger der deutschen Welt verbindet? Die Rabbiner ereiferten sich von den Kanzeln, der Leiter der ›Neuen Freien Presse‹ verbot, das Wort Zionismus in seiner ›fortschrittlichen‹ Zeitung auch nur zu erwähnen. Der Thersites der Wiener Literatur, der Meister des giftigen Spotts, Karl Kraus, schrieb eine Broschüre ›Eine Krone für Zion‹, und wenn Theodor Herzl das Theater betrat, murmelte man spöttelnd durch alle Reihen: »Seine Majestät ist erschienen!«
Im ersten Augenblick konnte Herzl sich mißverstanden fühlen; Wien, wo er sich durch seine jahrelange Beliebtheit am sichersten vermeinte, verließ und verlachte ihn sogar. Aber dann dröhnte Antwort mit solcher Wucht und Ekstase so plötzlich zurück, daß er beinahe erschrak, eine wie mächtige, ihn weit überwachsende Bewegung er mit seinen paar Dutzend Seiten in die Welt gerufen. Sie kam freilich nicht von den behaglich lebenden, wohlsituierten bürgerlichen Juden des Westens, sondern von den riesigen Massen des Ostens, von dem galizischen, dem polnischen, dem russischen Ghettoproletariat. Ohne es zu ahnen, hatte Herzl mit seiner Broschüre den unter der Asche der Fremde glühenden Kern des Judentums zum Aufflammen gebracht, den tausendjährigen messianischen Traum der in den heiligen Büchern bekräftigten Verheißung der Rückkehr ins Gelobte Land – diese Hoffnung und zugleich religiöse Gewißheit, welche einzig jenen getretenen und geknechteten Millionen das Leben noch sinnvoll machte. Immer, wenn einer – Prophet oder Betrüger – in den zweitausend Jahren des Golus an diese Saite gerührt, war die ganze Seele des Volkes in Schwingung gekommen, nie aber so gewaltig wie diesmal, nie mit solchem brausenden, rauschenden Widerhall. Mit ein paar Dutzend Seiten hatte ein einzelner Mann eine verstreute, verzwistete Masse zur Einheit geformt.
Dieser erste Augenblick, solange die Idee noch traumhaft ungewisse Formen hatte, war bestimmt, der glücklichste in Herzls kurzem Leben zu sein. Sobald er begann, die Ziele im realen Raum zu fixieren, die Kräfte zu binden, mußte er erkennen, wie disparat dieses sein Volk geworden war unter den verschiedenen Völkern und Schicksalen, hier die religiösen, dort die freigeistigen, hier die sozialistischen, dort die kapitalistischen Juden, in allen Sprachen gegeneinander eifernd und alle unwillig, sich einer einheitlichen Autorität zu fügen. In jenem Jahr 1901, da ich ihn zum ersten Male sah, stand er mitten im Kampf und war vielleicht auch mit sich selbst im Kampf; noch glaubte er dem Gelingen nicht genug, um die Stellung, die ihn und seine Familie ernährte, aufzugeben. Noch mußte er sich teilen in den kleinen journalistischen Dienst und die Aufgabe, die sein wahres Leben war. Noch war es der Feuilletonredakteur Theodor Herzl, der mich damals empfing.
Theodor Herzl erhob sich, um mich zu begrüßen, und unwillkürlich empfand ich, daß das höhnisch gemeinte Witzwort ›der König von Zion‹ etwas Wahres traf: er sah wirklich königlich aus mit seiner hohen, freien Stirne, seinen klaren Zügen, seinem langen, fast bläulich-schwarzen Priesterbart und seinen tiefblauen, melancholischen Augen. Die weiten, etwas theatralischen Gesten wirkten bei ihm nicht erkünstelt, weil sie durch eine natürliche Hoheit bedingt waren, und es hätte nicht dieser besonderen Gelegenheit bedurft, um ihn mir imposant erscheinen zu lassen. Selbst vor dem abgenutzten, mit Papier überhäuften Schreibtisch in dieser kläglich engen, einfenstrigen Redaktionsstube wirkte er wie ein beduinischer Wüstenscheich; ein wallender weißer Burnus hätte ihn ebenso natürlich gekleidet wie sein sorgfältig geschnittener, sichtlich nach Pariser Muster gehaltener schwarzer Cutaway. Nach einer kurzen, absichtlich eingeschalteten Pause – er liebte diese kleinen Effekte, wie ich später oft bemerkte, und hatte sie wohl im Burgtheater studiert – reichte er mir herablassend und doch durchaus gütig die Hand. Auf den Sessel neben sich weisend, fragte er: »Ich glaube, ich habe Ihren Namen schon irgendwo gehört oder gelesen. Gedichte, nicht wahr?« Ich mußte zustimmen. »Nun«, lehnte er sich zurück. »Was bringen Sie mir?«
Ich berichtete, daß ich ihm gerne eine kleine Prosaarbeit vorgelegt hätte, und überreichte ihm das Manuskript. Er sah das Titelblatt an, schlug über bis zur letzten Seite, um den Umfang zu messen, lehnte sich dann noch tiefer in den Sessel zurück. Und zu meinem Erstaunen (ich hatte es nicht erwartet) bemerkte ich, daß er bereits das Manuskript zu lesen begonnen hatte. Er las langsam, immer ein Blatt zurücklegend, ohne aufzublicken. Als er das letzte Blatt gelesen hatte, faltete er langsam das Manuskript zusammen, tat es umständlich und noch immer ohne mich anzusehen in ein Couvert und schrieb mit Blaustift einen Vermerk darauf. Dann erst, nachdem er mich mit diesen geheimnisvollen Machinationen genügend lang in Spannung gehalten, hob er den schweren, dunklen Blick zu mir auf und sagte mit bewußter, langsamer Feierlichkeit: »Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß Ihre schöne Arbeit für das Feuilleton der ›Neuen Freien Presse‹ angenommen ist.« Es war, als ob Napoleon auf dem Schlachtfelde einem jungen Sergeanten das Ritterkreuz der Ehrenlegion anheftete.
Dies scheint an sich eine kleine, belanglose Episode. Aber man muß Wiener und Wiener jener Generation sein, um zu verstehen, welchen Ruck nach oben diese Förderung bedeutete. Ich war damit in meinem neunzehnten Jahr über Nacht in eine Prominentenstellung aufgerückt, und Theodor Herzl, der mir von dieser ersten Stunde an gütig zugetan blieb, nutzte gleich einen zufälligen Anlaß, um in einem seiner nächsten Aufsätze zu schreiben, man solle in Wien nicht an eine Dekadenz der Kunst glauben. Im Gegenteil, es gebe neben Hofmannsthal jetzt eine Reihe junger Talente, von denen das Beste zu erwarten sei, und er nannte an erster Stelle meinen Namen. Ich habe es immer als besondere Auszeichnung empfunden, daß es ein Mann von der überragenden Bedeutung Theodor Herzls war, der als erster für mich öffentlich an einer weithin sichtbaren und darum verantwortungsvollen Stelle eingetreten ist, und es war für mich ein schwerer Entschluß, mich – scheinbar in Undank – nicht, wie er es gewünscht hätte, tätig und sogar mitführend seiner zionistischen Bewegung anschließen zu können.
Aber eine rechte Bindung wollte mir nicht gelingen; mich befremdete vor allem die heute wohl nicht mehr vorstellbare Art der Respektlosigkeit, mit der sich gerade die eigentlichen Parteigenossen zu Herzls Person stellten. Die östlichen warfen ihm vor, er verstünde nichts vom Judentum, er kenne ja nicht einmal seine Gebräuche, die Nationalökonomen betrachteten ihn als Feuilletonisten, jeder hatte seinen eigenen Einwand und nicht immer der respektvollsten Art. Ich wußte, wie sehr gerade damals vollkommen ergebene Menschen und besonders junge Menschen Herzl wohlgetan und notgetan hätten, und der zänkische, rechthaberische Geist dieses ständigen Opponierens, der Mangel an redlicher, herzlicher Subordination in diesem Kreise entfremdete mich der Bewegung, der ich mich nur um Herzls willen neugierig genährt hatte. Als wir einmal über dies Thema sprachen, gestand ich ihm offen meinen Unmut über die mangelnde Disziplin in seinen Reihen. Er lächelte etwas bitter und sagte: »Vergessen Sie nicht, wir sind seit Jahrhunderten an das Spielen mit Problemen, an den Streit mit Ideen gewöhnt. Wir Juden haben ja seit zweitausend Jahren historisch gar keine Praxis, etwas Reales in die Welt zu setzen. Die unbedingte Hingabe muß man erst lernen, und ich selbst habe sie noch heute nicht erlernt, denn ich schreibe noch immer zwischendurch Feuilletons und bin noch immer Feuilletonredakteur der ›Neuen Freien Presse‹, während es meine Pflicht wäre, keinen Gedanken außer dem einen zu haben, keinen Strich für irgend etwas anderes auf ein Blatt Papier zu tun. Aber ich bin schon unterwegs, mich da zu bessern, ich will die unbedingte Hingabe erst selbst lernen, und vielleicht lernen da die anderen mit.« Ich weiß noch, daß diese Worte auf mich tiefen Eindruck machten, denn wir alle verstanden nicht, daß Herzl sich so lange nicht entschließen konnte, seine Stellung bei der ›Neuen Freien Presse‹ aufzugeben – wir meinten, um seiner Familie willen. Daß dem nicht so war und er sogar sein eigenes Privatvermögen der Sache geopfert hatte, erfuhr die Welt erst viel später. Und wie sehr er selbst unter diesem Zwiespalt gelitten hat, erwies mir nicht nur dieses Gespräch, sondern auch viele Aufzeichnungen in seinen Tagebüchern bezeugen es.
Ich sah ihn dann noch mehrmals, aber von allen Begegnungen ist mir nur eine als wichtige erinnerlich und unvergeßlich, vielleicht, weil sie die letzte war. Ich war im Ausland gewesen – nicht anders als brieflich mit Wien in Verbindung –, endlich traf ich ihn eines Tages im Stadtpark. Er kam offenbar aus der Redaktion, ging sehr langsam und ein wenig in sich gebeugt; es war nicht mehr der alte, schwingende Schritt. Ich grüßte höflich und wollte vorüber, aber er kam rasch emporgestrafft auf mich zu, bot mir die Hand: »Warum verstecken Sie sich? Sie haben das gar nicht nötig.« Daß ich so oft ins Ausland flüchtete, rechnete er mir hoch an. »Es ist unser einziger Weg«, sagte er. »Alles, was ich weiß, habe ich im Ausland gelernt. Nur dort gewöhnt man sich, in Distanzen zu denken. Ich bin überzeugt, ich hätte hier nie den Mut zu jener ersten Konzeption gehabt, man hätte sie mir zerstört, solange sie noch im Keimen und Wachsen war. Aber Gott sei Dank, als ich sie herbrachte, war schon alles fertig, und sie konnten nicht mehr tun, als das Bein aufheben.« Er sprach dann sehr bitter über Wien; hier habe er die stärksten Hemmungen gefunden, und kämen nicht von außen, von Osten besonders und nun auch von Amerika, neue Impulse, er wäre schon müde geworden. »Überhaupt«, sagte er, »mein Fehler war, daß ich zu spät begonnen habe. Viktor Adler, der war mit dreißig Jahren Führer der Sozialdemokratie, in seinen besten, ureigentlichen Kampfjahren, und von den Großen der Geschichte will ich gar nicht reden. Wenn Sie wüßten, wie ich leide im Gedanken an die verlorenen Jahre – daß ich nicht früher an meine Aufgabe herangekommen bin. Wäre meine Gesundheit so gut wie mein Wille, dann stünde alles noch gut, aber Jahre kauft man nicht mehr zurück.« Ich begleitete ihn noch lange des Weges bis zu seinem Hause. Dort blieb er stehen und gab mir die Hand und sagte: »Warum kommen Sie nie zu mir? Sie haben mich nie zu Hause besucht. Telephonieren Sie vorher an, ich mache mich schon frei.« Ich versprach es ihm, fest entschlossen, das Versprechen nicht zu halten, denn je mehr ich einen Menschen liebe, desto mehr ehre ich seine Zeit.
Aber ich bin dennoch zu ihm gekommen, und schon wenige Monate später. Die Krankheit, die ihn damals zu beugen begann, hatte ihn plötzlich gefällt, und nur zum Friedhof mehr konnte ich ihn begleiten. Ein sonderbarer Tag war es, ein Tag im Juli, unvergeßlich jedem, der ihn miterlebte. Denn plötzlich kamen auf allen Bahnhöfen der Stadt, mit jedem Zug, bei Tag und Nacht, aus allen Reichen und Ländern, Menschen gefahren, westliche, östliche, russische, türkische Juden, aus allen Provinzen und kleinen Städten stürmten sie plötzlich herbei, den Schreck der Nachricht noch im Gesicht; niemals spürte man deutlicher, was früher das Gestreite und Gerede unsichtbar gemacht, daß es der Führer einer großen Bewegung war, der hier zu Grabe getragen wurde. Es war ein endloser Zug. Mit einemmal merkte Wien, daß hier nicht nur ein Schriftsteller oder mittlerer Dichter gestorben war, sondern einer jener Gestalter von Ideen, wie sie in einem Land, in einem Volk nur in ungeheuren Intervallen sich sieghaft erheben. Am Friedhof entstand ein Tumult; zu viele strömten plötzlich zu seinem Sarg, weinend, heulend, schreiend in einer wild explodierenden Verzweiflung, es wurde ein Toben, ein Wüten fast; alle Ordnung war zerbrochen durch eine Art elementarer und ekstatischer Trauer, wie ich sie niemals vordem und nachher bei einem Begräbnis gesehen. Und an diesem ungeheuren, aus der Tiefe eines ganzen Millionenvolkes stoßhaft aufstürmenden Schmerz konnte ich zum erstenmal ermessen, wieviel Leidenschaft und Hoffnung dieser einzelne und einsame Mensch durch die Gewalt seines Gedankens in die Welt geworfen.
Die eigentliche Bedeutung meines feierlichen Einlasses in das Feuilleton der ›Neuen Freien Presse‹ wirkte sich für mich im Privaten aus. Ich gewann dadurch eine unerwartete Sicherheit gegenüber meiner Familie. Meine Eltern befaßten sich wenig mit Literatur und maßten sich keinerlei Urteil an; für sie, wie für die ganze Wiener Bourgeoisie, war bedeutend, was in der ›Neuen Freien Presse‹ gelobt wurde, und gleichgültig, was dort ignoriert oder getadelt wurde. Was im ›Feuilleton‹ geschrieben stand, schien für sie durch höchste Autorität verbürgt, denn wer dort urteilte und richtete, forderte schon durch die bloße Position Respekt heraus. Und nun denke man sich eine solche Familie aus, die mit Ehrfurcht und Erwartung ihren Blick täglich auf dieses eine erste Blatt ihrer Zeitung richtet und eines Morgens unglaubhafterweise entdeckt, daß der ziemlich unordentliche Neunzehnjährige, der an ihrem Tisch sitzt, der in der Schule keineswegs exzelliert, und dessen Geschreibe sie mit Wohlwollen als ›ungefährliche‹ Spielereien hingenommen (besser immerhin als Kartenspiel oder Flirt mit leichtfertigen Mädchen), an dieser verantwortungsreichen Stelle zwischen den berühmten und erfahrenen Männern das Wort ergreifen durfte für seine (zu Hause bisher nicht sehr geachteten) Meinungen. Hätte ich die schönsten Gedichte Keats', Hölderlins oder Shelleys geschrieben, so würde dies nicht eine so völlige Umstellung im ganzen Umkreis bewirkt haben; wenn ich ins Theater kam, zeigte man sich diesen rätselhaften Benjamin, der auf mysteriöse Weise in das heilige Gehege der Alten und Würdigen eingedrungen war. Und da ich öfters und beinahe regelmäßig in dem Feuilleton publizierte, geriet ich bald in Gefahr, eine angesehene lokale Respektsperson zu werden; dieser Gefahr entzog ich mich aber glücklicherweise rechtzeitig, indem ich eines Morgens meine Eltern mit der Mitteilung überraschte, ich wolle das nächste Semester in Berlin studieren. Und meine Familie respektierte mich oder vielmehr die ›Neue Freie Presse‹, in deren goldenem Schatten ich stand, zu sehr, um mir meinen Wunsch nicht zu gewähren.
Selbstverständlich dachte ich nicht daran, in Berlin zu »studieren«. Ich habe dort die Universität ebenso wie in Wien nur zweimal im Verlauf eines Semesters aufgesucht, einmal, um die Vorlesungen zu inskribieren, und das zweitemal, um mir ihren vorgeblichen Besuch testieren zu lassen. Was ich in Berlin suchte, waren weder Kollegien noch Professoren, sondern eine höhere und noch vollkommenere Art der Freiheit. In Wien fühlte ich mich immerhin noch an das Milieu gebunden. Die literarischen Kollegen, mit denen ich verkehrte, stammten fast alle aus der gleichen jüdisch-bürgerlichen Schicht wie ich selbst; in der engen Stadt, wo jeder von jedem wußte, blieb ich unweigerlich der Sohn aus einer ›guten‹ Familie, und ich war müde der sogenannten ›guten‹ Gesellschaft; ich wollte sogar einmal ausgesprochen ›schlechte‹ Gesellschaft, eine ungezwungene, unkontrollierte Form der Existenz. Wer in Berlin an der Universität Philosophie dozierte, hatte ich nicht einmal im Verzeichnis nachgesehen; mir genügte es zu wissen, daß die ›neue‹ Literatur sich dort aktiver, impulsiver gebärdete als bei uns, daß man dort Dehmel und anderen Dichtern der jungen Generation begegnen konnte, daß dort ununterbrochen Zeitschriften, Kabaretts, Theater gegründet wurden, kurzum, daß dort, wie man auf Wienerisch sagte, ›etwas los war‹.
In der Tat kam ich nach Berlin in einem sehr interessanten, historischen Augenblick. Seit 1870, da Berlin aus der recht nüchternen, kleinen und durchaus nicht reichen Hauptstadt des Königreichs Preußen die Residenzstadt des deutschen Kaisers geworden war, hatte der unscheinbare Ort an der Spree einen mächtigen Aufschwung genommen. Aber noch war Berlin die Führung in künstlerischen und kulturellen Angelegenheiten nicht zugefallen; München galt mit seinen Malern und Dichtern als die eigentliche Zentrale der Kunst, die Dresdner Oper dominierte in der Musik, die kleinen Residenzen zogen wertvolle Elemente an sich; vor allem aber war Wien mit seiner hundertjährigen Tradition, seiner konzentrierten Kraft, seinem natürlichen Talent Berlin bisher noch immer weit überlegen geblieben. Jedoch in den letzten Jahren begann sich mit dem rapiden wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands das Blatt zu wenden. Die großen Konzerne, die vermögenden Familien zogen nach Berlin, und neuer Reichtum, gepaart mit einem starken Wagemut, eröffnete der Architektur, dem Theater hier größere Möglichkeiten als in einer anderen großen deutschen Stadt. Die Museen vergrößerten sich unter dem Protektorat Kaiser Wilhelms, das Theater fand in Otto Brahm einen vorbildlichen Leiter, und gerade, daß keine richtige Tradition, keine jahrhundertealte Kultur vorhanden war, lockte die Jugend zum Versuche an. Denn Tradition bedeutet immer auch Hemmung. Wien, an das Alte gebunden, seine eigene Vergangenheit vergötternd, erwies sich vorsichtig und abwartend gegen junge Menschen und verwegene Experimente. In Berlin aber, das sich rasch und in persönlicher Form gestalten wollte, suchte man das Neue. So war es nur natürlich, daß die jungen Menschen aus dem ganzen Reiche und sogar aus Österreich sich nach Berlin drängten, und die Erfolge gaben den Begabten unter ihnen recht; der Wiener Max Reinhardt hätte in Wien zwei Jahrzehnte lang geduldig warten müssen, um die Position zu erlangen, die er in Berlin in zwei Jahren eroberte.
Es war just in diesem Zeitpunkt des Überganges von der bloßen Hauptstadt zur Weltstadt, daß ich in Berlin eintraf. Noch war der erste Eindruck nach der satten und von großen Ahnen vererbten Schönheit Wiens eher enttäuschend; der entscheidende Zug nach dem Westen, wo sich die neue Architektur statt der etwas protzigen Tiergartenhäuser entfalten sollte, hatte eben erst begonnen, noch bildeten die baulich öde Friedrichstraße und Leipziger Straße mit ihrem ungeschickten Prunk das Zentrum der Stadt. Vororte wie Wilmersdorf, Nikolassee, Steglitz waren nur mit den Trambahnen mühsam zu erreichen, die Seen der Mark mit ihrer herben Schönheit erforderten in jener Zeit noch eine Art Expedition. Außer den alten ›Unter den Linden‹ gab es kein richtiges Zentrum, keinen ›Korso‹ wie bei uns am Graben, und vollkommen fehlte dank der alten preußischen Sparsamkeit eine durchgängige Eleganz. Die Frauen gingen in selbstgeschneiderten, geschmacklosen Kleidern ins Theater, überall vermißte man die leichte, geschickte und verschwenderische Hand, die in Wien wie in Paris aus einem billigen Nichts eine bezaubernde Überflüssigkeit zu schaffen verstand. In jeder Einzelheit fühlte man friderizianische, knickerige Haushälterischkeit; der Kaffee war dünn und schlecht, weil an jeder Bohne gespart wurde, das Essen lieblos, ohne Saft und Kraft. Sauberkeit und eine straffe, akkurate Ordnung regierten allerorts statt unseres musikalischen Schwungs. Nichts war mir zum Beispiel charakteristischer als der Gegensatz meiner Wiener und Berliner Zimmerwirtin. Die wienerische war eine muntere, geschwätzige Frau, die nicht alles in bester Sauberkeit hielt, dies und das leichtfertig vergaß, aber begeistert einem jede Gefälligkeit erwies. Die Berlinerin war korrekt und hielt alles tadellos im Stand; aber bei ihrer ersten Monatsrechnung fand ich in sauberer, steiler Schrift jeden kleinen Dienst berechnet, den sie erwiesen: drei Pfennige für das Annähen eines Hosenknopfes, zwanzig Pfennige für das Beseitigen eines Tintenflecks auf dem Tischbrett, bis schließlich nach einem kräftigen Addierstrich für ihre sämtlichen Bemühungen sich das Sümmchen von 67 Pfennigen ergab. Ich lachte zuerst darüber; charakteristischer aber war, daß ich selbst nach wenigen Tagen schon diesem peinlichen preußischen Ordnungssinn erlag und zum ersten und letzten Male in meinem Leben ein genaues Ausgabenbuch führte.
Von Wiener Freunden hatte ich eine ganze Reihe von Empfehlungen mitbekommen. Aber ich gab keine einzige ab. Es war doch der eigentliche Sinn meiner Eskapade, jeder gesicherten und bürgerlichen Atmosphäre zu entkommen und statt dessen losgelöst und ganz auf mich gestellt zu leben. Ich wollte ausschließlich Menschen kennenlernen, zu denen ich den Weg durch meine eigenen literarischen Bemühungen gefunden hatte – und möglichst interessante Menschen; schließlich hatte man nicht umsonst die ›Bohème‹ gelesen und mußte als Zwanzigjähriger wünschen, auch derlei zu erleben.
Einen solchen wild und wahllos zusammengewürfelten Kreis brauchte ich nun nicht lange zu suchen. Ich hatte von Wien aus längst an dem führenden Blatt der Berliner ›Moderne‹, das sich fast ironisch ›Die Gesellschaft‹ nannte und von Ludwig Jacobowski geleitet war, mitgearbeitet. Dieser junge Dichter hatte kurz vor seinem frühen Tode einen Verein mit dem für die Jugend verführerischen Namen ›Die Kommenden‹ gegründet, der einmal in der Woche sich im ersten Stock eines Kaffeehauses am Nollendorfplatz versammelte. In dieser der Pariser ›Closerie des Lilas‹ nachgebildeten riesigen Runde drängte sich das Heterogenste zusammen, Dichter und Architekten, Snobs und Journalisten, junge Mädchen, die sich als Kunstgewerblerinnen oder Bildhauerinnen drapierten, russische Studenten und schneeblonde Skandinavierinnen, die sich in der deutschen Sprache vervollkommnen wollten. Deutschland selbst hatte aus allen seinen Provinzen Vertreter zur Stelle, starkknochige Westfalen, biedere Bayern, schlesische Juden: all das mengte sich in wilden Diskussionen und mit voller Ungezwungenheit. Ab und zu wurden Gedichte oder Dramen vorgelesen, die Hauptsache aber war für alle das gegenseitige Kennenlernen. Inmitten dieser jungen Menschen, die sich bewußt als Bohème gebärdeten, saß rührend wie ein Weihnachtsmann ein alter, graubärtiger Mann, von allen respektiert und geliebt, weil ein wirklicher Dichter und wirklicher Bohèmien: Peter Hille. Dieser Siebzigjährige mit seinen blauen Hundeaugen blickte gutmütig und arglos in diese sonderbare Kinderschar, immer in seinen grauen Wettermantel gehüllt, der einen ganz zerfransten Anzug und sehr schmutzige Wäsche verdeckte; gerne ließ er sich jedesmal von unserem Drängen verleiten, aus einer seiner Rocktaschen ganz zerknüllte Manuskripte hervorzuholen und seine Gedichte vorzulesen. Es waren Gedichte ungleicher Art, eigentlich Improvisationen eines lyrischen Genius, nur zu locker, zu zufällig geformt. Er schrieb sie in der Straßenbahn oder im Café mit Bleistift hin, vergaß sie dann und hatte Mühe, beim Vorlesen in dem verwischten und verfleckten Zettel die Worte wiederzufinden. Geld hatte er niemals, aber er kümmerte sich nicht um Geld, schlief bald bei diesem, bald bei jenem zu Gast, und seine Weltvergessenheit, seine absolute Ehrgeizlosigkeit hatten etwas ergreifend Echtes. Man verstand eigentlich nicht, wann und wie dieser gute Waldmensch in die große Stadt Berlin geraten war und was er hier wollte. Aber er wollte gar nichts, nicht berühmt, nicht gefeiert sein, und war doch sorgloser und freier dank seiner dichterischen Traumhaftigkeit, als ich es je später bei einem anderen Menschen gesehen. Um ihn lärmten und überschrien sich die ehrgeizigen Diskutanten; er hörte milde zu, stritt mit keinem, hob manchmal mit freundlichem Gruß einem das Glas entgegen, aber er mischte sich kaum je in das Gespräch. Man hatte das Gefühl, als ob selbst während des wildesten Tumults in seinem struppigen und ein bißchen müden Kopf Verse und Worte sich suchten, ohne daß sie sich ganz berührten und fanden.
Das Wahrhafte und Kindliche, das von diesem naiven Dichter ausging – der heute selbst in Deutschland nahezu vergessen ist –, lenkte vielleicht gefühlsmäßig meine Aufmerksamkeit von dem gewählten Vorstand der ›Kommenden‹ ab, und doch war dies ein Mann, dessen Ideen und Worte später unzähligen Menschen bei der Lebensformung entscheidend sein sollten. Hier, in Rudolf Steiner, dem später als Begründer der Anthroposophie die prachtvollsten Schulen und Akademien von seinen Anhängern zur Durchsetzung seiner Lehre gebaut wurden, begegnete ich nach Theodor Herzl zum erstenmal wieder einem Mann, dem vom Schicksal die Mission zugeteilt werden sollte, Millionen Menschen Wegweiser zu werden. Persönlich wirkte er nicht so führerhaft wie Herzl, aber mehr verführerisch. In seinen dunklen Augen wohnte eine hypnotische Kraft, und ich hörte ihm besser und kritischer zu, wenn ich nicht auf ihn blickte, denn sein asketisch-hageres, von geistiger Leidenschaft gezeichnetes Antlitz war wohl angetan, nicht nur auf Frauen überzeugend zu wirken. Rudolf Steiner war in jener Zeit noch nicht seiner eigenen Lehre nahegekommen, sondern selber noch ein Suchender und Lernender; gelegentlich trug er uns Kommentare zur Farbenlehre Goethes vor, dessen Bild in seiner Darstellung faustischer, paracelsischer wurde. Es war aufregend ihm zuzuhören, denn seine Bildung war stupend und vor allem gegenüber der unseren, die sich allein auf Literatur beschränkte, großartig vielseitig; von seinen Vorträgen und manchem guten privaten Gespräch kehrte ich immer zugleich begeistert und etwas niedergedrückt nach Hause zurück. Trotzdem – wenn ich mich heute frage, ob ich damals diesem jungen Manne eine derartige philosophische und ethische Massenwirkung prophezeit hätte, muß ich es zu meiner Beschämung verneinen. Ich habe von seinem sucherischen Geiste Großes erwartet in der Wissenschaft, und es hätte mich keineswegs verwundert, von einer großen biologischen Entdeckung zu hören, die seinem intuitiven Geiste gelungen wäre; aber als ich dann Jahre und Jahre später in Dornach das grandiose Goetheanum sah, diese ›Schule der Weisheit‹, die ihm seine Schüler als platonische Akademie der ›Anthroposophie‹ gestiftet, war ich eher enttäuscht, daß sein Einfluß so sehr in das Breit-Reale und stellenweise sogar ins Banale gegangen. Ich maße mir kein Urteil über die Anthroposophie an, denn mir ist bis heute nicht deutlich klar, was sie will und bedeutet; ich glaube sogar, daß im Wesentlichen ihre verführende Wirkung nicht an eine Idee, sondern an Rudolf Steiners faszinierende Person gebunden war. Immerhin, einem Mann solcher magnetischen Kraft gerade auf jener frühen Stufe zu begegnen, wo er noch freundschaftlich undogmatisch sich Jüngeren mitteilte, war für mich ein unschätzbarer Gewinn. An seinem phantastischen und zugleich profunden Wissen erkannte ich, daß die wahre Universalität, derer wir uns mit gymnasiastischer Überheblichkeit schon bemächtigt zu haben meinten, nicht durch flüchtiges Lesen und Diskutieren, sondern nur in jahrelanger, brennender Bemühung erarbeitet werden kann.
Aber das Wesentliche lernt in jener aufnehmenden Zeit, wo Freundschaften sich leicht knüpfen und die sozialen oder politischen Unterschiede sich noch nicht verhärtet haben, ein junger Mensch eigentlich besser von den Mitstrebenden als von den Überlegenen. Wieder spürte ich – nun aber auf einer höheren und internationaleren Stufe als im Gymnasium –, wie sehr kollektiver Enthusiasmus befruchtet. Während meine Wiener Freunde fast alle aus dem Bürgertum stammten und sogar zu neun Zehnteln aus der jüdischen Bourgeoisie, wir somit uns nur duplizierten und multiplizierten mit unseren Neigungen, kamen die jungen Menschen dieser neuen Welt aus ganz gegensätzlichen Schichten, von oben, von unten, preußischer Aristokrat der eine, Hamburger Reedersohn der andere, der dritte aus westfälischem Bauerngeschlecht, ich lebte plötzlich in einem Kreise, wo es auch wirkliche Armut mit zerrissenen Kleidern und abgetretenen Schuhen gab, eine Sphäre also, die ich in Wien nie berührt. Ich saß am selben Tisch mit schweren Trinkern und Homosexuellen und Morphinisten, ich schüttelte sehr stolz – die Hand einem ziemlich bekannten und abgestraften Hochstapler (der später seine Memoiren veröffentlichte und auf diese Weise zu uns Schriftstellern kam). Alles, was ich in den realistischen Romanen kaum geglaubt hatte, schob und drängte sich in den kleinen Wirtsstuben und Cafés, in die ich eingeführt wurde, zusammen, und je schlimmer eines Menschen Ruf war, um so begehrlicher mein Interesse, seinen Träger persönlich kennenzulernen. Diese besondere Liebe oder Neugier für gefährdete Menschen hat mich übrigens mein ganzes Leben lang begleitet; selbst in den Jahren, wo es sich geziemt hätte, schon wählerischer zu werden, haben meine Freunde mich oft gescholten, mit was für amoralischen, unverläßlichen und wahrhaft kompromittierenden Leuten ich umging. Vielleicht ließ mir gerade die Sphäre der Solidität, aus der ich kam, und die Tatsache, daß ich selbst bis zu einem gewissen Grade mich mit dem Komplex der ›Sicherheit‹ belastet fühlte, alle jene faszinierend erscheinen, die mit ihrem Leben, ihrer Zeit, ihrem Geld, ihrer Gesundheit ihrem guten Ruf verschwenderisch und beinahe verächtlich umgingen, diese Passionierten, diese Monomanen des bloßen Existierens ohne Ziel, und vielleicht merkt man in meinen Romanen und Novellen diese Vorliebe für alle intensiven und unbändigen Naturen. Dazu kam noch der Reiz des Exotischen, des Ausländischen; fast jeder von ihnen brachte meinem Neugierdrang ein Geschenk aus fremder Welt. In dem Zeichner E. M. Lilien, dem Sohn eines armen orthodoxen Drechslermeisters aus Drohobycz, begegnete ich zum erstenmal einem wirklichen Ostjuden und damit einem Judentum, das mir bisher in seiner Kraft, seinem zähen Fanatismus unbekannt gewesen. Ein junger Russe übersetzte mir die schönsten Stellen der damals in Deutschland noch unbekannten Brüder Karamasow, eine junge Schwedin zeigte mir zum erstenmal Bilder von Munch; ich trieb mich um in den Ateliers bei (allerdings schlechten) Malern, um ihre Technik zu beobachten, ein Gläubiger führte mich in einen spiritistischen Zirkel – in tausend Formen und Vielfältigkeiten spürte ich das Dasein und wurde nicht satt. Die Intensität, die sich im Gymnasium nur in den bloßen Formen, im Reim und Vers und Wort ausgelebt, warf sich jetzt gegen die Menschen; von früh bis nachts war ich in Berlin mit immer neuen und immer anderen beisammen, begeistert, enttäuscht, sogar geprellt von ihnen. Ich glaube, ich habe in zehn Jahren nicht so viel geistiger Geselligkeit gefrönt wie in diesem einen knappen Semester in Berlin, dem ersten der vollkommenen Freiheit.
Daß diese ungemeine Vielfalt der Anregung eine außerordentliche Steigerung meiner Produktionslust bedeuten mußte, schien eigentlich logisch. In Wirklichkeit ereignete sich genau das Gegenteil; mein von der geistigen Exaltierung im Gymnasium zuerst steil hochgetriebenes Selbstbewußtsein schmolz bedenklich ein. Vier Monate nach der Veröffentlichung verstand ich nicht mehr, woher ich den Mut genommen, jenen unreifen Gedichtband herauszugeben; ich empfand die Verse noch immer als gutes, geschicktes, zum Teil sogar bemerkenswertes Kunsthandwerk, entstanden aus einer ehrgeizigen Spielfreude an der Form, aber unecht in ihrer Sentimentalität. Ebenso spürte ich seit dieser Berührung mit der Wirklichkeit bei meinen ersten Novellen einen Geruch von parfümiertem Papier; in totaler Unkenntnis der Realitäten geschrieben, verwerteten sie eine jeweils abgeschaute Technik in zweiter Hand. Ein Roman, den ich bis auf das letzte Kapitel fertig nach Berlin gebracht hatte, um meinen Verleger zu beglücken, heizte bald den Ofen, denn mein Glaube an die Kompetenz meiner Gymnasialklasse hatte einen harten Stoß bekommen mit diesem ersten Blick ins wirkliche Leben. Mir war, als ob ich in der Schule um ein paar Jahrgänge zurückversetzt wäre. Tatsächlich habe ich nach meinem ersten Versband eine Pause von sechs Jahren eingeschaltet, ehe ich einen zweiten veröffentlichte, und erst nach drei oder vier Jahren das erste Prosabuch publiziert; dem Rate Dehmels, dem ich noch jetzt dafür dankbar bin, entsprechend, nützte ich meine Zeit, um aus fremden Sprachen zu übersetzen, was ich noch heute für die beste Möglichkeit für einen jungen Dichter halte, den Geist der eigenen Sprache tiefer und schöpferischer zu begreifen. Ich übertrug die Gedichte Baudelaires, einige von Verlaine, Keats, William Morris, ein kleines Drama von Charles van Lerberghe, einen Roman von Camille Lemonnier, ›pour me faire la main‹. Gerade dadurch, daß jede fremde Sprache in ihren persönlichsten Wendungen zunächst Widerstände für die Nachdichtung schafft, fordert sie Kräfte des Ausdrucks heraus, die ungesucht sonst nicht zum Einsatz gelangen, und dieser Kampf, der fremden Sprache zäh das Eigenste abzuzwingen und der eigenen Sprache ebenso plastisch einzuzwingen, hat für mich immer eine besondere Art künstlerischer Lust bedeutet. Weil diese stille und eigentlich unbedankte Arbeit Geduld und Ausdauer forderte, Tugenden, die ich im Gymnasium durch Leichtigkeit und Verwegenheit überspielt, wurde sie mir besonders lieb; denn an dieser bescheidenen Tätigkeit der Vermittlung erlauchten Kunstguts empfand ich zum erstenmal die Sicherheit, etwas wirklich Sinnvolles zu tun, eine Rechtfertigung meiner Existenz.
Innerlich war mir mein Weg für die nächsten Jahre jetzt klargeworden; viel sehen, viel lernen und dann erst eigentlich beginnen! Nicht mit voreiligen Publikationen vor die Welt treten – erst von der Welt ihr Wesentliches wissen! Berlin mit seiner starken Beize hatte meinen Durst nur noch gemehrt. Und ich blickte mich um, in welches Land meine Sommerreise zu tun. Meine Wahl fiel auf Belgien. Dieses Land hatte um die Jahrhundertwende einen ungemeinen künstlerischen Aufschwung genommen und sogar in gewissem Sinne Frankreich an Intensität überflügelt. Khnopff, Rops in der Malerei, Constantin Meunier und Minne in der Plastik, van der Velde im Kunstgewerbe, Maeterlinck, Eekhoud, Lemonnier in der Dichtung, gaben ein großartiges Maß der neuen europäischen Kraft. Vor allem aber war es Emile Verhaeren, der mich faszinierte, weil er der Lyrik einen völlig neuen Weg wies; ich hatte mir ihn, der in Deutschland noch völlig unbekannt war, – die offizielle Literatur verwechselte ihn lange mit Verlaine, so wie sie Rolland mit Rostand vertauschte – gewissermaßen privatim entdeckt. Und jemanden allein zu lieben, heißt immer doppelt lieben.
Vielleicht ist es hier nötig, eine kleine Einschaltung zu machen. Unsere Zeit erlebt zu rasch und zuviel, um sich ein gutes Gedächtnis zu bewahren, und ich weiß nicht, ob der Name Emile Verhaerens noch heute etwas bedeutet. Verhaeren hatte als erster von allen französischen Dichtern versucht, Europa das zu geben, was Walt Whitman Amerika: das Bekenntnis zur Zeit, das Bekenntnis zur Zukunft. Er hatte die moderne Welt zu lieben begonnen und wollte sie für die Dichtung erobern. Während für die anderen die Maschine das Böse, die Städte das Häßliche, die Gegenwart das Unpoetische waren, hatte er für jede neue Erfindung, jede technische Leistung Begeisterung, und er begeisterte sich an seiner eigenen Begeisterung, er begeisterte sich wissentlich, um sich in dieser Leidenschaft stärker zu spüren. Aus den kleinen Gedichten des Anfangs wurden große, strömende Hymnen. ›Admirez-vous les uns les autres‹, war seine Parole an die Völker Europas. Der ganze Optimismus unserer Generation, dieser in der heutigen Zeit unseres grauenhaftesten Rückfalls längst nicht mehr verständliche Optimismus fand bei ihm den ersten dichterischen Ausdruck, und einige seiner besten Gedichte werden noch lange das Europa und die Menschheit bezeugen, die wir damals erträumt.
Verhaeren kennenzulernen, war ich eigentlich nach Brüssel gekommen. Aber Camille Lemonnier, dieser kräftige, heute zu Unrecht in Vergessenheit geratene Dichter des ›Mâle‹, von dem ich einen Roman selbst ins Deutsche übertragen, sagte mir bedauernd, daß Verhaeren nur selten von seinem kleinen Dörfchen nach Brüssel komme und auch jetzt abwesend sei. Um mich für meine Enttäuschung zu entschädigen, gab er mir Einführungen herzlichster Art an die anderen belgischen Künstler. So sah ich den greisen Meister Constantin Meunier, diesen heroischen Arbeiter und stärksten Bildner der Arbeit, und nach ihm van der Stappen, dessen Name in der Kunstgeschichte heute ziemlich verschollen ist. Aber doch, welch ein freundlicher Mann war er, dieser kleine, pausbackige Flame, und wie herzlich empfingen sie mich jungen Menschen, er und seine große, breite, heitere holländische Frau. Er zeigte mir seine Werke, wir sprachen lange an diesem hellen Vormittag von Kunst und Literatur, und die Güte dieser beiden Menschen nahm mir bald jede Scheu. Unverhohlen sagte ich ihnen mein Bedauern, in Brüssel gerade den zu versäumen, um dessentwillen ich eigentlich gekommen war: Verhaeren.
Hatte ich zuviel gesagt? Hatte ich etwas Törichtes gesagt? Jedenfalls bemerkte ich, daß sowohl van der Stappen als seine Frau leise zu lächeln begonnen hatten und sich verstohlene Blicke zuwarfen. Ich fühlte ein geheimes Einverständnis zwischen ihnen durch meine Worte erregt. Ich wurde befangen und wollte Abschied nehmen, aber beide wehrten sie ab, ich müsse zu Tisch bleiben, unbedingt. Wieder ging das seltsame Lächeln von Augenstern zu Augenstern. Ich fühlte, daß, wenn es hier ein Geheimnis gebe, dies ein freundliches sei, und verzichtete gern auf meine beabsichtigte Fahrt nach Waterloo.
Es war rasch Mittag, wir saßen schon im Speisezimmer – es lag zu ebener Erde wie in allen belgischen Häusern –, und man sah von dem Gemach aus durch die farbigen Scheiben auf die Straße, als plötzlich ein Schatten scharf vor dem Fenster stehenblieb. Ein Knöchel pochte an das bunte Glas, schroff schlug zugleich die Glocke an. »Le voilà!« sagte Frau van der Stappen und stand auf, und er trat ein, schweren starken Schritts: Verhaeren. Auf den ersten Blick erkannte ich das mir von den Bildern längst vertraute Gesicht. Wie so oft war Verhaeren auch diesmal bei ihnen Hausgast, und als sie hörten, daß ich ihn in der ganzen Gegend vergeblich gesucht, hatten sich beide mit einem raschen Blick verständigt, mir nichts davon zu sagen, sondern mich mit seiner Gegenwart zu überraschen. Und nun stand er mir gegenüber, lächelnd über den gelungenen Streich, den er vernahm. Zum erstenmal fühlte ich den festen Griff seiner nervigen Hand, zum erstenmal faßte ich seinen klaren, gütigen Blick. Er kam – wie immer – gleichsam geladen mit Erlebnis und Enthusiasmus ins Haus. Noch während er fest zupackte beim Essen, erzählte er schon. Er war bei Freunden gewesen und in einer Galerie und flammte noch ganz von dieser Stunde. Immer kam er so heim, von überall und von allem gesteigert am zufälligen Erlebnis, und diese Begeisterung war ihm eine heilige Gewohnheit geworden; wie eine Flamme schlug sie immer und immer wieder von den Lippen, und wunderbar wußte er mit scharfen Gesten das Gesprochene nachzuzeichnen. Mit dem ersten Wort griff er in die Menschen hinein, weil er ganz aufgetan war, zugänglich jedem Neuen, nichts ablehnend, jedem einzelnen bereit. Er warf sich gewissermaßen gleich mit seinem ganzen Wesen aus sich heraus einem entgegen, und wie in dieser ersten Stunde selbst, habe ich hundert- und hundertmal diesen stürmischen überwältigenden Anprall seines Wesens an andere Menschen beglückt miterlebt. Noch wußte er nichts von mir, und schon bot er mir Vertrauen, bloß weil er hörte, daß ich seinem Werke nahe war.
Nach dem Mittagessen kam zur ersten guten Überraschung die zweite. Van der Stappen, der schon lange sich und Verhaeren einen alten Wunsch erfüllen wollte, arbeitete seit Tagen an einer Büste Verhaerens; heute sollte die letzte Sitzung sein. Meine Gegenwart sei, sagte van der Stappen, eine freundliche Gabe des Schicksals, denn er brauche gerade jemanden, der mit dem allzu Unruhigen spreche, während er ihm Modell sitze, damit sich das Gesicht im Sprechen und Hören belebe. Und so sah ich zwei Stunden lang tief in dies Gesicht hinein, dies unvergeßliche, die hohe Stirn, schon siebenfach durchpflügt von Falten böser Jahre, darüber rostfarbig der Sturz des braunen Gelocks, hart das Gefüge des Gesichts und streng umspannt von bräunlicher, windgegerbter Haut, felsig vorstoßend das Kinn und über der schmalen Lippe groß und mächtig der hängende Vercingetorix-Schnurrbart. Die Nervosität, sie saß in den Händen, in diesen schmalen, griffigen, feinen und doch kräftigen Händen, wo die Adern stark unter der dünnen Haut pochten. Die ganze Wucht seines Willens stemmte sich vor in den breiten, bäuerischen Schultern, für die der nervige knochige Kopf fast zu klein schien; erst wenn er ausschritt, sah man seine Kraft. Wenn ich heute die Büste anblicke – nie ist van der Stappen Besseres gelungen als das Werk jener Stunde –, so weiß ich erst, wie wahr sie ist, und wie voll sie sein Wesen faßt. Sie ist Dokument einer dichterischen Größe, das Monument einer unvergänglichen Kraft.
In diesen drei Stunden lernte ich den Menschen schon so lieben, wie ich ihn dann mein ganzes Leben geliebt. In seinem Wesen war eine Sicherheit, die nicht einen Augenblick selbstgefällig wirkte. Er blieb unabhängig vom Geld, lebte lieber in einer ländlichen Existenz, statt eine Zeile zu schreiben, die nur dem Tag und der Stunde galt. Er blieb unabhängig vom Erfolg, mühte sich nicht, ihn durch Konzessionen und Gefälligkeiten und Camaraderie zu mehren – ihm genügten seine Freunde und deren treue Gesinnung. Er blieb unabhängig sogar von der gefährlichsten Versuchung eines Charakters, vom Ruhm, als dieser endlich zu dem auf der Höhe seines Lebens Stehenden kam. Er blieb offen in jedem Sinn, mit keiner Hemmung belastet, von keiner Eitelkeit verwirrt, ein freier, freudiger Mensch, leicht jeder Begeisterung hingegeben; wenn man mit ihm war, spürte man sich belebt in seinem eigenen Willen zum Leben.
Da stand er also leibhaftig vor mir, dem jungen Menschen – der Dichter, so wie ich ihn gewollt, so wie ich ihn geträumt. Und noch in dieser ersten Stunde persönlicher Begegnung war mein Entschluß gefaßt: diesem Manne und seinem Werk zu dienen. Es war ein wirklich verwegener Entschluß, denn dieser Hymniker Europas war damals in Europa noch wenig bekannt, und ich wußte im voraus, daß die Übertragung seines monumentalen Gedichtwerks und seiner drei Versdramen meiner eigenen Produktion zwei oder drei Jahre wegnehmen würde. Aber indem ich mich entschloß, meine ganze Kraft, Zeit und Leidenschaft dem Dienst an einem fremden Werke zu geben, gab ich mir selbst das Beste: eine moralische Aufgabe. Mein ungewisses Suchen und Versuchen hatte jetzt einen Sinn. Und wenn ich heute einen jungen Schriftsteller beraten sollte, der noch seines Weges ungewiß ist, würde ich ihn zu bestimmen suchen, zuerst einem größeren Werke als Darsteller oder Übertragender zu dienen. In allem aufopfernden Dienen ist für einen Beginnenden mehr Sicherheit als im eigenen Schaffen, und nichts, was man jemals hingebungsvoll geleistet, ist vergebens getan.
In diesen zwei Jahren, die ich fast ausschließlich daran wandte, die Gedichtwerke Verhaerens zu übertragen und ein biographisches Buch über ihn vorzubereiten, bin ich zwischendurch viel gereist, zum Teil auch, um öffentliche Vorträge zu halten. Und schon hatte ich einen unerwarteten Dank für die scheinbar undankbare Hingabe an das Werk Verhaerens; seine Freunde im Ausland wurden auf mich aufmerksam und bald auch meine Freunde. So kam eines Tages Ellen Key zu mir, diese wundervolle schwedische Frau, die mit einer Kühnheit ohnegleichen in jenen noch borniert widerstrebenden Zeiten für die Emanzipation der Frauen gekämpft und in ihrem Buch ›Das Jahrhundert des Kindes‹ lange vor Freud die seelische Verwundbarkeit der Jugend warnend gezeigt; durch sie wurde ich in Italien bei Giovanni Cena und seinem dichterischen Kreise eingeführt und gewann in dem Norweger Johan Bojer einen bedeutenden Freund. Georg Brandes, der internationale Meister der Literaturgeschichte, wandte mir sein Interesse zu, und bald begann in Deutschland dank meiner Werbung der Name Verhaerens schon bekannter zu sein als in seinem Vaterland. Kainz, der größte Schauspieler, und Moissi rezitierten öffentlich seine Gedichte in meiner Übertragung. Max Reinhardt brachte Verhaerens ›Kloster‹ auf die deutsche Bühne: ich durfte zufrieden sein.
Aber nun war es eigentlich Zeit, mich zu erinnern, daß ich noch eine andere Verpflichtung übernommen hatte als die gegen Verhaeren. Ich hatte endlich meine Universitätskarriere abzuschließen und den philosophischen Doktorhut heimzubringen. Jetzt hieß es, in ein paar Monaten den ganzen scholastischen Stoff aufzuarbeiten, an dem die solideren Studenten fast vier Jahre gewürgt: mit Erwin Guido Kolbenheyer, einem literarischen Jugendfreund, der heute daran vielleicht nicht gerne erinnert wird, weil er einer der offiziellen Dichter und Akademiker Hitlerdeutschlands geworden ist, büffelte ich die Nächte durch. Aber man machte mir die Prüfung nicht schwer. Der gütige Professor, der aus meiner öffentlichen literarischen Tätigkeit zuviel von mir wußte, um mich mit Kleinkram zu vexieren, sagte mir in einer privaten Vorbesprechung lächelnd: »Exakte Logik wollen Sie doch lieber nicht geprüft werden«, und führte mich dann in der Tat sachte auf die Gebiete, in denen er mich sicher wußte. Es war das erste Mal, daß ich eine Prüfung mit Auszeichnung bestand und, wie ich hoffe, auch das letzte Mal. Nun war ich äußerlich frei, und alle die Jahre bis auf den heutigen Tag haben nur dem – in unseren Zeiten immer härter werdenden – Kampf gegolten, innerlich ebenso frei zu bleiben.