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Einen Diktator fürchten heißt noch keineswegs ihn lieben, und wer einem Terror sich äußerlich unterwirft, erkennt darum noch lange nicht seine Berechtigung an. Freilich: in den ersten Monaten nach seiner Rückkehr ist die Bewunderung für Calvin bei Bürgern und Behörden noch einhellig. Alle Parteien scheinen zu ihm zu stehen, seit es nur eine Partei gibt, und die meisten geben sich zunächst begeistert dem Rausch der Vereinheitlichung hin. Aber bald beginnt die Ernüchterung. Denn selbstverständlich hatten alle, die Calvin zur Ordnung herangerufen, heimlich gehofft, dieser grimmige Diktator werde, sobald die »discipline« gesichert sei, in seinem übermoralischen Drakonismus nachlassen. Statt dessen sehen sie von Tag zu Tag die Zügel straffer gespannt, kein Wort des Dankes hören sie jemals für ihre ungeheuren Opfer an persönlicher Freiheit und Freudigkeit, mit Erbitterung müssen sie von der Kanzel Worte vernehmen wie etwa: daß ein Galgen notwendig wäre zum Aufknüpfen von sieben- oder achthundert jungen Genfern, um endlich wirkliche Sitte und Zucht in dieser verrotteten Stadt einzuführen, jetzt erst gewahren sie, daß sie sich statt eines Seelenarztes, den sie erbeten, einen Kerkermeister ihrer Freiheit in die Mauern gerufen, und die immer härteren Zwangsmaßnahmen werden schließlich auch seinen treuesten Anhängern zum Ärgernis.
Nur wenige Monate also und schon besteht in Genf neuerdings Unzufriedenheit mit Calvin: von der Ferne, als Wunschbild wirkte seine »discipline« bedeutend verführerischer als in ihrer herrischen Gegenwart. Nun blassen die romantischen Farben, und die gestern noch jubelten, beginnen leise zu stöhnen. Jedesmal aber ist ein sichtbarer und allbegreiflicher Anlaß nötig, um den persönlichen Nimbus eines Diktators zu erschüttern, und dieser Anlaß stellt sich bald ein. Zum erstenmal beginnen die Genfer an der menschlichen Unfehlbarkeit des Konsistoriums während jener furchtbaren Pestepidemie zu zweifeln, die drei Jahre lang (von 1542 bis 1545) in der Stadt wütet. Denn dieselben Prediger, die sonst unter Androhung strengster Bestrafung fordern, jeder Kranke müsse innerhalb dreier Tage den Geistlichen an sein Bett rufen, lassen, seit einer von ihnen der Ansteckung erlegen ist, die Kranken im Pesthospital ohne geistlichen Trost hinsiechen und sterben. Flehentlich bittet der Magistrat, wenigstens ein Mitglied des Konsistoriums möge sich bereit finden, »die armen Kranken im Pesthospital aufzurichten und zu trösten«. Kein einziger aber meldet sich außer dem Rektor der Schule, Castellio, der aber mit dem Auftrag nicht betraut wird, weil er nicht Mitglied des Konsistoriums ist. Calvin selbst läßt sich von seinen Kollegen als »unentbehrlich« erklären und gesteht offen, »es ginge nicht an, die ganze Kirche im Stich zu lassen, um einem Teil zu helfen«. Aber auch die andern Prediger, die keine so entscheidende Mission zu verteidigen haben, verstecken sich beharrlich im Hinterland der Gefahr. Vergebens bleiben alle Beschwörungen des Rates an die furchtsamen Seelenhirten: einer erklärt sogar frank und frei, »sie würden lieber zur Galgenstätte gehen als ins Pesthospital«, und am 5. Januar 1543 erlebt Genf die erstaunliche Szene, daß sämtliche reformierte Prediger der Stadt, an ihrer Spitze Calvin, in der Ratsversammlung erscheinen, um dort öffentlich das beschämende Geständnis abzulegen, keiner von ihnen habe den Mut, das Pesthospital zu betreten, obzwar sie wüßten, daß es ihres Amtes wäre, in guten und in schlimmen Tagen Gott und seiner heiligen Kirche zu dienen.
Nun wirkt nichts auf ein Volk überzeugender als persönlicher Mut seiner Führer. In Marseille, in Wien und vielen andern Städten wird noch nach Hunderten Jahren das Andenken jener heroischen Priester gefeiert, die während der großen Epidemien Tröstung in die Siechenhäuser brachten. Solches Heldentum vergißt ein Volk seinen Führern niemals, noch weniger aber ihre persönliche Mattherzigkeit in entscheidender Stunde. Mit grimmigem Hohn beobachten und bespötteln jetzt die Genfer, daß dieselben Pfarrer, die von der Kanzel herab pathetisch die größten Opfer forderten, selbst nicht zu dem geringsten bereit sind, und es bleibt vergeblich, daß man, um die allgemeine Erbitterung abzulenken, ein infames Schauspiel erfindet. Auf Befehl des Rates werden nämlich einige Hungerleider angepackt und in der gräßlichsten Weise so lange gefoltert, bis sie eingestehen, sie hätten durch das Beschmieren der Türklinken mit einer aus den Exkrementen des Teufels bereiteten Salbe die Pest in die Stadt gebracht. Statt daß nun Calvin als Humanist solchem Altweibergeschwätz verächtlich entgegentritt, bekennt dieser immer rückwärts gewandte Geist sich als überzeugter Verfechter des mittelalterlichen Wahns. Noch mehr aber als seine öffentlich ausgesprochene Überzeugung, daß den »semeurs de peste« recht geschehen sei, schadet ihm seine Behauptung von der Kanzel herab, daß ein Mann wegen Gottlosigkeit am hellichten Tage vom Teufel aus seinem Bett geholt und in die Rhône geworfen worden sei; zum erstenmal muß Calvin erleben, daß manche seiner Zuhörer sich gar nicht bemühen, ihren Spott über solche Abergläubigkeit zu verbergen.
Jedenfalls: ein Gutteil jenes Unfehlbarkeitsglaubens, der für jeden Diktator ein unentbehrliches psychologisches Machtelement bedeutet, ist während der Pestepidemie zerstört worden. Unverkennbare Ernüchterung setzt ein: heftiger und in immer weiteren Kreisen verbreitet sich der Widerstand. Aber zum Glück für Calvin verbreitet er sich nur und sammelt sich nicht. Denn darin liegt ja allezeit der zeitliche Vorteil einer Diktatur und sichert ihr auch dann noch die Herrschaft, wenn sie sich längst schon zahlenmäßig in der Minorität befindet, daß ihr militarisierter Wille einheitlich geschlossen und organisiert in Erscheinung tritt, während der Gegenwille, von verschiedenen Seiten kommend und aus verschiedenen Motiven wirkend, sich nie oder erst spät zu wirklicher Stoßkraft zusammenschließt. Es nützt nichts, wenn viele und noch so viele eines Volkes innerlich gegen eine Diktatur stehen, solange diese vielen nicht in einem einheitlichen Plan und in einer geschlossenen Struktur zusammenwirken. Darum ist meist von der ersten Erschütterung der Autorität eines Diktators bis zu seinem Sturz noch ein weiter und langwieriger Weg. Calvin, sein Konsistorium, seine Prediger und sein emigrantischer Anhang stellen einen einzigen Block Willen, eine geschlossene, zielsichere Kraft dar; seine Widersacher dagegen rekrutieren sich ohne Zusammenhang aus allen möglichen Sphären und Klassen. Da sind einerseits die früheren Katholiken, die heimlich noch ihrem alten Glauben anhängen, neben ihnen aber auch die Weintrinker, denen man das Wirtshaus gesperrt hat, und die Frauen, die sich nicht aufputzen dürfen, und dann wieder die alten Genfer Patrizier, die erbittert sind über die neugebackenen Habenichtse, die, kaum aus der Emigration aufgenommen, sich in alle Ämter einnisten einerseits aus den edelsten und anderseits aus den erbärmlichsten Elementen setzt sich diese zahlenmäßig starke Opposition zusammen; solange aber Mißvergnügtheiten sich nicht an eine Idee binden, bleiben sie machtloses Gemurre, eine bloß latente Kraft statt einer wirksamen. Nie kann eine zusammengeschneite Rotte gegen eine militarisierte Armee, nie eine unorganisierte Unzufriedenheit gegen einen organisierten Terror aufkommen. Darum wird es in den ersten Jahren für Calvin ein leichtes sein, diese zersprengten Gruppen zu zügeln, weil sie ihm niemals als Ganzheit entgegentreten und er bald die eine, bald die andere mit einem Seitenhieb erledigen kann.
Wirklich gefährlich wird dem Träger einer Idee immer nur der Mensch, der ihm einen andern Gedanken entgegensetzt, und dies hat Calvin mit seinem klaren und mißtrauischen Blick sofort erkannt. Denn von der ersten bis zur letzten Stunde hat er von all seinen Widersachern keinen mehr gefürchtet als den einzigen, der ihm geistig und moralisch ebenbürtig war und der mit der ganzen Leidenschaft eines freien Gewissens sich auflehnte gegen seine geistige Tyrannei: Sebastian Castellio.
Nur ein einziges Bildnis Castellios ist uns verblieben und leider ein mittelmäßiges. Es zeigt ein durchaus geistiges und ernstes Antlitz mit freimütigen, man möchte sagen wahrhaften Augen unter einer hohen, freien Stirn: mehr sagt es physiognomisch nicht aus. Es ist kein Bild, das in die Tiefe eines Charakters blicken läßt, aber dem wesentlichsten Zug dieses Mannes macht es immerhin unmißverständlich kund: seine innere Sicherheit und Gleichgewichtigkeit. Legt man die Bilder der beiden Gegner Calvin und Castellio nebeneinander, so wird der Gegensatz, der sich später so entscheidend im Geistigen ausdrückt, schon im Sinnlichen klar: Calvins Gesicht ganz Gespanntheit, eine krampfhaft und krankhaft zusammengefaßte Energie, die ungeduldig und ungebärdig sich entladen will, Castellios Antlitz milde und voll wartender Gelassenheit. Ganz Feuer des einen Blick, ganz dunkel ruhig der des andern, die Ungeduld gegen die Geduld, der sprunghafte Eifer gegen die beharrende Entschlossenheit, der Fanatismus gegen die Humanität.
Fast ebensowenig wie von seinem Äußeren wissen wir von Castellios Jugend. 1515, sechs Jahre später als Calvin, ist er im Grenzland zwischen der Schweiz, Frankreich und Savoyen geboren. Seine Familie hat sich Chatillon oder Chataillon, vielleicht auch unter der savoyischen Herrschaft zeitweise Castellione oder Castiglione genannt, aber seine Muttersprache dürfte nicht die italienische, sondern die französische gewesen sein. Bald wird freilich seine eigentliche Sprache das Latein, denn mit zwanzig Jahren taucht Castellio als Student an der Universität von Lyon auf und erobert sich dort zur Kenntnis der französischen und italienischen Sprache noch die absolute Meisterschaft in der lateinischen, griechischen und hebräischen. Später lernt er noch Deutsch dazu, und auch auf allen andern Wissensgebieten erweisen sich sein Eifer und seine Kenntnisse als so überragend, daß die Humanisten und die Theologen ihn einhellig den gelehrtesten Männern der Zeit beigezählt haben. Anfänglich sind es die musischen Künste, die den jungen Studenten verlocken, der sich tapfer und ärmlichst mit Unterrichtsstunden sein Brot erwirbt; eine Reihe lateinischer Gedichte und Schriften entstehen. Aber bald ergreift ihn eine stärkere Leidenschaft als die zu abgelebten Vergangenheiten: mächtig fühlt er sich angefaßt von den neuen Problemen der Zeit. Der klassische Humanismus hat, wenn wir ihn historisch betrachten, eigentlich nur eine ganz kurze und glorreiche Blüte gehabt, die wenigen Jahrzehnte zwischen den großen Weltzeiten der Renaissance und Reformation. Nur diesen einen Augenblick lang erhofft die Jugend von der Erneuerung der Klassiker, von der systematischen Bildung die Erlösung der Welt; bald jedoch scheint es den Leidenschaftlichsten, den Besten dieser Generation nur mehr Greisenarbeit und niederer Kärrnerdienst, aus alten Pergamenten den Cicero und Thukydides neu und neu zu bearbeiten, während schon wie ein Waldbrand von Deutschland her eine religiöse Revolution Millionen von Seelen ergreift. Bald wird an allen Universitäten mehr über die alte und neue Kirche disputiert als über Plato und Aristoteles, statt der Pandekten durchforschen Professoren und Studenten die Bibel; wie in späteren Zeiten die politische, die nationale oder die soziale Welle, so ergreift im sechzehnten Jahrhundert die ganze Jugend Europas eine unaufhaltsame Leidenschaft, mitzudenken, mitzureden, mitzuhelfen an den religiösen Ideen der Zeit. Auch Castellio wird von ihr erfaßt, und entscheidend wird für seine humane Natur ein persönliches Erlebnis. Als er in Lyon zum erstenmal einer Verbrennung von Ketzern beiwohnt, erschüttert ihn einerseits die Grausamkeit der Inquisition und anderseits die mutige Haltung der Opfer bis hinab in die letzte Tiefe der Seele. Von diesem Tage an ist er entschlossen, für die neue Lehre, in der er Freiheit und Befreiung sieht, zu leben und zu kämpfen.
Selbstverständlich ist von dem Augenblick an, da der Fünfundzwanzigjährige sich innerlich für die Reformation entschieden hat, sein Leben in Frankreich gefährdet. Wo immer ein Staat oder ein System die Bekenntnisfreiheit gewaltsam unterdrückt, gibt es für diejenigen, die sich der Vergewaltigung ihres Gewissens nicht unterwerfen wollen, nur drei Wege: man kann den staatlichen Terror offen bekämpfen und zum Märtyrer werden; diesen allerkühnsten Weg des offenen Widerstands wählen Berquin und Etienne Dolet, freilich ihre Auflehnung auf dem Scheiterhaufen büßend. Oder man kann, um die innere Freiheit und zugleich auch sein Leben zu wahren, sich scheinbar unterwerfen und seine eigentliche Meinung tarnen – dies die Technik des Erasmus und Rabelais, welche äußerlich Frieden halten mit Kirche und Staat, um, in den Gelehrtenmantel gehüllt oder von der Schalksnarrenkappe gedeckt, von rücklings die giftigen Pfeile abzuschießen, der Gewalt mit Gewandtheit ausweichend, die Brutalität auf odysseische Art mit List betrügend. Als dritter Ausweg bleibt die Emigration: der Versuch, die innere Freiheit aus dem Lande, wo sie verfolgt und geächtet ist, mit sich heil hinauszutragen auf eine andere Erde, wo sie ungehindert atmen darf. Castellio, eine gerade, aber zugleich weiche Natur, wählt wie Calvin diesen friedlichsten Weg. Im Frühjahr 1540, kurz nachdem er in Lyon gepeinigten Herzens die Verbrennung der ersten evangelischen Märtyrer mitangesehen, verläßt er seine Heimat, um von nun an Bote und Mittler der evangelischen Lehre zu werden.
Castellio wendet sich nach Straßburg, und zwar, wie die meisten dieser religiösen Emigranten »propter Calvinum«, um Calvins willen. Denn seit dieser Mann in der Vorrede zur ›Institutio‹ so kühn Toleranz und Glaubensfreiheit von Franz I. gefordert, gilt er, obwohl selber noch jung, der ganzen französischen Jugend als Herold und Bannerträger der evangelischen Lehre. Von ihm hoffen alle diese Flüchtlinge der gleichen Verfolgung zu lernen, von ihm, der Forderungen auszusprechen und Ziele zu setzen weiß, eine Lebensaufgabe zu erhalten. Als Schüler und begeisterter Schüler – denn noch sieht die freiheitliche Natur Castellios in Calvin den Vertreter der geistigen Freiheit – begibt sich Castellio sofort in sein Haus und wohnt eine Woche lang in der studentischen Herberge, die Calvins Frau für diese künftigen Missionäre der neuen Lehre in Straßburg eingerichtet hat. Jedoch zu den erhofften näheren Beziehungen will es zunächst nicht kommen, denn schon kurz darauf wird Calvin zu den Konzilen von Worms und Hagenau abberufen. Die Gelegenheit der ersten Bindung ist versäumt. Daß aber der damals vierundzwanzigjährige Castellio schon entscheidenden Eindruck gemacht hat, erweist sich bald. Denn kaum ist die endgültige Rückberufung Calvins nach Genf gesichert, so wird auf Vorschlag Farels und zweifellos mit Zustimmung Calvins der blutjunge Gelehrte als Lehrer an die Schule von Genf berufen. Ausdrücklich wird ihm der Titel eines Rektors verliehen, zwei Hilfslehrer werden ihm unterstellt und überdies die erwünschte Verpflichtung auferlegt, in Vandœuvres, einem Sprengel von Genf, in der Kirche zu predigen.
Castellio rechtfertigt vollauf dieses Vertrauen, und seine Lehrtätigkeit bringt ihm überdies einen besonderen literarischen Erfolg. Denn um den Schülern die Erlernung des Lateins anregender zu machen, überträgt Castellio die plastischesten Episoden aus dem Alten und Neuen Testament in lateinische Dialogform. Bald wird das kleine Buch, das zunächst nur als Eselsbrücke für die Genfer Kinder gedacht war, ein weltbekanntes, in seiner literarischen und pädagogischen Auswirkung vielleicht nur den Kolloquien des Erasmus vergleichbar. Und noch nach Jahrhunderten wird das kleine Büchlein nachgedruckt, nicht weniger als siebenundvierzig Ausgaben sind davon erschienen, Hunderttausende von Schülern haben daraus die Grundlagen ihres klassischen Lateins gelernt. Und wenn im Sinne seines humanistischen Strebens auch nur ein Nebenwerk und Zufallswerk, so ist diese lateinische Fibel doch das erste Buch gewesen, durch das Castellio in den geistigen Vordergrund der Zeit getreten ist.
Aber Castellios Ehrgeiz geht auf höhere Ziele, als Schulkindern ein gefälliges und nützliches Handbuch zu schreiben. Nicht dazu hat er dem Humanismus abgesagt, um seine Kraft und Gelehrsamkeit in Kleinarbeiten zu verzetteln. Dieser junge, idealistische Mensch trägt in sich einen hohen Plan, der gewissermaßen die gewaltige Tat des Erasmus und diejenige Luthers in einem wiederholen und übertreffen soll: nichts Geringeres plant er, als die ganze Bibel noch einmal ins Lateinische und noch einmal ins Französische zu übertragen. Auch sein Volk, das französische, soll die ganze Wahrheit haben, wie durch Erasmus' und Luthers schöpferischen Willen die humanistische und die deutsche Welt. Und mit der ganzen zähen und stillen Gläubigkeit seines Wesens macht sich Castellio an diese riesige Aufgabe. Nacht für Nacht arbeitet der junge Gelehrte, der tagsüber mühsam durch schlechtbezahlte Arbeit sich das kärgliche Brot für seine Familie erkämpft, an diesem heiligsten Plan, dem er sein ganzes Leben widmen wird.
Indes: schon bei dem ersten Schritt stößt Castellio auf entschlossenen Widerstand. Ein Genfer Buchhändler hat sich bereit erklärt, den ersten Teil seiner lateinischen Bibelübersetzung zu drucken. Aber in Genf ist Calvin unbeschränkter Diktator in allen geistigen und geistlichen Dingen. Ohne seinen Konsens, ohne sein Imprimatur darf kein Buch in den Mauern der Stadt gedruckt werden; immer ist ja die Zensur das natürlich zugeborene Schwesterkind jeder Diktatur.
So begibt sich Castellio zu Calvin, ein Gelehrter zu einem andern Gelehrten, ein Theologe zu einem andern Theologen, und ersucht ihn kollegial um das Imprimatur. Jedoch autoritäre Naturen sehen in selbständig Denkenden immer einen unerträglichen Widerpart. Calvins erste Regung ist Unmut und kaum verdeckte Verärgerung. Denn er selbst hat die Vorrede zu einer französischen Bibelübersetzung eines Verwandten geschrieben und sie damit gewissermaßen als die »Vulgata«, die offiziell weltgültige des Protestantismus, anerkannt. Welche »Kühnheit« dieses »jungen Mannes« also, die von ihm selbst gutgeheißene und mitverfaßte Version nicht bescheidentlich als die einzig gültige und richtige anerkennen zu wollen, sondern statt dessen ihr eine eigene und neue zur Seite zu stellen! Deutlich spürt man Calvins gereizte Verstimmung über Castellios »Anmaßung« in seinem Brief an Viret. »Jetzt höre die Phantasie unseres Sebastian: er gibt uns Anlaß zu lachen, aber auch zornig zu werden. Vor drei Tagen kam er zu mir und bat mich um die Erlaubnis, seine Übersetzung des Neuen Testaments veröffentlichen zu dürfen.« Schon aus diesem ironischen Tonfall vermag man sich auszudenken, wie herzlich er seinen Rivalen empfangen hat. Tatsächlich fertigt Calvin Castellio kurzerhand ab: er sei bereit, Castellio die Erlaubnis zu geben, aber nur unter der Bedingung, daß er zuerst die Übersetzung lesen und darin korrigieren dürfe, was er seinerseits für korrekturbedürftig halte.
Nun liegt Castellios Charakter an sich nichts ferner als eitle Selbstgefälligkeit oder Selbstsicherheit. Nie hat er wie Calvin seine Meinung für die einzig richtige, seine Auffassung in irgendeiner Sache für die makellose und unanfechtbare gehalten, und seine spätere Vorrede zu dieser Übersetzung stellt geradezu ein Musterbeispiel wissenschaftlicher und menschlicher Bescheidenheit dar. Offen schreibt er dort, er habe selber nicht alle Stellen der Heiligen Schrift verstanden und warne darum den Leser, unbedenklich seiner Übersetzung zu vertrauen, denn die Bibel sei ein dunkles Buch voller Widersprüche und, was er gebe, nur eine Deutung, aber keineswegs eine Gewißheit.
Jedoch so bescheiden und human Castellio auch sein eigenes Werk bewertet, so unermeßlich hoch stellt er als Mensch den Adel der persönlichen Unabhängigkeit. In dem Bewußtsein, als Hebraist, als Gräzist, als Gelehrter keineswegs hinter Calvin zurückzustehen, sieht er in diesem Von-oben-herab-zensurieren-Wollen, in diesem autoritären Anspruch auf »Verbessern« mit Recht eine Herabsetzung. In einer freien Republik, Gelehrter neben Gelehrtem, Theologe neben Theologen, will er sich nicht zu Calvin in das Verhältnis von Schüler und Lehrer stellen, nicht sein Werk einfach wie eine Knabenaufgabe mit dem Rotstift behandeln lassen. Um einen humanen Ausweg zu finden und Calvin seine persönliche Achtung zu bezeugen, bietet er aber an, zu jeder Stunde, die Calvin passend wäre, ihm das Manuskript vorzulesen, und erklärt sich im voraus für willig, in jeder Einzelheit Calvins Ratschläge und Vorschläge entgegenzunehmen. Aber Calvin ist aus Prinzip gegen jede Form der Konzilianz. Er will nicht beraten, er will nur befehlen. Knapp und schroff lehnt er ab. »Ich teilte ihm mit, daß, selbst wenn er mir hundert Kronen verspräche, ich mich nicht bereit finden würde, mich an Verabredungen zu einer bestimmten Zeit zu binden und dann vielleicht zwei Stunden über ein einziges Wort zu diskutieren. Darauf ging er gekränkt weg.«
Zum erstenmal haben sich die Klingen gekreuzt. Calvin hat gespürt, daß Castellio nicht geneigt ist, sich ihm willenlos in geistlichen und geistigen Dingen zu unterwerfen, er hat, inmitten der allgemeinen Liebedienerei, den ewigen Gegner jeder Diktatur, den unabhängigen Menschen erkannt. Und von dieser Stunde an ist Calvin entschlossen, diesen Mann, der nicht ihm, sondern nur seinem eigenen Gewissen dienen will, bei dem ersten Anlaß aus seiner Stellung und womöglich aus Genf zu beseitigen.
Wer einen Vorwand sucht, wird ihn jederzeit zu finden wissen. Calvin muß nicht lange warten. Denn Castellio, der seine zahlreiche Familie mit dem allzu kärglich bemessenen Gehalt eines Schullehrers nicht ernähren kann, strebt die ihm innerlich gemäßere und besser bezahlte eines »Predigers am Gottesworte« an. Seit der Stunde, da er Lyon verließ, war es sein Lebensziel gewesen, Diener und Verkündiger der evangelischen Lehre zu werden, seit Monaten predigt der ausgezeichnete Theologe nun schon in der Kirche von Vandœuvres, ohne daß je der geringste Einwand in der sittenstrengen Stadt erhoben worden wäre; kein einziger Mann in Genf kann also mit ähnlichem Anspruch die Aufnahme in die Predigerschaft fordern. In der Tat findet Castellios Bewerbung die einhellige Zustimmung des Magistrats und am 15. Dezember 1543 wird beschlossen: »Da Sebastian ein gelehrter Mann ist und sehr geeignet, der Kirche zu dienen, wird hiermit seine Anstellung im Kirchendienst anbefohlen.«
Aber der Magistrat hat nicht mit Calvin gerechnet. Wie? Ohne ihn vorher submissest zu befragen, hat der Magistrat angeordnet, Castellio, einen Mann, der ihm durch innere Unabhängigkeit unbequem werden kann, zum Prediger und somit zum Mitglied seines Konsistoriums zu machen? Sofort legt Calvin Protest gegen Castellios Ernennung ein und begründet seine unkollegiale Handlungsweise in einem Brief an Farel mit den dunklen Worten: »Es liegen wichtige Gründe vor, welche seine Berufung verhindern ... Ich habe allerdings diese Gründe vor dem Rat nur angedeutet und nicht ausgesprochen, bin aber gleichzeitig allem falschen Verdacht entgegengetreten, um seinen Namen unangefochten zu lassen. Meine Absicht zielt dahin, ihn zu schonen.«
Liest man diese dunkel und geheimnisvoll gewandeten Worte, so beschleicht einen zunächst unangenehmer Verdacht. Klingt das nicht wirklich, als läge etwas Schimpfliches gegen Castellio vor, das ihn unfähig mache, die Würde des Predigers zu bekleiden, irgendein Makel, den Calvin gütigst mit dem Mantel christlicher Nachsicht verdeckt, um ihn »zu schonen«? Welch ein Delikt, fragt man sich, hat dieser so hochgeachtete Gelehrte sich zuschulden kommen lassen, das Calvin so großmütig verschweigt? Hat er sich an fremdem Geld vergriffen, sich mit Frauen vergangen? Verbirgt sein stadtbekannt untadeliges Wesen irgendwelche heimliche Irrung? Aber mit gewollter Unklarheit läßt Calvin den ganz unbestimmten Verdacht über Castellio schweben, und nichts ist verhängnisvoller für die Ehre und das Ansehen eines Mannes als eine »schonende« Zweideutigkeit.
Jedoch Sebastian Castellio will nicht »geschont« sein. Er hat ein reines und klares Gewissen, und kaum erfährt er, daß es Calvin gewesen, der ihm hinterrücks seine Berufung verderben will, so tritt er vor und verlangt, Calvin solle vor dem Magistrat öffentlich erklären, aus welchen Gründen ihm die Predigerstelle verweigert werden solle. Nun muß Calvin Farbe bekennen und das geheimnisvolle Delikt Castellios darlegen; endlich erfährt man das von Calvin so zartfühlend verschwiegene Verbrechen: Castellio ist – entsetzliche Verirrung! – in zwei nebensächlichen theologischen Bibelauslegungen nicht ganz der Meinung Calvins. Erstens hat er die Ansicht ausgesprochen – und hier pflichten ihm wohl alle Theologen laut oder leise bei –, das Hohelied Salomonis sei keine geistliche, sondern eine profane Dichtung; der Hymnus auf Sulamith, deren Brüste wie zwei junge Rehböcke auf der Weide hüpfen, stelle ein durchaus weltliches Liebesgedicht dar und keineswegs eine Verherrlichung der Kirche. Auch die zweite Abweichung ist geringfügig: Castellio legt Christi Höllenfahrt eine andere Bedeutung bei als Calvin.
Sehr kleinlich und sehr belanglos nimmt sich also das »großmütig verschwiegene« Verbrechen Castellios aus, um dessentwillen ihm die Predigerwürde verweigert werden soll. Aber – und hier liegt die eigentliche Entscheidung – für einen Calvin gibt es im Raume der Lehre keine Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten. Für seinen methodischen Geist, der eine höchste Einheit und Autorität der neuen Kirche anstrebt, ist die kleinste Abweichung ebenso gefährlich wie die größte. Calvin will in seinem mächtig angelegten logischen Gebäude jeden Stein und jedes Steinchen unverrückbar an seiner Stelle, und wie im politischen Leben, wie in Sitte und Recht, erscheint ihm auch im religiösen Sinne jedwede Form der Freiheit prinzipiell untragbar. Soll seine Kirche dauern, so muß sie autoritär bleiben vom Grundplan bis in das letzte und kleinste Ornament, und wer dieses sein Führerprinzip nicht anerkennt, wer versucht, im liberalen Sinne selbständig zu denken, für den hat sein Staat keinen Raum.
Von vornherein ist es darum verlorene Mühe, wenn der Rat Castellio und Calvin zu einer öffentlichen Aussprache auffordert, damit sie ihre Meinungsverschiedenheit gütlich beilegten. Denn man muß es immer wiederholen – Calvin will ausschließlich lehren, aber nie sich belehren oder bekehren lassen; er disputiert niemals und mit niemandem, er diktiert. Gleich mit dem ersten Wort fordert er Castellio auf, sich »zu unserer Meinung zu bekennen«, und warnt ihn, »dem eigenen Urteil zu vertrauen«, damit ganz im Sinne seiner Weltanschauung von der notwendigen Einheit und Autorität in der Kirche handelnd. Aber auch Castellio bleibt sich treu. Denn Gewissensfreiheit ist für Castellio das höchste Seelengut, und für diese Freiheit ist er bereit, jeden weltlichen Preis zu bezahlen. Er weiß genau, daß er sich bloß in diesen zwei nichtigen Einzelheiten Calvin zu unterwerfen brauchte und sofort wäre ihm die einträgliche Stellung im Konsistorium gesichert. Aber unbestechlich in seiner Unabhängigkeit erwidert Castellio: er könne nicht etwas versprechen, was er nicht einzuhalten vermöge, ohne gegen sein Gewissen zu handeln. So bleibt die Aussprache vergeblich. In zwei Männern treten sich in dieser Stunde die liberale Reformation, die für jeden Menschen Freiheit in religiösen Dingen fordert, und die orthodoxe entgegen; und mit Recht kann Calvin nach dieser erfolglosen Auseinandersetzung von Castellio schreiben: »Er ist ein Mann, der, soweit ich nach unseren Unterhaltungen urteilen kann, von mir solche Vorstellungen hat, daß es schwer ist, anzunehmen, es könnte jemals zwischen uns zu einer Einigung kommen.«
Aber was sind diese »Vorstellungen«, die Castellio von Calvin hat? Calvin verrät sie selbst, indem er schreibt: »Sebastian hat es sich in den Kopf gesetzt, ich hätte das Verlangen, zu herrschen.« Richtiger kann man die Sachlage tatsächlich nicht ausdrücken. Castellio hat nach kurzer Zeit erkannt, was die andern bald erkennen werden, daß Calvin seiner tyrannischen Natur gemäß entschlossen ist, in Genf nur eine Meinung zu dulden, die seine, und daß es nur möglich ist, in seinem geistigen Bereiche zu leben, wenn man sich wie de Beze und die andern Nachtreter jedem Buchstaben seiner Doktrin knechtisch unterwirft. Diese Kerkerluft geistiger Zwangsherrschaft will Castellio aber nicht atmen. Nicht dazu ist er der katholischen Inquisition aus Frankreich entflohen, um sich einer neuen, protestantischen Gewissensüberwachung zu unterwerfen, nicht darum hat er dem alten Dogma abgesagt, um Diener eines neuen zu werden. Für ihn ist Christus nicht, wie Calvin ihn sieht: ein unerbittlicher Formaljurist, und sein Evangelium ein starres und schematisches Gesetzbuch; Castellio erblickt in Christus einzig den menschlichsten Menschen, ein ethisches Vorbild, das jeder in sich und jeder nach seiner Art demütig nachleben soll, ohne darum verwegen zu behaupten, er und nur er allein wisse um die Wahrheit. Eine entschlossene Erbitterung würgt diesem freien Menschen die Seele, wenn er zusehen muß, wie hochfahrend und selbstbewußt in Genf die neubestallten Prediger das Wort Gottes auslegen, als sei es einzig für sie verständlich gesprochen; ein Zorn faßt ihn gegen diese Hochmütigen, die sich unablässig ihrer heiligen Berufung rühmen und von allen andern als von eklen Sündern und Unwürdigen sprechen. Und als in einer öffentlichen Versammlung einmal das Wort des Apostels kommentiert wird: »Wir müssen uns in allen Dingen durch große Geduld als die Abgesandten Gottes erweisen«, steht plötzlich Castellio auf und richtet an die »Abgesandten Gottes« die Aufforderung, sie mögen doch einmal bei sich selber Prüfung halten, statt immer nur die andern zu prüfen, zu strafen und zu richten. Wahrscheinlich hat Castellio allerhand Dinge gewußt (sie gehen auch später aus den Ratsprotokollen hervor), die bezeugen, daß die sittliche Unfehlbarkeit der Genfer Prediger in ihrem Privatleben nicht allzu puritanisch gewesen sei, und es schien ihm deshalb geboten, einmal diesen heuchlerischen Dünkel öffentlich zu züchtigen. Den Wortlaut des Angriffs Castellios kennen wir leider nur aus der Fassung, die Calvin mitteilt (der niemals besondere Bedenken trug, etwas zu ändern, wenn es sich um einen Gegner handelte). Aber selbst aus seiner einseitigen Darstellung ist zu entnehmen, daß Castellio in dieses Bekenntnis der allgemeinen Fehlbarkeit sich selber mit einschloß, denn er sagte: »Paulus war ein Diener Gottes, wir aber dienen uns selber, er war geduldig, wir sind sehr ungeduldig. Er hat von den andern Unrecht erlitten, wir aber verfolgen Unschuldige.«
Calvin, in jener Versammlung anwesend, scheint von dem Angriff Castellios völlig unvorbereitet überrascht worden zu sein. Ein leidenschaftlicher, ein sanguinischer Diskutant, ein Luther wäre sofort aufgefahren und hätte in zündender Rede geantwortet, ein Erasmus, ein Humanist hätte wahrscheinlich gelehrt und gelassen disputiert; Calvin aber ist in erster Linie Realist, ein Mann der Taktik und Praktik, der sein Temperament im Zaume zu halten weiß. Er spürt, wie stark die Worte Castellios auf die Anwesenden gewirkt haben und daß es nicht ratsam wäre, ihm jetzt entgegenzutreten. So bleibt er stumm und zieht die schmalen Lippen noch schmäler. »Ich habe für den Augenblick geschwiegen«, entschuldigt er nachträglich diese sonderbare Zurückhaltung, »aber nur, um nicht vor den vielen Fremden eine heftige Diskussion anzufachen.«
Wird er sie später im vertrauten Kreise führen? Wird er sich, Mann gegen Mann, Meinung gegen Meinung, mit Castellio auseinandersetzen? Wird er ihn vor das Konsistorium laden, ihn auffordern, seine allgemeine Anschuldigung mit Namen und Fakten zu belegen? Keineswegs. Calvin ist jede Loyalität im Politischen immer fremd gewesen. Für ihn stellt jeder Versuch einer Kritik nicht bloß theoretische Meinungsabweichung, sondern gleich ein Staatsdelikt, ein Verbrechen dar. Verbrechen aber gehören vor die weltliche Behörde. Dorthin, statt vor das Konsistorium, zerrt er Castellio, eine moralische Diskussion in ein Disziplinarverfahren verwandelnd. Seine Klage an den Magistrat der Stadt Genf lautet: »Castellio hat das Ansehen der Geistlichkeit herabgesetzt.«
Nicht mit sehr viel Behagen versammelt sich der Rat. Er liebt diese Predigerzänkereien nicht sehr, ja es hat sogar den Anschein, als sei es der weltlichen Behörde gar nicht so unlieb gewesen, daß endlich einmal einer gegen die Anmaßung des Konsistoriums offene, energische Worte sagte und wagte. Zuerst vertagen die Räte die Entscheidung lange, und ihr schließliches Urteil fällt auffallend zweideutig aus. Castellio wird mündlich getadelt, aber nicht bestraft oder entlassen; nur seine Tätigkeit als Prediger in Vandœuvres bleibt bis auf weiteres eingestellt.
Mit einem solchen lauen Verweis könnte sich Castellio billig zufrieden geben. Aber innerlich ist sein Entschluß schon gefaßt. Neuerdings sieht er bestätigt, daß neben einer derart tyrannischen Natur wie Calvin in Genf für einen freien Menschen kein Raum ist. So erbittet er vom Magistrat seine Enthebung vom Amte. Aber schon hat er an dieser ersten Kraftprobe die Taktik seiner Gegner genügend kennengelernt, um zu wissen, daß Parteimenschen mit der Wahrheit immer selbstherrlich umgehen, wenn sie ihrer Politik dienen soll; sehr zu Recht sieht er voraus, daß man seinen freien und mannhaften Verzicht auf Amt und Würde hinterher zu der Lüge entstellen werde, er habe seine Stellung aus irgendwelchen unlauteren Gründen verloren. So verlangt Castellio, ehe er Genf verläßt, ein schriftliches Zeugnis über den Vorfall. Und damit ist Calvin genötigt, eigenhändig zu unterschreiben (noch heute ist die Urkunde in der Bibliothek in Basel zu sehen), daß nur deshalb, weil in zwei theologischen Einzelfragen Abweichungen bestanden hätten, Castellio nicht zum Prediger ernannt worden sei. Und wörtlich heißt es weiter in dem Dokument: »Damit niemand eine andere Ursache für die Abreise Sebastian Castellios unterstellen könnte, bezeugen wir hiermit allseits, daß er freiwilligerweise (sponte) seine Stelle als Lehrer niederlegte und sie vorher in solcher Weise versehen hat, daß wir ihn für würdig gehalten hätten, dem Predigerstande anzugehören. Wenn er dennoch nicht zugelassen wurde, so geschah dies keineswegs deshalb, weil irgendein Makel in seinem Verhalten zu finden war, sondern ausschließlich aus dem obgenannten Grunde.«
Die Abdrängung des einzig ebenbürtigen Gelehrten aus Genf bedeutet für den Despotismus Calvins einen Sieg, aber eigentlich einen Pyrrhussieg. Denn in weitesten Kreisen wird das Scheiden des hochangesehenen Gelehrten als schwerer Verlust bedauert. Öffentlich wird erklärt, es sei »durch Calvin Meister Castellio Unrecht geschehen«, und im ganzen kosmopolitischen Raum des Humanismus gilt es durch diesen Vorfall erwiesen, daß Calvin in Genf nur noch Nachbeter und Nachtreter dulde, und noch zwei Jahrhunderte später wird Voltaire die Unterdrückung Castellios als den entscheidenden Beweis für Calvins tyrannische Geisteshaltung anführen. »Man kann sie ermessen an den Verfolgungen, denen er Castellio aussetzte, der ein viel größerer Gelehrter als er selber war und den seine Eifersucht aus Genf vertrieben hat.«
Calvin nun hat für Tadel eine empfindliche, eine überempfindliche Haut. Er spürt sofort das allgemeine Unbehagen, das er mit Castellios Beseitigung herausgefordert. Und kaum hat er sein Ziel erreicht, diesen einzigen unabhängigen Menschen von Rang aus Genf vertrieben zu wissen, so drückt ihn die Sorge, die Öffentlichkeit könnte es ihm zur Last legen, daß Castellio nun völlig mittellos durch die Welt irrt. In der Tat war Castellios Entschluß ein verzweifelter gewesen. Denn als erklärter Gegner des politisch mächtigsten Protestanten kann er innerhalb der Schweiz nirgends auf baldige Bestallung in der reformierten Kirche rechnen; ins bitterste Elend hat ihn sein ungestümer Entschluß geworfen. Als Bettler, als Hungerleider wandert der einstige Rektor der Genfer reformierten Schule von Tür zu Tür, und Calvin ist weitblickend genug, um zu erkennen, daß diese öffentliche Notlage eines abgedrängten Rivalen ihm schwersten Schaden bringen muß. So sucht er, nun ihm Castellio nicht mehr durch seine Nähe lästig ist, dem Verjagten goldene Brücken zu bauen. Mit einer auffälligen Beflissenheit schreibt er, um sich zu exkulpieren, Brief auf Brief an seine Freunde, wie sehr er bemüht sei, dem armen und bedürftigen Castellio (der nur durch seine Schuld arm und bedürftig geworden ist) eine passende Stellung zu verschaffen. »Ich wünschte, er könnte irgendwo ohne Anstoß unterkommen, und ich würde für meinen Teil die Hand dazu bieten.« Aber Castellio läßt sich nicht, wie Calvin hoffte, den Mund verschließen. Frei und offen erzählt er überall, daß er Genf wegen der Herrschsucht Calvins habe verlassen müssen, und trifft damit Calvin an seinem empfindlichsten Punkte, denn nie hat Calvin seine diktatorische Macht offen zugegeben, sondern sich stets nur als allerbescheidensten, allerdemütigsten Diener seiner schweren Pflicht bewundern lassen wollen. Sofort ändert sich jetzt der Ton seiner Briefe; vorbei ist mit einmal das Mitleid für Castellio. »Wenn du wüßtest«, klagt er einem Freund, »was dieser Hund – ich meine Sebastian – gegen mich kläfft. Er erzählt, daß er nur durch meine Tyrannei vom Amt gejagt wurde, damit ich allein regieren könne.« Im Verlauf von wenigen Monaten ist derselbe Mann, von dem Calvin eigenhändig unterschrieben, daß er durchaus würdig sei, das heilige Amt als Diener des Herrn zu bekleiden, zu einer »bestia«, zu einem »chien« für ebendenselben Calvin geworden, nur weil er lieber die bitterste Armut auf sich nahm, als sich mit Pfründen kaufen und beschwichtigen zu lassen.
Diese freiwillig gewählte heroische Armut Castellios hat schon bei den Zeitgenossen Bewunderung erregt. Ausdrücklich vermerkt Montaigne, es sei beklagenswert, daß ein Mann von solchen Verdiensten wie Castellio derartige Not habe erleiden müssen, und gewiß, fügt er bei, wären viele Menschen bereit gewesen, ihm zu helfen, wenn sie rechtzeitig davon Kunde gehabt hätten. Aber in Wirklichkeit zeigen sich die Menschen keineswegs willig, Castellio auch nur die nackteste Dürftigkeit zu ersparen. Jahre und Jahre wird es noch dauern, ehe der Vertriebene eine Stellung erringt, die seiner Gelehrsamkeit und moralischen Überlegenheit nur halbwegs gemäß ist; zunächst beruft ihn keine Universität, keine Predigerstelle wird ihm angeboten, denn die politische Abhängigkeit der Schweizer Städte von Calvin ist bereits zu groß, als daß man den Widersprecher des Genfer Diktators öffentlich anzustellen wagte. Mit Mühe findet der Verjagte schließlich etwas Lebensunterhalt in der subalternen Stellung eines Korrektors in der Basler Druckerei von Oporin; doch die unregelmäßige Arbeit reicht nicht aus, Weib und Kinder zu ernähren, und so muß Castellio sich außerdem als Hauslehrer die nötigen Groschen zusammenraffen, um seine sechs oder acht Münder bei Tisch durchzufüttern. Unsägliches, kleines, erbärmliches, tagtägliches, die Seele hemmendes, die Kräfte lähmendes Elend wird er noch viele dunkle Jahre durchleben müssen, ehe endlich die Universität den universal gebildeten Gelehrten wenigstens zum Lektor der griechischen Sprache beruft! Aber auch dies mehr ehrenvolle als einträgliche Amt schenkt Castellio noch lange nicht die Freiheit von der ewigen Fron; sein ganzes Leben lang wird weiter und weiter der große Gelehrte, von manchen sogar der Gelehrteste seiner Zeit genannt, niedrige Handlangerarbeit leisten müssen. Eigenhändig schaufelt er in seinem kleinen Hause in der Basler Vorstadt die Erde, und da die Tagesarbeit nicht ausreicht, um die Familie zu ernähren, quält sich Castellio die ganzen Nächte durch, Drucktexte korrigierend, fremde Werke verbessernd, aus allen Sprachen übersetzend; nach Tausenden und Tausenden zählen die Seiten, die er um des Broterwerbs willen aus dem Griechischen, dem Hebräischen, dem Lateinischen, dem Italienischen, dem Deutschen für die Basler Verleger übertragen hat.
Aber nur seinen Körper, seinen schwachen, empfindlichen Leib wird diese jahrelange Entbehrung unterhöhlen können, niemals aber die Unabhängigkeit und Entschlossenheit seiner stolzen Seele. Denn inmitten solcher unabsehbarer Fronarbeit vergißt Castellio keineswegs seine eigentliche Aufgabe. Unerschütterlich schafft er weiter an seinem Lebenswerk, der Bibelübertragung ins Lateinische und ins Französische, dazwischen entstehen Zeit- und Streitschriften, Kommentare und Dialoge, es ist kein Tag, es ist keine Nacht, da Castellio nicht gearbeitet hätte; nie hat dieser ewige Kärrner die Lust der Reise, die Gnade der Entspannung, nie auch die sinnliche Belohnung des großen Ruhms oder des Reichtums gekannt. Aber lieber macht dieser freie Geist sich zum Knecht ewiger Armut, lieber verrät er den Schlaf seiner Nächte als sein unabhängiges Gewissen – großartiges Vorbild jener heimlichen Helden des Geistes, die, ungesehen von der Welt, auch im Dunkel der Vergessenheit den Kampf für die ihnen heiligste Sache führen: für die Unantastbarkeit des Wortes, für das unerschütterliche Recht auf die eigene Gesinnung.
Noch hat der eigentliche Zweikampf zwischen Castellio und Calvin nicht begonnen. Aber zwei Menschen, zwei Ideen haben einander ins Auge geblickt und sich als unversöhnliche Gegner erkannt. Unmöglich war es für beide geworden, auch nur noch eine Stunde in derselben Stadt, in demselben geistigen Raum zu leben; aber wenn auch nun endgültig getrennt, der eine in Basel, der andere in Genf, so beobachten sie doch wachsam einer den andern. Castellio vergißt nicht Calvin und Calvin nicht Castellio, und ihr Schweigen ist nur ein Warten auf das entscheidende Wort. Denn Gegensätze jener innersten Art, die nicht mehr bloß verschiedene Meinungen sind, sondern Urfehde zwischen Weltanschauung und Weltanschauung, können nicht dauernd Frieden halten; nie kann geistige Freiheit sich erfüllt fühlen im Schatten einer Diktatur, nie eine Diktatur sich sorglos ausleben, solange auch nur ein einziger Unabhängiger innerhalb ihrer Grenzen aufrecht bleibt. Aber immer ist ein Anlaß nötig, latente Spannungen zum Austrag zu bringen. Erst als Calvin den Scheiterhaufen Servets entzündet, wird das Wort auf den Lippen Castellios anklagend entbrennen. Erst als Calvin den Krieg gegen jedes freie Gewissen erklärt, wird Castellio im Namen des Gewissens ihm Fehde ansagen auf Tod und Leben.