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Sommer in Rio

Es wird November. Die sogenannte »Saison« von Rio geht zu Ende und die Freunde, denen man begegnet, haben alle dieselbe Frage: wohin gehen Sie über den Sommer? Es ist ein Axiom, daß man die Monate, die man bei uns Winter nennt – Dezember, Januar, Februar und März – in die Berge flüchtet, oder es ist zum mindesten ein alter Brauch, den Kaiser Pedro II. für die Gesellschaft eingeführt hat. Im Sommer verlegte er seine Residenz nach Petrópolis, ihm folgte der Hof und dem Hof die Gesellschaft; alle Gesandtschaften und Ministerien verlegten ihre Tätigkeit in diese nahe und kühlere Gartenstadt, die heute dank des Autos eine Art Vorstadt von Rio geworden ist. Während der Sommerzeit, in den schulfreien Monaten, wohnt die Familie in einer Villa in Petrópolis, und der Geschäftsmann, der höhere Beamte steuert abends mit dem Auto hinauf und morgens hinab: es ist keine Reise mehr.

Es ist keine Reise mehr und eher ein Ausflug zu nennen. Zwanzig oder dreißig Minuten durch das flache Land, das die Energie der Regierung den früher fieberbringenden Sümpfen abgewonnen. Dann steigt die breite, blank zementierte Straße in scharfen Kurven die Höhe empor. Serpentine um Serpentine schraubt sie sich hoch, allmählich öffnet sich der Ausblick über das Tal und die Bucht, Kilometer um Kilometer schmettert vorbei und die Luft, die einen anspringt, wird frischer und kühler. Endlich eine Wendung und – man ist kaum mehr als anderthalb Stunden gefahren – die Höhe ist erreicht; kleine gefällige Häuschen, von einem Kanal durchzogen, flankieren die Straße und man ist in einem Kurörtchen, einem Sommerresidenzchen, das ein wenig altväterisch anmutet mit seinen roten Brückchen und etwas antiquierten Villen. Irgendwie, man weiß nicht warum, denkt man an ein deutsches Provinzstädtchen. Und, siehe da, man hat richtig gefühlt. Hierher hatte vor vielen Jahrzehnten der Kaiser deutsche Ansiedler kommen lassen, und sie bauten ihre Häuschen nach heimischer Art; sie gaben ihnen deutsche Namen und pflanzten in ihre kleinen schmucken Gärtchen wie zu Hause die Pelargonien. Auch das kaiserliche Palais wirkt wie das eines deutschen Duodezfürstentums, das durch eine nette Zauberei auf einen brasilianischen Berg getragen wurde; alles hat ein hübsches, zierliches Format, und erst in den letzten Jahren haben die neuen Villen den Charakter anspruchsvoller gemacht. Jetzt drängt sich alles hier ein wenig zusammen, die Menschen und die Häuser; die Straßen, vormals nur für die schweren, langsamen Karossen gedacht, schwirren von Automobilen, die Unruhe von Rio rückt allmählich den Berg herauf. Aber die Lieblichkeit des Ortes wird niemals ernstlich bedroht werden können, denn die Natur selbst ist hier lieblich; die Berge zeigen keine Schroffen mehr sondern weichen in flutenden Wellen zurück, überall leuchten und flammen die Blumen in dieser Stadt der Gärten. Tagsüber klimmt das Quecksilber hier ungehemmt empor, aber die Nächte sind im Gegensatz zu Rio kühl und die Schwüle entlüftet; noch ist es nicht die starke, die ozonische Luft, die wir mit dem Bergland verbinden, aber doch schon Kühle und Reine, von dem Atem der Wälder und der Blumen leise durchduftet.

Wer wirkliche Berglandschaft fordert, muß noch weiter empor nach Teresópolis, das einige hundert Meter höher liegt; es ist, als ob man von einer österreichischen Landschaft in eine schweizerische käme. Die Kulisse ist hier enger und strenger, die Wälder dunkler, die Berge schroffer im Abfall – an einer Stelle blickt man wie von einer Zinne unvermittelt, daß einem beinahe schwindlig wird, über das ganze Land bis nach Rio hinab. Nicht wie in Petropolis liegen kurorthaft die Villen nebeneinander, sondern weit voneinander wie Bauerngehöfte im Grünen zerstreut. Hier und in Friburgo, das schweizerischen Ursprungs ist, hat man zum erstenmal alpine Landschaft im europäischen Sinne, und in merkwürdiger Abscheidung sind es zumeist die Europäer, die hier übersommern (wenn man das Gegenwort zu überwintern wagen darf), während die brasilianische Gesellschaft sich traditionell in Petropolis zusammenfindet.

So fragen die Freunde, wofür ich mich entschieden habe. Und ich entschied mich für Rio. Ich wollte dort den Sommer mitleben, denn man kennt eine Stadt, ein Land nur in seinen Extremen; man weiß nichts von Rußland, wenn man es ohne Schnee, nichts von London, wenn man es ohne seinen Nebel gesehen. Und ich bereue es nicht. Es ist heiß in Rio im Sommer, vielleicht mag es sogar keine Erfindung sein, daß man an den brennenden Tagen rohe Eier dort auf dem Asphalt garkochen kann, aber ich habe New York, wenn es dort einmal feucht zu dünsten beginnt und die Häuser zu Backöfen werden, schlimmer gefunden. Was allein den Sommer in Rio so lastend macht, ist, daß er zu lange dauert, drei und eigentlich vier Monate. Bei Tage erträgt man die Hitze leicht, denn es ist, wenn man so sagen darf, eine schöne, eine volle, eine reine Hitze, die Wärme einer prallen Sonne, eines strahlenden Himmels, der sich wolkenlos über die Bucht spannt und ihre an sich schon schmetternden Farben zu ihrem äußersten Fortissimo steigert: wer nicht dieses Weiß der Häuser, wenn die Strahlen prall auf sie fallen, nicht das malachitene Grün der Palmen, nicht das einzige Blau des Meeres dort im Sommer gesehen, der kennt diese Farben nur in gedämpften, vermengten, verminderten Formen. Aber diese massive Hitze hat ihre natürlichen Linderungen. Jede paar Stunden springt vom Meere her mit ganz unbrasilianischer Pünktlichkeit eine Brise auf, die erfrischt, und muß man nicht in die innere Stadt, wo diese wohltätige Zugluft nicht zu kann, so ist es eine Lust, an dem Strand – freilich nicht zu hastig – dahinzuschlendern. Schwerer erträglich sind die Nächte, wenn diese Brise stockt und man die Feuchte, die Dicke, die Überfülltheit der Atmosphäre so dicht an die Haut drängen fühlt, daß sie mit allen Poren sich öffnet. Aber im allgemeinen dauern diese drückenden Tage nicht lang, und es macht ein Gewitter ihnen ein jähes Ende, ein Tropengewitter von jener Gewalt, die mir die Schilderungen Joseph Conrads glaubhaft illustriert haben. Das ist nicht Regen, der dann niederprasselt, das ist der ganze Himmel, der wie ein umgeworfenes Faß mit einem Male niederstürzt. Das sind keine Blitze, die wie bei uns als blaue Adern am Himmel aufspringen – das sind weiße Schüsse, und der Donner, der ihnen nachfällt, erschüttert die Häuser. Eine Viertelstunde, und die Straßen sind meterhoch überschwemmt, aller Verkehr stockt, kein Mensch wagt sich auf die Straße. Und wieder eine Viertelstunde, und der Himmel schimmert unschuldig im früheren Blau, als ob er von seinem Wutanfall nichts wüßte, das Licht glänzt scharf und klar durch die gefilterte Luft, und man atmet erstaunt und entlastet, wie nach einer Explosion, der man durch ein Wunder entkommen. Und dann wieder Tag um Tag strahlende Sonne, wolkenloser Horizont – so ist der Sommer in Rio.

In summa: er ist erträglich. Und zwei Millionen Menschen ertragen ihn, ohne zu klagen und sogar vergnügt. Sie passen sich ihm nur an. Alles trägt Leinenkleider, die ganze Stadt funkelt in Weiß wie bei einer Marineparade, und vom November an wird Rio ein einziger Badestrand; zwei, drei Straßen vom Ufer her – und fast überall ist Ufer – gehen die Leute in Schwimmhosen und Badekostümen, um rasch ein- oder zweimal des Tags den erfrischenden Sprung ins Meer zu tun; um fünf Uhr morgens, ehe sie frühstücken oder zur Arbeit gehen, rücken die ersten an, und das geht bis tief in die Nacht, an manchen Tagen sind an dem einen Strand von Copacabana hunderttausend Menschen zu finden. Nichts irriger als zu glauben, die Cariocas, die Leute von Rio, würden durch den Sommer erschöpft und ausgelaugt: im Gegenteil, es ist, als sammelte sich in ihnen diese aufgestaute Hitze zu einem einzigen impulsiven Ausbruch, der dann mit kalendarischer Regelmäßigkeit im Karneval erfolgt. Der Karneval von Rio ist, man weiß es, ein Unikum an heiterem und leidenschaftlichem Überschwang in unserer seit Jahren reichlich verdüsterten Welt. Monatelang zuvor wird gespart und geübt, denn jeder Karneval bringt neue Lieder und Tänze. Und da der Karneval ein demokratisches Fest hier ist, ein Lustausbruch, eine Temperamentsmanifestation des ganzen Volks, hört man diese Lieder schon überall vorausgeübt, damit jeder einstimmen könne; man hört sie in den Kasinos, den Restaurants, im Radio, im Grammophon und in den Negerhütten; überall wird geübt und exerziert zu der großen Parade der kollektiven Freude. Wenn der Kalender dann endlich die Verstattung gibt, schließen für drei Tage alle Geschäfte, und es ist, als sei die ganze Stadt von einer riesigen Tarantel gestochen. Alles lebt auf den Straßen, bis tief in die Nacht wird getanzt, gesungen und mit allen denkbaren Instrumenten bis zur Raserei gelärmt. Jeder soziale Unterschied ist aufgehoben, Fremde wandern Arm in Arm mit Fremden, jeder spricht jeden an, und allmählich steigert sich die gegenseitige Erhitzung, das unaufhörliche Lärmen zu einer Art Tollheit; man findet Menschen erschöpft auf der Straße liegen, ohne daß sie einen Tropfen Alkohol getrunken, sie haben sich nur krank getanzt und gelärmt. Aber das Merkwürdigste, das typisch Brasilianische ist, daß selbst in diesen Ekstasen die Leute selbst des niedersten Volkes nicht ihre innere Humanität verlieren und zum Pöbel werden; trotz Maskenfreiheit geschieht nichts Brutales, nichts Unanständiges inmitten einer kindlich tobenden und Tag und Nacht durcheinanderquirlenden Menge; einmal sich Ausschreien, Austanzen, das Leise, das Zurückhaltende orgiastisch loswerden zu dürfen, erlöst sich im Taumel dieser drei Tage – es ist wie eines jener Tropengewitter des Sommers. Und nachher wieder das alte stille Gebaren, die Stadt kehrt in ihre alte Ordnung zurück. Der Sommer ist gefeiert, die gestaute Hitze aus den Menschen gleichsam herausgefahren, Rio ist wieder Rio, die Stadt, die still und stolz ihre eigene Schönheit spiegelt.

 

Niemand nimmt gern Abschied, der hier einmal gewesen. Bei jedem Fortreisen und von jedem Ort wünscht man sich zurück. Schönheit ist selten und vollendete beinahe ein Traum. Diese eine Stadt unter den Städten macht ihn wahr auch in düstersten Stunden; es gibt keine tröstlichere auf Erden.


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