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Ein Gewissen erhebt sich gegen die Gewalt

Immer sind jene Menschen, die am rücksichtslosesten die Meinung der andern zu vergewaltigen suchen, für ihre eigene Person die für jeden Widerspruch empfindlichsten. So betrachtet es auch Calvin als ungeheuerliche Ungerechtigkeit, daß sich die Welt erlaubt, die Hinrichtung Servets überhaupt in Diskussion zu ziehen, statt sie begeistert als eine fromme und gottgefällige Tat zu lobpreisen. Allen Ernstes fordert derselbe Mann, der eben erbarmungslos einen andern Menschen nur um einer prinzipiellen Meinungsverschiedenheit willen an langsamem Feuer zu Tode rösten ließ, nicht Mitgefühl für den Geopferten, sondern Mitleid für sich. »Kenntest Du nur den zehnten Teil der Schmähungen und Angriffe«, schreibt er an einen Freund, »denen ich ausgesetzt bin, Du würdest Mitleid mit meiner traurigen Lage haben. Von allen Seiten kläffen mich die Hunde an, alle erdenklichen Schmähungen werden auf mich gehäuft. Grimmiger als die öffentlichen Gegner aus dem papistischen greifen mich jetzt die Neider und Hasser aus dem eigenen Lager an.« Mit Verärgerung muß Calvin feststellen, daß man trotz seinen Bibelzitaten und Argumenten den Mord an Servet nicht schweigend anzuerkennen bereit ist; und diese Nervosität des schlechten Gewissens steigert sich zu einer Art Panik, sobald er erfährt, daß Castellio und seine Freunde in Basel eine Gegenschrift vorbereiten.

Der erste Gedanke eines tyrannischen Temperaments ist immer Unterdrückung, die Zensur und Knebelung jeder Gegenmeinung. Gleich auf die erste Nachricht hin eilt Calvin an das Schreibpult und bestürmt, ohne das Buch ›De haereticis‹ überhaupt zu kennen, im voraus die Schweizer Synoden, sie sollten es auf jeden Fall inhibieren. Nur keine Diskussion jetzt mehr! Genf hat gesprochen, Genava locuta est; alles, was jetzt andere zum Falle Servet äußern wollen, muß darum von vorneweg Irrtum, Unsinn, Lüge, Ketzerei, Gotteslästerung sein, da es ihm, Calvin, widerspricht. Emsig läuft die Feder: am 28. März 1554 schreibt er bereits an Bullinger, man habe soeben in Basel unter fingiertem Namen ein Buch gedruckt, in welchem Castellio und Curione beweisen wollten, daß man die Ketzer nicht mit Gewalt beseitigen solle. Eine solche Irrlehre dürfe nicht verbreitet werden, denn es bedeute »Gift, für Nachsicht einzutreten und damit zu leugnen, daß Häresien und Blasphemien bestraft werden sollen«. Rasch also einen Knebel her für die Botschaft der Toleranz! »Möge es Gott gefallen, daß die Pastoren dieser Kirche, wenn auch spät, so doch darüber wachen, daß dieses Unheil sich nicht weiter verbreite.« Aber nicht genug an diesem einen Appell; am nächsten Tage mahnt noch eindringlicher sein Nachsprecher Theodor de Beze: »Man hat den Namen Magdeburg auf den Titel gedruckt, aber dieses Magdeburg liegt, glaube ich, am Rhein: ich wußte schon lange, daß man dort solche Schandtat ausklügelt. Ich frage nun, was bleibt da noch aufrecht von der christlichen Religion, wenn man duldet, was dieser Verworfene in seiner Vorrede ausgespien hat.«

Aber schon ist es zu spät, der Traktat hat inzwischen die Denunziation überholt, und als jetzt das erste Exemplar nach Genf gelangt, lodert dort eine wahre Feuersbrunst des Entsetzens auf. Wie? Menschen haben sich gefunden, um die Humanität über die Autorität zu stellen? Andersdenkende sollen geschont und wie Brüder behandelt, statt auf den Scheiterhaufen geschleppt werden? jeder Christ und nicht nur Calvin allein solle wagen dürfen, die Heilige Schrift nach seinem Sinne zu deuten? Damit wäre ja die Kirche – Calvin meint selbstverständlich: seine Kirche – gefährdet. Auf ein Signal wird in Genf der Ketzerruf ausgestoßen. Eine neue Ketzerei, schreien sie in alle Winde, sei erfunden worden, eine ganz besonders gefährliche Ketzerei, der »Bellianismus« – so bezeichnen sie von nun ab die Lehre von der Toleranz in Glaubensdingen nach ihrem Apostel Martin Bellius (Castellio) –, rasch also dieses Höllenfeuer niedergetreten, ehe es sich auf Erden verbreitet! Und in seiner wirren Wut schreibt de Beze über die hier zum erstenmal proklamierte Forderung nach Toleranz: »Seit dem Beginn des Christentums sind solche Lästerungen nicht gehört worden!«

Sofort wird Kriegsrat in Genf gehalten: soll man antworten oder soll man nicht antworten? Der Nachfolger Zwinglis, Bullinger, den die Genfer so dringlich gebeten, das Buch rechtzeitig zu unterdrücken, mahnt aus Zürich klüglich ab: das Buch werde von selbst vergessen werden, man täte darum besser, gar nicht zu entgegnen. Aber Farel und Calvin in ihrer hitzigen Ungeduld bestehen auf einer öffentlichen Erwiderung. Und da Calvin nach den schlimmen Erfahrungen mit seiner ersten Verteidigung sich lieber im Hintergrund hält, betraut er einen seiner jüngeren Anhänger, Theodor de Beze, sich die theologischen Sporen und seinen Diktatordank mit einem schmetternden Angriff gegen die »satanische« Lehre der Toleranz zu verdienen.

 

Theodor de Beze, persönlich ein frommer und rechtschaffener Mann, der zum Lohn für viele Jahre gehorsamen Dienstes später Calvins Nachfolger geworden ist, überbietet Calvin noch – wie immer der unselbständige Geist den produktiven – in seinem frenetischen Haß gegen jeden Atemzug geistiger Freiheit. Von ihm stammt jenes furchtbare Wort, das seinen Namen für immer mit herostratischem Ruhm in der Geistesgeschichte belastet: die Freiheit des Gewissens sei eine Teufelslehre, »Libertas conscientiae diabolicum dogma«. Nur keine Freiheit! Lieber mit Feuer und Schwert die Menschen ausrotten, als die Überhebung selbständigen Denkens dulden; »besser, einen Tyrannen zu haben, und sei es einen noch so grausamen«, eifert de Beze schäumenden Mundes, »als die Erlaubnis, daß jeder nach seinem Sinne handeln dürfe ... Zu behaupten, man dürfe die Ketzer nicht bestrafen, ist, als ob man sagte, man solle Vater- und Muttermörder nicht töten, während doch die Ketzer noch tausendmal verbrecherischer sind als jene.« Nach dieser Probe schon mag man sich vorstellen, in welche Raserei sich die orthodoxe Borniertheit dieses überhitzten Pamphlets gegen den » Bellianismus« hineinredet. Wie? Diesen »als Menschen verkleideten Ungeheuern« (monstres déguisés en hommes«) solle am Ende noch mit Humanität begegnet werden? Nein – erst die Disziplin und dann erst die Humanität! Auf keinen Fall und um keinen Preis darf ein Führer einer Regung der Menschlichkeit nachgeben, wenn es die »Doktrin« gilt, denn nicht christlich, sondern teuflisch wäre eine solche «charité diabolique et non chrétienne«; zum ersten-, aber nicht zum letztenmal begegnet man hier der militanten Theorie, Menschlichkeit – die »crudelis humanitas«, wie de Beze formuliert – sei ein Verbrechen gegen die Menschheit, die nur durch eiserne Disziplin und unnachsichtige Strenge zu irgendeinem ideologischen Ziele geführt werden könne. Man darf nicht »ein paar reißende Wölfe schonen, wenn ihnen nicht die ganze gläubige Herde Christi ausgeliefert werden soll ... Pfui über diese angebliche Milde, die in Wahrheit äußerste Grausamkeit ist«, schreit de Beze in seinem Zelotismus den Bellianisten entgegen und beschwört die Obrigkeit, sie möge »tugendhaft mit dem Schwert zuschlagen« (»frapper vertueusement de ce glaive«). Denselben Gott, dessen Mitleid ein Castellio aus der Fülle seines eigenen Mitleids anruft, auf daß er endlich ein Ende setze diesen bestialischen Schlächtereien, fleht der Genfer Pastor mit der gleichen Inbrunst des Hasses an, er möge, nur damit dem Massaker nicht Einhalt geboten werde, »den christlichen Prinzen genug Seelengröße und Festigkeit verleihen, um diese Übeltäter gänzlich auszurotten«. Aber selbst eine solche Austilgung der Andersdenkenden scheint der geistigen Rachsucht de Bezes noch nicht grausam genug. Nicht nur getötet sollen die Ketzer werden, sondern ihre Hinrichtung soll auch denkbar martervoll sein, und im vorhinein schon entschuldigt de Beze jede noch ersinnbare Tortur mit dem frommen Wink: »Wenn sie nach dem Maße ihrer Verbrechen bestraft werden sollten, glaube ich, daß man kaum eine Marter finden könnte, welche dem ungeheuren Maß ihres Vergehens entsprechen würde.«

Widerwärtig, solche Hymnen an den Terror, solche grauenhafte Argumentationen der Anti-Humanität auch nur zu wiederholen! Aber es tut not, sie festzulegen und festzuhalten, Wort für Wort, um die Gefahr zu begreifen, in welche die protestantische Welt verfallen wäre, wenn sie sich tatsächlich von der Haßgier der Genfer Fanatiker in eine neue Inquisition hätte treiben lassen, und auch, um zu würdigen, was jene Tapferen und Besonnenen wagten, die sich diesen Besessenen des Ketzerwahns entgegenwarfen – freilich unter Gefahr und Aufopferung ihres Lebens. Denn um die Idee der Toleranz rechtzeitig »unschädlich« zu machen, stellt in seinem Libell de Beze tyrannisch die Forderung auf, jeder Freund der Toleranz, jeder Anwalt des »Bellianismus« solle von nun ab als »Feind der christlichen Religion« als Ketzer behandelt, das heißt verbrannt werden. »Man soll an ihrer Person jenen Punkt der These zur Anwendung bringen, die ich hier vertrete, daß Gottesleugner und Ketzer von den Behörden bestraft werden sollen.« Und damit Castellio und seine Freunde nicht im unklaren seien, was sie erwarte, wenn sie weiterhin die um ihrer Gesinnung willen Gejagten verteidigten, droht de Beze mit geballter Faust, auch der fälschlich angegebene Druckort und das vorgeschobene Pseudonym werde sie nicht »vor der Verfolgung retten, denn jeder weiß, wer Ihr seid und was Ihr vorhabt ... Ich warne Euch rechtzeitig, Bellius und Montfort, und Euren ganzen Klüngel«.

 

Man sieht: nur scheinbar ist das Libell de Bezes eine akademische Auseinandersetzung; sein wahrer Sinn liegt in dieser Drohung. Die verhaßten Verteidiger geistiger Freiheit sollen endlich wissen, daß sie mit jeder weiteren Aufforderung zur Menschlichkeit ihr Leben wagen, und in seiner Ungeduld, ihr Haupt Sebastian Castellio unvorsichtig zu machen, beschuldigt de Beze provokatorisch diese Mutigsten der Feigheit. »Er«, höhnt er, »der sich sonst so kühn und verwegen gebärdet, zeigt sich in diesem Buche, das nur von Mitleid und Milde spricht, so feige und ängstlich, daß er nur verhüllt und maskiert wagt, seinen Kopf herauszustrecken.« Vielleicht hofft er, Castellio werde vor der Gefahr, sich offen zu nennen und zu bekennen, nun vorsichtig zurückschrecken; aber Castellio nimmt die Herausforderung an. Gerade daß die Genfer Orthodoxie jetzt ihre verwerfliche Tat zu einem Dogma und zu einer Praxis erheben will, zwingt diesen leidenschaftlichen Friedensfreund in den offenen Krieg. Er hat erkannt, daß die entscheidende Stunde zur Tat gekommen ist. Wird das Verbrechen an Servet nicht vor das Tribunal der ganzen Menschheit zur letzten Entscheidung getragen, so würden an diesem einen Brandstoß sich Hunderte und Tausende entzünden, und was bis jetzt eine einzelne Mordhandlung gewesen, zu einem mörderischen Prinzip sich versteinern. Entschlossen wirft Castellio seine eigene künstlerische und gelehrte Arbeit beiseite, um das »J'accuse« seines Jahrhunderts zu schreiben, die Anschuldigung gegen Jehan Calvin um eines religiösen Mordes willen, begangen auf dem Platz zu Champel an Miguel Servet. Und diese öffentliche Anklage ›Contra libellum Calvini‹, obzwar gegen einen einzelnen gerichtet, wird dank ihrer moralischen Kraft zu einer der großartigsten Kampfschriften gegen jedweden Versuch, das Wort zu vergewaltigen durch das Gesetz, die Gesinnung durch eine Doktrin und das ewig freigeborene Gewissen durch die ewig verächtliche Gewalt.

 

Seit Jahren und Jahren kennt Castellio seinen Gegner und kennt darum auch seine Methoden. Er weiß, daß Calvin jeden Angriff auf seine Person in einen Angriff gegen die »Lehre«, die Religion und sogar gegen Gott umdeuten wird. Darum präzisiert Castellio von Anfang an, daß er in seiner Schrift ›Contra libellum Calvini‹ die Thesen Servets weder vertrete noch verurteile und sich keineswegs in religiöse oder exegetische Fragen einlassen wolle, sondern daß er einzig Klage erhebe gegen den Mann Jehan Calvin, der einen andern Mann, Miguel Servet, getötet habe. Mit dem festen Entschluß, von vornherein keine sophistische Verdrehung zu dulden, legt er klar wie ein Jurist gleich in den Anfangsworten die Causa dar, die er zu führen gedenkt. »Jehan Calvin«, so beginnt er seine Anklageschrift, »erfreut sich heute einer großen Autorität und ich wünschte ihm eine noch größere, würde ich ihn von sanfter Gesinnung beseelt sehen. Aber seine letzte Handlung war eine blutige Hinrichtung und die Bedrohung vieler frommer Menschen. Deshalb unternehme ich es, der ich das Blutvergießen verabscheue (sollte das nicht alle Welt tun?), seine Absicht mit Hilfe Gottes vor der ganzen Welt zu entschleiern und wenigstens einige, die er zu seiner falschen Ansicht verleitet, von ihrem Irrtum zurückzuführen.

Am 27. Oktober des vorigen Jahres, 1553, hat man um seiner religiösen Überzeugung willen den Spanier Michael Servet in Genf auf Betreiben Calvins, des Pastors der dortigen Kirche, verbrannt. Diese Hinrichtung hat viele Proteste, besonders in Italien und Frankreich, hervorgerufen, und als Antwort auf diese Beschwerden hat Calvin soeben ein Buch herausgegeben, das allem Anschein nach auf das geschickteste gefärbt ist und sich zum Ziele setzt, sich selbst zu rechtfertigen, Servet zu bekämpfen und überdies zu beweisen, daß er der Todesstrafe schuldig war. Dieses Buch will ich einer kritischen Prüfung unterziehen. Seiner Gewohnheit gemäß wird mich Calvin vielleicht sogar einen Schüler Servets nennen, dadurch lasse sich aber niemand irreführen. Ich verteidige nicht die Thesen Servets, sondern ich greife die falsche These Calvins an. Ich lasse vollkommen alle Diskussion über die Taufe, die Dreieinigkeit und jede derartige Frage beiseite, ich besitze auch nicht die Bücher Servets, da Calvin sie verbrannt hat, und weiß also gar nicht, welche Ideen jener vertreten hat. Nur in jenen andern Punkten, welche sich nicht auf solche prinzipielle Meinungsverschiedenheiten beziehen, werde ich die Irrtümer Calvins dartun, und jeder kann sehen, wer dieser Mann ist, den das Blut verwirrt gemacht hat. Ich werde nicht gegen ihn so handeln, wie er gegen Servet gehandelt, den er zuerst lebendig mit seinen Büchern verbrennen ließ und ihn nun, da er tot ist, noch beschimpft. Wenn sein Gegner, nachdem er die Bücher mit ihrem Verfasser verbrennen ließ, nun die Kühnheit hat, uns auf diese Bücher zu verweisen, indem er einzelne Seiten daraus zitiert, so ist dies ein Vorgehen, als ob ein Brandstifter, nachdem er ein Haus in Asche gelegt hat, uns dann aufforderte, die Einrichtungsgegenstände in den einzelnen Räumen nachzusehen. Was uns betrifft, werden wir niemals einen Verfasser, niemals ein Werk verbrennen. Das Buch, das wir bekämpfen, kann jeder lesen, es liegt in zwei Ausgaben vor, einer lateinischen und einer französischen, und damit kein Einwand möglich sei, werde ich immer jeden Paragraphen aufzählen, den ich wiedergeben will, und meine Antworten unter demselben mit der gleichen entsprechenden Ziffer vermerken.«

Rechtschaffener kann man eine Diskussion nicht führen. Calvin hat in seinem gedruckten Buch seinen Standpunkt eindeutig festgelegt, und dieses jedem zugängliche Dokument verwertet Castellio, wie ein Untersuchungsrichter die protokollierte Aussage eines Angeschuldigten. Wort für Wort schreibt er das ganze Buch Calvins nochmals ab, damit niemand behaupten könne, er hätte die Meinung seines Gegners irgendwie verfälscht oder verändert; und um von vornherein bei dem Leser den Verdacht auszuschalten, er habe durch absichtliche Kürzungen den Text Calvins entstellt, numeriert er jeden einzelnen Satz Calvins. Bedeutend gerechter wird also dieser zweite geistige Prozeß in Sachen Servet geführt als jener erste in Genf, wo der Angeklagte in einem Kellerloch frierend verschlossen und ihm jeder Zeuge und jeder Verteidiger versagt war. Frei und vor dem Zublick der ganzen humanistischen Welt soll hier die Causa Servet als eine moralische Entscheidung zum Austrag kommen.

Der Tatbestand ist klar und unbestreitbar. Ein Mann, der sich noch, als die Flammen ihn umzüngelten, mit vernehmlicher Stimme als unschuldig bekannte, ist in grausamster Weise auf Betreiben Calvins und im Auftrag des Genfer Magistrats hingerichtet worden. Nun stellt Castellio die entscheidenden Fragen: Welches Vergehen hat Miguel Servet eigentlich begangen? Wie durfte Jehan Calvin, der doch kein Staatsamt bekleidete, sondern nur ein geistliches, diese rein theologische Angelegenheit dem Magistrat überweisen? Hatte der Genfer Magistrat das Recht, Servet wegen dieses angeblichen Vergehens zu verurteilen? Und schließlich – auf welche Autorität hin und nach welchem Gesetz ist die Todesstrafe über diesen ausländischen Theologen verhängt worden?

 

Zur ersten Frage prüft Castellio das Protokoll, die eigene Aussage Calvins, um zunächst festzustellen, welchen Vergehens Calvin eigentlich Miguel Servet bezichtige. Und er findet keine andere Anschuldigung, als daß Servet nach Ansicht Calvins »in kühner Weise das Evangelium entstellt habe und von einem unerklärlichen Verlangen nach Neuerungen getrieben gewesen sei«. Calvin also beschuldigt Servet keines anderen Verbrechens, als in selbständiger und eigenwilliger Weise die Bibelauslegung betrieben zu haben und dabei zu anderen Folgerungen gelangt zu sein als er in seiner eigenen Kirchenlehre. Aber sofort schlägt Castellio zurück. War Servet der einzige, der solche eigenwillige Ausdeutung des Evangeliums im Räume der Reformation geübt? Und wer wagt zu behaupten, daß er damit gegen den wahren Sinn der neuen Lehre verstoßen? War diese individuelle Deutung nicht sogar eine Grundforderung der Reformation gewesen, und was anderes haben die Führer der evangelischen Kirche getan, als diese Neuauslegung in Wort und Schrift durchzusetzen? Und ist nicht Calvin und gerade Calvin mit seinem Freunde Farel der Kühnste und Entschlossenste bei diesem Umbau und Neubau der Kirche gewesen, »nicht nur, daß er sich einer wahren Ausschweifung von Neuerungen hingegeben hat, er hat sie sogar allen derart aufgezwungen, daß es schon sehr gefährlich ist, ihm zu widersprechen. Er hat in zehn Jahren de facto mehr Neuerungen eingeführt als die katholische Kirche in sechs Jahrhunderten«; wenn irgendeiner, so hat Calvin als der verwegenste Reformator nicht das Recht, neue Deutungen innerhalb der protestantischen Kirche ein Verbrechen zu nennen und zu verurteilen.

Aber aus der Selbstverständlichkeit seiner Unfehlbarkeit betrachtet Calvin seine Ansichten als die richtigen und jede andere Meinung als die falsche. Und hier setzt Castellio sofort mit der zweiten Frage ein: Wer hat Calvin zum Richter eingesetzt über Wahr und Unwahr? »Calvin bezeichnet natürlich alle jene Schriftsteller als von schlechter Gesinnung beseelt, die sich nicht zu Nachrednern seiner Doktrin machen. Darum verlangt er, daß man sie nicht nur am Schreiben, sondern auch am Reden verhindere, so daß nur er allein das Recht besitzen solle, das vorzubringen, was er für richtig hält.« Doch gerade dies will Castellio ein für allemal bestreiten, daß irgendein Mensch oder eine Partei den Anspruch erheben könne, zu sagen: wir allein wissen um die Wahrheit, und jede andere Meinung ist Irrtum. Alle Wahrheiten, insbesondere aber die religiösen, seien bestreitbar und vieldeutig, »darum ist es anmaßend, über die Geheimnisse, die Gott allein angehören, mit solcher Rechthaberei zu streiten, als ob wir teilhätten an seinen verborgensten Plänen, und es ist Hochmut, sich eine Gewißheit über Dinge vorzutäuschen und vorzuspiegeln, von denen wir im Grunde nichts wissen«. Seit Anfang der Welt ist alles Unheil von den Doktrinären gekommen, die unduldsam ihre Meinung und Weltanschauung als die einzige erklären. Nur diese Fanatiker des Einheitsdenkens und Einheitshandelns verwirren mit ihrer selbstherrlichen Streitlust den Frieden auf Erden und verwandeln das natürliche Nebeneinander der Ideen in ein Gegeneinander und in mörderischen Zwist. Als einen solchen Anstifter zu geistiger Unduldsamkeit klagt nun Castellio Calvin an: »Alle Sekten erbauen ihre Religionen auf Gottes Wort und alle halten die ihre für richtig. Nach der Auffassung Calvins müßte also eine die andere verfolgen. Selbstverständlich behauptet Calvin, seine Lehre sei die richtige. Aber die andern behaupten das gleiche. Er sagt, daß die andern irren; die andern behaupten das gleiche von ihm. Calvin will Richter sein: die andern auch. Wie wäre da eine Entscheidung zu treffen? Aber wer hat Calvin zum obersten Schiedsrichter über alle andern mit dem ausschließlichen Recht, die Todesstrafe zu verhängen, eingesetzt? Auf welches Zeugnis stützt er sein Richtermonopol? Darauf, daß er Gottes Wort besitzt. Aber die andern behaupten das auch. Oder darauf, daß seine Lehre unbestreitbar sei. Unbestreitbar aber in wessen Augen? In seinen eigenen, in denen Calvins. Warum aber schreibt er dann so viele Bücher, wenn in Wahrheit die Wahrheit, die er verkündigt, so offenkundig ist? Warum hat er nicht ein einziges Buch geschrieben, um zu beweisen, daß etwa der Mord oder der Ehebruch ein Verbrechen sei? Weil diese Sachen doch jedem klar sind. Wenn Calvin tatsächlich alle geistige Wahrheit durchdrungen und entschleiert hat, warum gewährt er dann nicht auch den andern ein wenig Zeit, sie gleichfalls zu begreifen? Warum schlägt er sie von vorneweg nieder und nimmt ihnen damit die Möglichkeit, sie anzuerkennen?«

Festgestellt ist damit nun schon ein Erstes und Entscheidendes: Calvin hat sich in geistigen und geistlichen Dingen ein Richteramt angemaßt, zu dem er keinerlei Recht besaß. Ihm wäre die Aufgabe zugefallen, Servet, wenn er dessen Meinungen für unrichtig erachtete, über seinen Irrtum aufzuklären und zu bekehren. Aber statt sich gütlich auseinanderzusetzen, hat er sofort zur Gewalt gegriffen. »Deine erste Tat war die Verhaftung, du hast Servet eingesperrt, und du hast aus dem Prozesse nicht nur jeden Freund Servets, sondern auch alle ausgeschaltet, die nicht seine Gegner waren.« Er hat nur die alte und ewige Diskussionsmethode geübt, deren sich immer die Doktrinäre bedienen, wenn ihnen eine Diskussion peinlich wird: daß sie sich selber die Ohren verschließen und den andern den Mund knebeln; aber immer verrät das Sich-Verstecken hinter die Zensur am sichersten die seelische Unsicherheit bei einem Menschen oder bei einer Lehre. Und als ob er sein eigenes Schicksal vorausgeahnt hätte, ruft Castellio Calvin zur moralischen Verantwortung. »Ich frage dich, Herr Calvin, wenn du mit jemand einen Prozeß in einer Erbsache hättest und dein Gegner erreichte vom Richter, daß er ihn allein sprechen ließe, während er dir verbieten würde, das Wort zu ergreifen, würdest du dich da nicht auflehnen gegen diese Ungerechtigkeit? Warum tust du den andern, wovon du selbst nicht wolltest, daß man es dir tue? Wir stehen hier in einer Auseinandersetzung über den Glauben, warum verschließest du uns den Mund? Bist du so sehr von der Armseligkeit deiner Sache überzeugt, befürchtest du so sehr, besiegt zu werden und deine Macht als Diktator zu verlieren?«

Damit ist die prinzipielle Anklage gegen Calvin eigentlich schon formuliert. Er hat sich, gestützt auf seine staatliche Macht, das Recht angemaßt, allein in göttlichen, sittlichen und weltlichen Dingen zu entscheiden. Dadurch hat er einen Übergriff gegen das göttliche Recht begangen, das jedem Menschen sein Gehirn zum selbständigen Denken, seinen Mund zur Rede und sein Gewissen als letzte innere moralische Instanz zugeteilt hat; und er hat einen Übergriff begangen gegen jedes irdische Recht, indem er nur um einer abweichenden Meinung willen einen Menschen wie einen gemeinen Verbrecher verfolgen ließ.

 

Einen Augenblick unterbricht Castellio nun seinen Prozeß, um einen Zeugen vorzurufen. Ein allgemein bekannter Theologe soll gegen den Prediger Jehan Calvin feststellen, daß jede behördliche Verfolgung bloß geistiger Delikte nach den göttlichen Gesetzen unerlaubt sei. Dieser große Gelehrte aber, dem Castellio das Wort erteilt, ist peinlicherweise niemand anderer als Calvin selbst. Sehr gegen den eigenen Willen wird dieser Zeuge in die Debatte gezogen. »Indem Calvin feststellt, daß alles verwirrt sei, beeilt er sich, die andern anzuklagen, damit man ihn selber nicht verdächtige. Aber es ist klar, daß nur eines diese Verwirrung hervorgebracht hat, nämlich seine Haltung als Verfolger. Die einzige Tatsache, daß er Servet verurteilen ließ, hat nicht nur in Genf, sondern in ganz Europa Ärgernis hervorgerufen und alle Länder in Unruhe versetzt; jetzt sucht er die Schuld für das, was er selber getan hat, den andern zuzuschieben. Aber einst, als er noch selber zu jenen gehörte, die Verfolgung erlitten, führte er eine andere Sprache; damals schrieb er noch lange Seiten gegen solche Verfolgungen, und damit niemand dies bezweifle, schreibe ich hier eine Seite seiner ›Institutio‹ ab.«

Und nun zitiert Castellio die Worte aus der ›Institutio‹, Worte des Calvin von einstmals, für die der Calvin von heute den Autor wahrscheinlich verbrennen ließe. Denn mit keiner Silbe weicht dieser einstige Calvin von der These ab, die nun Castellio gegen ihn vertritt; wortwörtlich steht in der Erstausgabe der ›Institutio‹, es sei »verbrecherisch, die Ketzer zu töten. Sie durch Eisen und Feuer zugrunde gehen zu lassen, hieße jedes Prinzip der Humanität verleugnen.« Freilich, kaum zur Herrschaft gelangt, hatte Calvin schleunigst dies Bekenntnis zur Humanität aus seinem Werke gestrichen. In der zweiten Ausgabe der ›Institutio‹ sind sie schon geändert und in ihrer klaren entscheidenden Haltung verschwunden; wie Napoleon als Konsul und Kaiser höchst sorgfältig das jakobinische Pamphlet seiner Jugend, so hat dieser Kirchenführer, kaum daß er aus einem Verfolgten selber ein Verfolger wurde, dieses sein Bekenntnis zur Nachsicht für immer unauffindbar machen wollen. Aber Castellio läßt Calvin nicht sich selber entflüchten. Wortwörtlich wiederholt er die Zeilen aus der ›Institutio‹ und weist mit dem Finger darauf hin. »jetzt vergleiche jedermann diese erste Erklärung Calvins mit seinen Schriften und Taten von heute, und man wird sehen, daß seine Gegenwart und seine Vergangenheit voneinander so verschieden sind wie das Licht und das Dunkel. Weil er Servet hinrichten ließ, will er nun, daß alle so zugrunde gehen, die verschiedener Meinung mit ihm sind. Er verleugnet die Gesetze, die er selber aufgestellt hat, und fordert den Tod ... Wundert man sich jetzt, daß Calvin die andern zum Tode bringen will aus Furcht, daß sie seine Unstetigkeit und seine Wandlungen zu offenbar machen und ins rechte Licht setzen könnten? Weil er schlimm gehandelt hat, fürchtet er die Klarheit.«

Aber gerade diese Klarheit will Castellio. Ohne jede Zweideutigkeit soll Calvin der Welt nun endlich darlegen, aus welchen Gründen er, der einstige Anwalt der Meinungsfreiheit, Miguel Servet unter den grausamsten Qualen auf dem offenen Marktplatz von Champel verbrennen ließ: und unerbittlich beginnt von neuem das Verhör.

 

Zwei Fragen sind schon erledigt. Der Tatbestand hat erstens ergeben, daß Miguel Servet kein anderes als ein geistiges Delikt begangen hat, und zweitens, daß eine Abweichung von der gültigen Auslegung niemals als gemeines Verbrechen gewertet werden darf. Warum nun, fragt Castellio, hat dann Calvin als ein Prediger der Kirche in einer rein theoretischen und abstrakten Angelegenheit die weltliche Behörde zur Unterdrückung der Gegenmeinung angerufen? Zwischen geistigen Menschen haben geistige Dinge nur auf geistige Weise ausgetragen zu werden. »Hätte Servet dich mit Waffen bekämpft, so wäre es dein Recht gewesen, den Rat zu Hilfe zu rufen. Da er aber nur mit der Feder dich bekämpft hat, warum bist du gegen seine Schriften mit Eisen und Schwert vorgegangen? So sag doch, warum hast du dich hinter den Magistrat gesteckt?« Der Staat hat keinerlei Autorität in innerlichen Gewissensfragen, »es ist nicht Angelegenheit des Magistrats, theologische Lehren zu verteidigen, das Schwert hat nichts zu tun mit der Lehre, die Lehre ist ausschließlich eine Sache der Gelehrten. Der Magistrat hat den Gelehrten nicht anders zu beschützen als einen Werkmann, einen Arbeiter, einen Arzt oder einen Bürger, wenn ihm leibliches Unrecht geschieht. Nur wenn Servet Calvin hätte töten wollen, nur dann hätte der Magistrat recht gehandelt, Calvin zu verteidigen. Da aber Servet nur mit Schriften und Vernunftsgründen gekämpft hat, durfte man ihn nicht anders zur Verantwortung ziehen als wieder durch Vernunftsgründe und Schriften.«

Unwiderleglich weist nun Castellio jeden Versuch Calvins zurück, seine Tat durch ein höheres, göttliches Gebot zu rechtfertigen: für Castellio gibt es keinerlei göttliches, kein christliches Gebot, das den Mord eines Menschen befiehlt. Wenn Calvin in seiner Schrift versucht, sich auf das mosaische Gesetz zu stützen, das verlange, man solle Falschgläubige mit Feuer und Schwert ausrotten, antwortet Castellio grimmig und scharf: »Aber wie in Gottes Namen will Calvin dieses Gesetz ausführen, das er da anruft? Müßte er dann nicht in allen Städten Wohnungen, Häuser, Vieh und Hausgerät zerstören und, wenn er eines Tages genug militärische Kräfte hätte, Frankreich und alle übrigen Nationen überfallen, die er doch für ketzerisch hält, und Städte dem Erdboden gleichmachen, Menschen vernichten, Kinder und Frauen und sogar die Kinder im Mutterleib umbringen?« Wenn Calvin zu seiner Rechtfertigung vorbringt, es hieße den Leib der christlichen Lehre verderben, sobald man nicht den Mut habe, ein faules Glied davon abzuschneiden, so erwidert Castellio: »Diese Abtrennung des Ungläubigen von der Kirche ist eine priesterliche Angelegenheit und bedeutet nur, daß man den Ketzer exkommunizieren und aus der Gemeinde ausstoßen, nicht aber ihm das Leben nehmen solle.« Nirgends im Evangelium und in keinem sittlichen Buche der Welt sei eine solche Intoleranz verlangt. »Wirst du am Ende sagen, es sei Christus, der dich gelehrt habe, Menschen zu verbrennen?« schleudert er Calvin entgegen, der »mit dem Blute Servets auf den Händen« diese seine verzweifelte Apologie hinschreibe. Und da Calvin immer und immer wieder darauf beharrt, er sei genötigt gewesen, Servet zu verbrennen, um die Lehre zu verteidigen, um das Wort Gottes zu schützen, da er immer und immer wieder, wie alle Gewalttäter, seine Gewalttat mit einem andern, übergeordneten, überpersönlichen Interesse zu entschuldigen sucht, da fährt ihm – und es ist wie ein erhellender Blitz in der Nacht eines dunklen Jahrhunderts – Castellios unvergängliches Wort entgegen: »Einen Menschen töten heißt niemals, eine Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten. Als die Genfer Servet hinrichteten, haben sie keine Lehre verteidigt, sondern einen Menschen geopfert; aber man bekennt sich nicht zu seinem Glauben, indem man einen andern Menschen verbrennt, sondern nur, indem man sich selbst für diesen Glauben verbrennen läßt.«

 

»Einen Menschen töten heißt niemals, eine Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten« – herrliches, in seiner Wahrheit und Klarheit unvergängliches und allerhumanstes Wort. Mit diesem einen wie aus hartem Erz gehämmerten Satz hat Sebastian Castellio für alle Zeiten jeder weltanschaulichen Verfolgung das Urteil gesprochen. Was immer für ein logischer, ethischer, nationaler oder religiöser Vorwand vorgetäuscht oder vorgeschoben werde, um die Beiseiteschaffung eines Menschen zu rechtfertigen, keiner dieser Gründe entlastet den Menschen, der die Tat begangen oder befohlen, von seiner persönlichen Verantwortung. Immer ist einer schuldig für Blutschuld, und niemals läßt sich ein Mord durch eine Weltanschauung rechtfertigen. Wahrheiten lassen sich verbreiten, aber sie lassen sich nicht erzwingen. Keine Lehre wird richtiger, keine Wahrheit wahrer, wenn sie schreit und eifert, keine läßt sich durch eine gewalttätige Propaganda über den individuellen Raum ihres Wesens künstlich hinaussteigern. Aber noch weniger wird eine Lehre, eine Weltanschauung wahrer, wenn sie Menschen, die ihr aus innerlicher Gesinnung widerstreben, verfolgt. Überzeugungen sind individuelle Erlebnisse und Ereignisse, niemandem Untertan als dem Individuum, dem sie zugehören; sie lassen sich nicht reglementieren und korporalisieren, und mag sich tausendmal auch eine Wahrheit auf Gott berufen und sich eine heilige nennen, niemals darf sie sich für berechtigt halten, das Heiligtum eines gottgeschaffenen Menschenlebens zu zerstören. Während es für Calvin, den Dogmatiker, den Parteimenschen, nebensächlich bleibt, ob vergängliche Menschen um der Idee willen, die er für unvergänglich hält, zugrunde gehen, ist für Castellio jeder Mensch, der für seine Überzeugung leidet und stirbt, ein unschuldig hingeschlachtetes Opfer. Aber Zwang in geistigen Dingen ist für ihn nicht nur Verbrechen wider den Geist, sondern auch ein vergebliches Bemühen. »Vergewaltigen wir niemanden! Denn der Zwang hat noch niemals einen Menschen besser gemacht. Diejenigen, welche die Menschen zu einem Glauben zwingen wollen, handeln so sinnwidrig wie jemand, der mit einem Stock gewalttätig Nahrung einem Kranken in den Mund stoßen wollte.« Ein für allemal darum ein Ende mit aller Unterdrückung der Andersdenkenden! »Nimm endlich deinen Amtspersonen das Recht auf Gewalttätigkeit und Verfolgung! Gib jedem, wie der heilige Paulus es verlangt, das Recht zu reden und zu schreiben, und bald wirst du erkennen, wie viel die Freiheit, einmal vom Zwange erlöst, auf Erden vermag!«

 

Die Fakten sind alle geprüft, die Fragen beantwortet; nun fällt Sebastian Castellio im Namen der beleidigten Menschlichkeit – und die Geschichte hat es unterzeichnet – das Urteil. Ein Mann, namens Miguel Servet, ein Gottsucher, ein étudiant de la Sainte Escripture ist getötet worden – angeklagt sind dieses Mordes Calvin als der geistige Urheber des Prozesses und der Magistrat von Genf als die vollstreckende Behörde. Die moralische Revision hat nun den Fall geprüft und stellt fest: beide Instanzen, die geistliche wie die weltliche, haben in diesem Fall ihre Befugnisse überschritten. Schuldig ist der Magistrat eines Übergriffes, »denn er ist nicht berufen, Recht zu sprechen über ein geistiges Vergehen«. Und noch schuldiger ist Calvin, der ihm diese Verantwortung angelastet. »Auf dein Zeugnis und auf das deiner Komplizen hin hat der Magistrat einen Menschen getötet. Und der Magistrat war ebenso unfähig, in dieser Sache zu entscheiden oder zu unterscheiden, wie ein Blinder die Farben.« Calvin ist zwiefach schuldig: er ist schuldig sowohl der Anordnung als auch der Vollstreckung dieser verabscheuungswürdigen Tat. Gleichgültig, aus welchen Motiven er diesen Unglücklichen in den Feuerbrand stoßen ließ, seine Tat war eine Untat. »Entweder hast du Servet hinrichten lassen, weil er das dachte, was er sagte, oder weil er seiner innern Überzeugung gemäß sagte, was er dachte. Wenn du ihn getötet hast, weil er seiner innern Überzeugung Ausdruck gab, dann hast du ihn um der Wahrheit willen getötet, denn die Wahrheit besteht darin, daß man, selbst wenn man im Irrtum ist, das ausspricht, was man denkt. Hast du ihn aber bloß um einer irrigen Anschauung willen töten lassen, so wäre es zuvor deine Pflicht gewesen, zu versuchen, ihn für die richtigen Anschauungen zu gewinnen oder ihm, den Text in der Hand, zu beweisen, daß man alle, die sich guten Glaubens im Irrtum befinden, hinrichten müsse.« Calvin aber hat getötet, hat unberechtigt den Widersprecher beseitigt; darum ist er schuldig, schuldig, schuldig des vorbedachten Mords ...

 

Schuldig, schuldig, schuldig; dreimal dröhnend mit dem harten metallenen Klang der Posaune ist das Urteil in die Zeit verkündet; die letzte, die höchste moralische Instanz, die Menschlichkeit, hat entschieden. Aber was hilft es, die Ehre eines Toten zu retten, dem keine Sühnung wieder ins Licht hilft: es gilt, die Lebendigen zu beschirmen und. indem man einen Akt der Unmenschlichkeit brandmarkt, unzählige andere zu verhindern. Nicht nur der Mann Jehan Calvin allein soll verurteilt sein, sondern auch sein Buch mit der fürchterlichen Doktrin des Terrors und der Unterdrückung. »Siehst du denn nicht ein«, fährt Castellio den Schuldigen an, »wohin dein Buch und deine Taten führen? Es gibt viele, die behaupten, die Ehre Gottes zu verteidigen, aber jetzt werden sie, wenn sie Menschen hinschlachten wollen, sich auf dein Zeugnis berufen können. Deinem verhängnisvollen Wege folgend, werden sie sich wie du mit Blut beflecken. Wie du werden sie alle jene hinrichten lassen, die anderer Meinung als sie sind.« Nicht die einzelnen Fanatiker an sich sind gefährlich, sondern der Unheilgeist des Fanatismus; nicht nur die Menschen also, die hart und rechthaberisch und blutgierig sind, muß der Geistige bekämpfen, sondern auch jedwede Idee, wenn sie sich terroristisch gebärdet, denn – prophetische Ahnung eines Mannes beim Anhub eines hundertjährigen Glaubenskrieges – »selbst die grausamsten Tyrannen werden mit ihren Kanonen nicht so viel Blut vergießen, als ihr durch eure blutrünstigen Beschwörungen vergossen habt und in nächster Zeit noch vergießen werdet, es sei denn, daß Gott sich des irdischen Geschlechts erbarme und den Fürsten und Behörden die Augen öffne, damit sie sich endlich ihrem blutigen Handwerk weigern«. Und wie in seiner milden Botschaft der Toleranz Sebastian Castellio angesichts des Leidens der Gehetzten und Gejagten schließlich nicht mehr gelassen zu bleiben vermochte, wie er dort die Stimme zu Gott erhob in einem verzweifelten Gebet um mehr Menschlichkeit auf Erden, so steigert sich in diesem Kampfbuche sein Wort zu einem erschütternden Fluch gegen alle, die mit ihrem rechthaberischen Haß den Frieden der Welt verstören; in Blitz und Donner edelsten Zornes gegen allen Fanatismus endet sein Buch mit dem großen Abgesang: »Diese Infamie der religiösen Verfolgungen wütete schon zu Zeiten Daniels, und als man nichts Angreifbares in seiner Lebensführung fand, da sagten seine Feinde: wir müssen ihn angreifen bei seiner Überzeugung. Genau so handelt man heute. Wenn man einen Feind nicht bei seinem sittlichen Verhalten fassen kann, hält man sich an die ›Lehre‹, und dies ist sehr geschickt, denn die Behörden, die in diesem Falle kein eigenes Urteil haben, lassen sich da leichter überzeugen. Auf diese Art unterdrückt man die Schwächeren, während man laut die Parole von der ›Heiligen Lehre‹ erklingen läßt. Ah, ihre ›Heilige Lehre‹ – wie wird Christus sie am Tage des Jüngsten Gerichts verabscheuen! Er wird Rechenschaft fordern über den Lebenswandel, nicht über die Lehre; und wenn sie ihm sagen werden: ›Herr, wir waren mit dir, wir haben in deinem Sinn gelehrt‹, dann wird er ihnen antworten: ›Hinweg mit euch, ihr Verbrecher!‹

Oh, ihr Blinden, oh, ihr Verblendeten, oh, ihr blutrünstigen und unheilbaren Heuchler! Wann werdet ihr die Wahrheit endlich erkennen, und wann werden die irdischen Richter aufhören, nach eurer Willkür blind das Blut der Menschen zu vergießen!«


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