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Rio de Janeiro

Vor fast vierhundert Jahren, 1552, schreibt Tomé de Sousa, da er in Rio landet: Tudo é graça que dela se pode dizer. Man kann es eigentlich nicht besser ausdrücken als dieser rauhe Kriegsmann. Die Schönheit dieser Stadt, dieser Landschaft läßt sich wirklich kaum wiedergeben. Sie versagt sich dem Wort, sie versagt sich der Fotografie, weil sie zu vielfältig, zu unübersichtlich, zu unerschöpflich ist; selbst ein Maler, der Rio in seiner Gänze darstellen wollte mit all seinen tausend Farben und Szenen, käme in einem einzigen Leben nicht zu Ende. Denn hier hat die Natur in einer einmaligen Laune von Verschwendung von den Elementen der landschaftlichen Schönheit alles in einen engen Raum zusammengerückt, was sie sonst sparsam auf ganze Länder verteilt und vereinzelt. Hier ist das Meer, aber Meer in allen seinen Formen und Farben, grün anschäumend am Strand von Copacabana von der unendlichen Ferne des Atlantischen Ozeans, bei Gávea wieder grimmig aufspringend an einzelnen Felsen und dann wieder in Niterói glatt und blau an den flachen Sandstrand sich schmiegend oder die Inseln zärtlich umschließend. Da sind Gebirge, aber jeder Gipfel und Hang anders geformt, schroff, grau und felsig der eine, umgrünt und weich der andere, spitz gestellt der Pão de Açúcar und wie von einem gigantischen Hammer flach geschlagen die Höhe von Gávea, hier zerrissen und zerzackt die Bergkette des Dedo de Deus, des Fingers Gottes. Jeder seine eigene Form eigenwillig bewahrend und doch alle in brüderlichem Kreise sich verbindend. Da sind Seen wie die Lagoa Rodrigo de Freitas und der von Tijuca, die die Berge, die Landschaft und gleichzeitig die elektrischen Linien der Stadt spiegeln, da sind Wasserfälle, kühl und schäumend aus den Felsen fallend, da sind Bäche und Flüsse, Wasser in allen seinen unfaßbaren Formen. Da ist Grün in allen Farben, Urwald bis knapp heran an die Stadt mit wuchernden Lianen und undurchdringlichem Dickicht, da sind Parks und gepflegte Gärten, die jeden Baum, jede Frucht, jeden Strauch der Tropen in scheinbarem Durcheinander und doch weiser Ordnung vereinen. Überall ist die Natur eine überschwengliche und doch harmonische, und inmitten der Natur die Stadt selbst, ein steinerner Wald, mit ihren Wolkenkratzern und kleinen Palästen, mit ihren Avenuen und Plätzen und farbig orientalischen Gäßchen, mit ihren Negerhütten und gigantischen Ministerien, mit ihren Badestränden und Kasinos – ein Alles-Zugleich, eine Luxusstadt, eine Hafenstadt, eine Geschäftsstadt, eine Fremdenstadt, eine Industriestadt, eine Beamtenstadt. Und über dem allen ein seliger Himmel, tiefblau des Tags wie ein riesiges Zelt und nachts besät mit südlichen Sternen; wo immer der Blick in Rio hinwandert, ist er von neuem beglückt.

Es gibt – wer sie einmal gesehen, wird mir nicht widersprechen – keine schönere Stadt auf Erden, und es gibt kaum eine unergründlichere, eine unübersichtlichere. Man wird nicht fertig mit ihr. Schon das Meer hat in einem sonderbaren Zickzack die Strandlinien gezogen und das Gebirge ihr in den Raum der Entfaltung steile Hänge geworfen. Überall trifft man auf Ecken und Kurven, alle Straßen schneiden sich in unregelmäßigen Formen, unablässig verliert man die Richtung. Wo man zu Ende zu sein glaubt, stößt man auf einen neuen Anfang, wo man eine Bucht verlassen, um in den Kern der Stadt zu dringen, gelangt man überrascht an eine andere Bucht. Auf jedem Weg entdeckt man etwas Neues, einen überraschenden Durchblick von den Hügeln, einen kleinen, wie aus der Kolonialzeit vergessenen Platz, einen Markt, einen palmenbestandenen Kanal, einen Garten, eine favela. Wo man hundertmal vorbeigegangen, findet man, wenn man aus Versehen eine Nebengasse nimmt, sich in einer anderen Welt: es ist, als ob man auf einer Drehscheibe stünde, die einen ununterbrochen zu anderen Ausblicken bringt. Dazu kommt noch, daß sich die Stadt mit einer radikalen Geschwindigkeit von Jahr zu Jahr, ja von Monat zu Monat verändert. Jemand, der ihr einige Jahre ferngeblieben, braucht geraume Zeit, um sich wieder zurechtzufinden. Man will einen Hügel hinauf, wieder einmal die alten romantischen Quartiere mitten in der Stadt zu sehen, und findet ihn nicht: er ist einfach abgeräumt, und ein mächtiger Boulevard, rechts und links von zwölf Stock hohen Häusern flankiert, durchquert die alte Stelle. Wo ein Felsen den Weg sperrte, ist jetzt ein Tunnel, wo das Meer zutraulich bis an den Strand kam, ein Flugplatz weit ins Meer gebaut, wo man vor drei Monaten noch an einer abgelegenen Küste im leeren weichen Sand hinstapfte, steht eine ganze Villenkolonie; all das geht hier mit traumhafter Geschwindigkeit. Überall geschieht etwas, überall ist Farbe, Licht und Bewegung, nichts wiederholt sich, nichts paßt zusammen, und doch paßt alles zusammen. Spazierenschlendern – in anderen Großstädten unergiebig und kaum mehr möglich – ist hier noch eine Lust und eine tägliche Entdeckungsfreude. Wo immer man sich befindet, überall wird dem Blick eine Wohltat getan. Man geht zu einem Freunde und schaut im Gespräch vom sechsten Stock zufällig aus dem Fenster: breit und majestätisch, wie man sie nie gesehen, breitet sich die Bucht mit ihren schimmernden Inseln und gleitenden Dampfern vor einem aus. Man tritt in derselben Wohnung in ein rückwärtiges Zimmer, und fort ist das Meer, aber entgegen glüht einem das Kreuz des Corcovado und die dunklen Gestalten der Sterne. Stundenweit glänzen die Lichter der Straße, und zugleich sieht man, wenn man sich vom Balkon vorbeugt, unten in ein Negerdorf mit kleinen Hütten und farbigen Lichtern hinein. Man will zur Stadt fahren, und der Weg geht quer über einen Berg; jeden Augenblick bittet man den Freund, der den Wagen chauffiert, anzuhalten, um einen andern überraschenden Ausblick nicht zu versäumen. Man will in ein Vorstadtviertel, um sich dort an den bunten kleinen Läden zu erfreuen, und findet sich plötzlich zwischen großen feudalen Palacetes mit hundertjährigen Gärten. Man fährt bei Santa Teresa mit der Tram den Berg hinauf, um ganz in der einsamen Natur zu sein, und ist plötzlich auf einem Aquädukt aus dem achtzehnten Jahrhundert und ein paar Minuten später inmitten einer Gruppe steiler Mietshäuser. In einer Viertelstunde kann man vom funkelnden Ufer des Meers auf einer Bergspitze sein, in fünf Minuten aus einer Luxuswelt in der primitivsten Armut der Lehmhütten und wieder mitten im kosmopolitischen Getriebe von blitzenden Cafés und zwischen einem Malstrom von Automobilen – alles geht hier durcheinander, ineinander, kreuz und quer, arm und reich und neu und alt, Landschaft und Kultur, Hütten und Wolkenkratzer, Neger und Weiße, altväterische Lastkarren und Automobile, Strand und Fels und Grün und Asphalt. Und all das glänzt und glüht in denselben vollen und blendenden Farben, schön das eine und schön das andere, beides immer neu durchmischt und immer faszinierend. Nie wird man müde, nie hat man genug. Nie hat man das volle Profil der Stadt erfaßt, denn sie hat Dutzende, nein Hunderte. Sie ist immer anders von jeder Seite, von jeder Fläche, von jeder Perspektive, anders von innen, von außen, von oben, von unten, vom Berg, vom Meer, von der Straße, vom Flugzeug, von der Fähre, anders von jedem Haus und anders von jedem einzelnen Stockwerk und jedem Zimmer dieses Hauses. Wer von Rio kommt, dem scheinen in allen anderen Städten dann alle Farben ohne Leuchtkraft, die Menschen auf der Straße monoton, das Leben zu ordentlich, zu einheitlich. Alles nach dem ist Ernüchterung, Abschattung nach diesem Rausch von Farben und Formen, nach der göttlichen Vielfalt dieser Stadt.

Man kann leben in Rio, wie man will. Der Gedanke ist verführerischer als anderswo, hier reich zu sein, in einem dieser von Parks umschlossenen Traumhäuser auf den Hügeln von Tijuca zu wohnen, und es ist doch gleichzeitig leichter hier, arm zu sein, als in einer anderen Großstadt. Das Meer ist frei für das Bad, die Schönheit frei für jeden Blick, die kleinen Notwendigkeiten des Daseins billig, die Menschen freundlich und unerschöpflich die Vielfalt jener kleinen täglichen Überraschungen, die einen glücklich machen, ohne daß man wüßte warum. Etwas Weiches und Entspannendes liegt hier in der Luft, das einen weniger kämpferisch, vielleicht auch weniger energisch sein läßt. Immer ist man hier der Empfangende in Schauen und Genießen, und unbewußt kommt einem von dieser Landschaft eine geheimnisvolle Tröstung wie immer von dem Schönen und Einmaligen auf Erden zu. Nachts mit ihren Millionen Sternen und Lichtern, tags mit ihren hellen und grellen, ihren heißen und explodierenden Farben, in der Dämmerung mit ihrem leisen Nebel und Wolkenspiel, in ihrer duftenden Schwüle und in ihrem tropischen Wetterguß, immer ist diese Stadt zauberhaft. Je länger man sie kennt, um so mehr liebt man sie, und doch, je länger man sie kennt, um so weniger kann man sie beschreiben.


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