Heinrich Zschokke
Ein Narr des neunzehnten Jahrhunderts
Heinrich Zschokke

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Oliviers Erzählung

Das Schicksal begünstigte mich eben damals, als es mit meiner Vernunft zum Durchbruch kam, ganz vorzüglich. Mein Vater, dessen Vermögensumstände durch unmäßigen Aufwand zerrüttet worden waren, hatte mir nach seinem Tode nur ein mäßiges Erbteil hinterlassen. Allein ich hatte die Aussicht, nach dem Tode meines Oheims ein sehr stattlicher Gutsbesitzer zu werden. Diese Aussichten waren aller Welt bekannt. Dazu kam noch, daß ich mit der Baronesse von Mooser, der Tochter des Kammerpräsidenten, verlobt worden. Sie war eine der ersten Partien im Lande, wie man so etwas zu nennen pflegte, das heißt, sie war sehr hübsch, sehr reich und Nichte des Kriegsministers. Die Heirat wurde von meinen Verwandten und dem alten Oheim eingefädelt; ich mußte, dem Lauf der Welt gemäß, einwilligen. Nur die Kränklichkeit meines Oheims, der bei mir Vaterstelle vertrat, verzögerte die Vermählung. Major war ich schon; bei der nächsten Beförderung sollte ich Oberstlieutenant werden. In ein paar Jahren konnte mir das Regiment nicht fehlen.

So standen die Sachen zu jener Zeit. Ich fand nun freilich, nach meiner Genesung zur Vernunft, daß die Sachen widerlich standen. Es ward mir unbehaglich, daß ich freier Mann mein Dasein durch Verwandte, an ein Mädchen, wegen Geldes, Herkunft und Protektionen hatte verkoppeln lassen, ohne zu wissen, ob das Mädchen mit seinen Eigenheiten, Ansichten, Fehlern und Neigungen zu mir gehören könne? Die Baronesse war allerdings hübsch und gut, allein nicht um ein Haar anders, wie Frauenzimmer von eben solcher Erziehung sind und sein können: gutmütig von Natur, aber durch Verkünstelung eitel, lebenslustig, leichtsinnig, stolz auf Verwandtschaft, auf Rang, auf Schönheit, witzig, und witzig auf Unkosten des Besten in der Welt; in allem mehr französisch, als deutsch. Ob sie mich wirklich ein wenig liebe, wußte ich nicht; daß ich für sie nicht mehr, als für jedes andere gebildete und hübsche Frauenzimmer fühlte, das wußte ich.

Ein Brief durch Eilboten forderte mich zu meinem kränklichen Oheim. Ich erhielt Urlaub vom General; schied von meiner Verlobten und ihren Eltern und reisete zum Oheim. Als ich ankam, war er schon gestorben und begraben. Ein alter Verwalter übergab mir die Schlüssel zu den Schränken, und das Testament. Ich entrichtete die wenigen kleinen Legate an die Dienerschaft, zog den Verwalter in mein Geheimnis, und erklärte mich öffentlich ganz arm, alles Vermögen meines Oheims unermeßlich verschuldet.

So kehrte ich in meine Garnison zurück und machte mein Märchen bekannt. Es war mir nur darum zu tun, die Denkart meiner Verlobten zu prüfen, und ob sie Mut genug haben werde, an meiner Seite der Welt zu entsagen und zu werden, wie ich. – Um die Sache noch auffallender zu machen, verkaufte ich alles, was ich entbehren konnte, um meine Schulden in der Stadt zu bezahlen, denn ich hatte deren in der Tat, alte und neue, eine ziemliche Menge. Meine Kameraden lachten mich aus, und besonders wenn ich vorgab, es sei mir darum zu tun, wenigstens ein ehrlicher Mann zu bleiben. Selbst der Kammerpräsident und seine Gemahlin rieten mir's ab: ich müsse keinen Eklat machen, ich blamiere mich und ihr Haus, ich gebe mir und ihnen ein Ridicule u. s. w.

Ich blieb bei meinem Sinn: Redlichkeit gehe über Glanz, und Armut sei keine Schande. Wer viel entbehren könne, sei reich. – Diese Redensarten, wie man es nannte, gefielen am allerwenigsten der Baronesse. Ihre Eltern gaben mir zu verstehen, ihr Kind sei an gewisse Aisances gewöhnt, sie selbst wären nicht reich genug, schon während ihres Lebens mir und der Tochter ein anständiges Sort zu machen. Kurz, nach wenigen Tagen traute man ganz unumwunden meinem eigenen Zartgefühl zu, daß ich die Verbindung freiwillig aufgeben werde. Ich nahm gar keinen Anstand, es zu tun, und zu erklären, ich fände es billig, weil hier keine Wahl tugendhafter oder liebender Herzen, sondern nur eine Übereinkunft und gegenseitige Geldabrechnung der Verwandten stattgefunden habe.

Meine vorgebliche Armut hatte aber noch ganz andere Wirkungen guter Art; nämlich die alten Freunde und lustigen Brüder suchten mich weniger auf. Doch tat mir's wohl, daß mich einige ihrer Hochachtung noch immer wert hielten. Die meisten wurden kälter und seltener. Also mit dem Gelde hatte ich für sie das höhere Interesse verloren. Desto besser! dachte ich: und desto wahrer darfst du reden und sein.

Ich hatte, und das war vorauszusehen, mit der Wahrheit so wenig Glück, wie jeder Andere vor mir. Seit einigen Wintern pflegte ich dem Offizierkorps Vorlesungen über wissenschaftliche Gegenstände zu halten. Ich war noch jetzt daran, sprach nun aber frei mein Inneres aus. Als ich aber mit folgenden Sätzen hervortrat: Jeder Krieg, der nicht für Unabhängigkeit und Sicherheit des Vaterlandes gegen fremde Unterdrücker geführt werde, sondern für persönliche Launen des Fürsten, Intrigen der Minister, Ehrgeiz der Höfe, um zu erobern, um sich in die Angelegenheiten anderer Völker zu mengen, um eine bloße Rache zu üben, sei ungerecht; stehende Heere seien die Plage der Länder, der Ruin der Finanzen, die Kerkerknechte des Despotismus, wo der Fürst Despot sein wolle; – der Soldat sei Bürger; – der Erb- und Briefadel heut Unsinn, der nur unter Wilden und Barbaren eine Art Sinn gehabt habe; – ich hoffe noch die Zeit zu erleben, daß alle Könige Europens durch ein Konkordat sich über Aufhebung der ungeheuren Zahl stehender Heere verständigen, und hinwieder alle waffenfähigen Bürger zu Soldaten machen werden; – Duellanten gehören ins Irren- oder Zuchthaus: – als ich mit diesen oder ähnlichen Sätzen hervortrat und ihre Richtigkeit erwies, an welcher der gesunde Menschenverstand nicht zweifeln könne, wurden mir die Vorlesungen verboten, und der General gab mir einen derben Verweis. Ich widersprach und bekam Arrest.

Das alles tat mir nicht weh; denn ich hatte es erwartet. Doch überall vollstreckt' ich meine Pflicht. Seit der Ungnade, in die ich beim General gefallen war, fingen auch die bessern Offiziere an, sich von mir zurückzuziehen. Man lachte und spöttelte viel über mich. Einige der witzigsten hielten mich für verrückt und meinten, das sei die Folge des Schreckens, den ich bei meiner vereitelten Hoffnung auf die große Erbschaft gehabt haben sollte. Bald ward ich so verlassen, daß selbst mein bisheriger Bedienter nicht mehr bei mir bleiben wollte, weil ich mich und ihn mit zu karger Kost nährte, den Kaffee abschaffte, selten Wein nahm, und ihm statt der bisherigen reichen Livree eine einfache, bequeme Tracht machen lassen wollte, ungefähr wie die, in der du mich jetzt siehst.

Dagegen erhielt ich zu derselben Zeit einen Brief, der mir für Alles Ersatz bot. Ich hatte nämlich vor Jahren ein armes Bettlermädchen weinend vor der Scheuer eines Bauernhauses gefunden. In der Scheuer lag auf Heu die Mutter des Mädchens sterbend, in Lumpen. Ich erfuhr von dem sterbenden Weibe, das selbst noch sehr jung war, es sei aus dem südlichen Deutschland, von armen aber rechtschaffenen Eltern, in den Dienst einer reichen Herrschaft getreten, dort vom Sohn des Hauses verführt, dann mit einem Stück Geld aus dem Hause gewiesen worden, habe nach ihrer Entbindung Dienst gesucht, aber wegen des Kindes nirgends langen Unterhalt gefunden, sei immer umhergestrichen, habe zuletzt nur von Almosen gelebt, und könne nun für ihre Tochter nichts als beten. – Ich lief in das Bauernhaus, um ihr Erfrischungen zu kaufen, denn der Bauer hatte ihr kaum den Ruheplatz in der Scheuer gestatten wollen. Als ich zurückkam zu ihr, lag sie schon entseelt auf dem Heu, und das Mädchen jammernd über dem Leichnam der Mutter. Ich tröstete die Kleine, so gut ich konnte; bestritt die Begräbniskosten der Verstorbenen, und schickte das verwaisete Mädchen, welches nicht einmal den Geschlechtsnamen seiner Mutter kannte, besser gekleidet in eine weibliche Erziehungsanstalt nach Rastrow. Es hieß Amalia, ich gab ihm zum Almosen noch den Beinamen Scheuer, nach dem Fundort.

Nun eben, da Alles von mir wich, erhielt ich aus der Anstalt Rastrow von dieser Amalia Scheuer einen Brief, der noch jetzt zu meinen Kleinodien gehört. Du sollst ihn lesen. Er rührte mich damals zu Tränen. Der Inhalt davon war ungefähr: Sie habe mein Unglück vernommen, und glaube, nun ihrem Vater, so pflegte sie mich zu nennen, nicht länger zur Last sein zu müssen. Sie werde suchen, als Erzieherin in einem guten Hause, oder durch Stickerei, Putzmachen, Unterrichten im Klavierspiel, oder auf irgend eine Art ihren Unterhalt selbst zu erwerben. Ich möge für sie unbekümmert sein; nun sei die Reihe an ihr, Kummer für mich zu haben. Du mußt den Brief selbst lesen mit den schönen Ausbrüchen von Dankbarkeit. Es ist die Abspiegelung der frömmsten, reinsten Seele. Sie bat noch um Erlaubnis, ein einziges Mal ihren Wohltäter zu sehen, dessen Bild ihr nur dunkel im Gedächtnis schwebe seit dem Todestag ihrer Mutter. – Ich schrieb ihr zurück, lobte ihre Gesinnungen, aber versicherte, sie habe nicht Ursache, sich zu übereilen; ich würde für sie sorgen, bis sie einen angenehmen Platz habe.

Eines Tages, da ich von der Wachtparade zurückgekommen, ward an die Tür meines Zimmers gepocht. Ein unbekanntes Frauenzimmer trat herein, ein liebliches Gesicht. Lilien und Pfirsichblüten mischten die Farben im Strauße nie schöner, als auf diesem Antlitz unter einer Lockenfülle des Haares. Sie fragte mit Erröten und zitternder Stimme nach mir; dann fiel sie in Tränen zerfließend nieder, umarmte meine Knie, und da ich erstaunt sie aufrichten wollte, bedeckte sie meine Hand mit ihren Küssen. Was mir ahnete, bestätigte endlich ihr Ruf: »O mein Vater! o mein Vater! o mein Schutzgeist!« Ich beschwor sie, aufzustehen. Sie bat mich, sie in dieser längst ersehnten Stellung verharren zu lassen, und sagte: »Ach, ich bin so selig, daß mein Herz bricht!«

Es währte lange, ehe sie sich erholte und aufstand. Dann schloß ich sie an mein Herz, drückte einen Kuß auf ihre helle Stirn, und befahl ihr, mich als Vater zu betrachten und Du zu heißen. Sie gehorchte. Aber mir hatte der väterliche Kuß etwas die Sinne verwirrt. Sie war in einem Gasthof abgetreten. Dort ließ ich sie einige Tage; aber diese Tage waren genug, über mein Wesen zu entscheiden. Als Amalia in ihre Anstalt zurückreisen wollte, gab ich ihr den Rat, in einer bürgerlichen Wohnung der Stadt zu bleiben, und Stickereien um Geld zu unternehmen. Es war mir zu schwer, mich von ihr zu trennen. Aber ihr verraten, daß ich reich sei, wollte ich auch nicht. Ich mußte sie prüfen. Ich mietete ihr einige Zimmer, nahm eine Magd zu ihrem Dienst, versorgte sie mit Flügel, Harfe, Büchern, nach wenigen Tagen auch mit Aufträgen zu Stickereiarbeiten, die ich freilich alle auf eigene Kosten machen ließ, aber vorgab, sie kämen von fremder Hand. Ich besuchte sie wöchentlich nur ein- oder zweimal, um Aufsehen und üble Deutung zu meiden.

Jeder Besuch war mir ein Fest. Du kannst dir's denken, wie süß es mich durchdrang, zu wissen, es lebe unterm Monde ein Wesen, das mir Alles schuldig sei, das keinem zugehöre in der Welt, als mir, das von meiner Fürsorge Alles erwarte: und dies Wesen sei von allem, was die Natur mir jemals Schönes, Frommes, Edles gewiesen, das Auserlesenste. – Amaliens Schönheit und demütiger Stand waren bald in der Stadt kein Geheimnis. Sie zog die Blicke auf sich. Man sprach mir davon, und ich verhehlte nicht, daß ich ihr Pflegevater sei, und sie ein armes Kind von unehelicher Geburt. Man brachte ihr bald Arbeiten über Arbeiten, denn ich hatte ihr untersagt, je in ein fremdes Haus zu gehen. Frauenzimmer kamen zu ihr, weniger der Stickereien wegen, als die vielgepriesene Anmut des Mädchens in der Nähe zu sehen.

Eines Tages, da ich Amalie besuchte, hörte ich, indem ich vor der Tür ihres Zimmers stand, daß sie mit einem Mann in heftigem Wortwechsel war. Ich erkannte die Stimme meines Oberstlieutenants. Als ich die Tür öffnete, wollte er ihr einen Kuß rauben. Ich warf ihm sein unanständiges Betragen vor, und da er Umstände machte, flog er unter meinen Händen zur Tür hinaus, die Treppe hinab. Er glaubte, ich habe seine Ehre beschädigt, und forderte mich zum Duell. Ich wies ihn mit seiner Narrheit ab. Das Korps der Offiziere drohte, nicht mehr neben mir dienen zu wollen, weil ich ein Feiger wäre. Das war ich nicht, ging auf den bestimmten Kampfplatz wehrlos, und sagte dem Narren, wenn er Lust habe zum Meuchelmord, so gebe ich ihm Erlaubnis dazu. Jetzt schimpften er und die Offiziere pöbelhaft. Sie glaubten, nach ihren barbarischen Vorstellungen, damit sei meine Ehre tödlich verwundet, wenn sie sich selbst durch Pöbelei entehrten. Ich fragte sie dagegen, ob Gassenbuben, die einen achtbaren Mann auf der Straße mit Kot bewürfen, dadurch achtbar, hinwieder der achtbare Mann dadurch zum Gassenbube würde?

Am andern Morgen bei der Parade übergab mir ganz unerwartet mit zierlicher Rede der General einen vom Hofe erteilten Orden. Dieser war noch Spätfrucht meiner ehemaligen Verbindungen mit der Baronesse von Mooser, und das Werk ihres Oheims, des Kriegsministers. Ich konnte das Bändlein, nach meinen Begriffen von Verdiensten, gar nicht annehmen. Und hätte ich wirklich ein Verdienst um den Staat gehabt, würde ich mich geschämt haben, die Belobung desselben alle Tage prahlerisch mit mir umherzuschleppen. – Meine standhafte Weigerung, das Läppchen mit dem Sternlein anzunehmen, war in den Jahrbüchern der Monarchie unerhört. Meine Äußerung: Pflicht und Tugend lassen sich nicht belohnen, sondern nur anerkennen; aber auch nicht anerkannt, tue der Biedermann seine Pflicht; am wenigsten lasse er sich zwingen, vor andern Leuten mit dem, was er geleistet, groß zu tun: – diese Äußerung galt für Jakobinerei und Unsinn. Der General ward wütend. Nun traten die Offiziere wegen ihrer, wie sie meinten, schadhaft gewordenen Ehre auf. Ich bekam Verhaft, und nach wenigen Wochen Abschied vom Regiment.

Deß war ich wohl zufrieden. Jetzt kleidete ich mich bürgerlich, wie ich wollte; eben nicht nach der herrschenden welschen Mode, aber bescheiden, bequem, naturgemäßer, wie du uns hier alle in Flyeln siehst. Die Leute sperrten die Augen auf und hielten mich für närrisch, und das um so mehr, als sie erfuhren, ich sei nichts weniger denn arm, sondern einer der begütertsten Männer des Landes. Nur Amalie wußte, warum ich so handle. Ich hatte sie mit meinen Ansichten der heutigen Welt vertraut gemacht und mit meinen Grundsätzen. Sie selbst ein Naturkind, einfach und geistvoll, billigte meinen Sinn und lebte ganz in demselben. Freilich auf Malchens Urteile konnte ich nicht stolz sein, denn es waren nur meine eigenen. Sie dachte, sie empfand nichts, als was ich; ihr Wesen war aufgelöst in dem meinigen. Ihre ehrfurchtsvolle, töchterliche Liebe war ohne ihr Wissen in die reinste, schamvollste und innigste der Jungfrau übergegangen, und ich freilich schien mir selbst für die Vaterrolle etwas zu jung.

Als ich eines Tages ihr davon sprach, daß ich auf meine Güter zurückzugehen gedenke, bat sie, mir folgen zu dürfen; sie wäre glücklich, mir dort als Magd dienen zu dürfen. Und als ich stockend sagte, ich gedenke mich zu vermählen, senkte sie mit gefalteten Händen ihr Haupt, und sie sprach: »Desto besser, deine Gemahlin wird keine getreuere Dienerin finden, als mich.« – »Aber«, sagte ich, »meine künftige Gemahlin denkt schon jetzt nicht so vorteilhaft von dir, als du verdientest.« – »Was habe ich bei ihr schon verschuldet?« antwortete sie mir mit aufgehobenem Antlitz und allem Stolz der Unschuld. »Zeige mir deine Braut, ich werde um ihre Huld und Achtung werben.« – Ich führte Malchen vor den großen Spiegel des Zimmers, zeigte hinein und sagte stammelnd: »da siehst du sie.« – Sie machte bei diesen Worten eine Bewegung des Schreckens, sah mich erblassend mit ihren großen, blauen Augen an, worin eine Frage erstarb, und sagte dann zitternd: »mir ist nicht wohl!« sie sank totenhaft nieder. Ich rief der Magd. Ich war vom Entsetzen gelähmt.

Als Amalia genas und sich nach dem Schlummer der Ohnmacht ihre Wangen färbten, und sie die Augen aufschlug, war ihr Erstes ein sanftes Lächeln gegen mich, dann Verwunderung über meinen und der beschäftigten Magd Kummer. Erst allmählich kehrten ihr Erinnerungen zurück. Sie glaubte geschlafen zu haben. Ich wagte kaum von dem Vorgefallenen zu reden. Als wir wieder allein waren, sagte ich: »Amalia, warum erschrakst du vor dem Spiegel? Warum darfst du nicht meine Braut sein? Rede offen, ich bin gefaßt, Alles zu hören.« – Sie errötete, war lange stumm, den Blick am Boden. – »Warum darfst du nicht?« fragte ich noch einmal. Da seufzte sie und sah zum Himmel: »Dürfen? o Gott, dürfen! Was darf ich noch anders, als was du willst? Kann ich denn selig sein, kann ich denn atmen, ohne dich? Ob deine Magd, ob deine Braut, alles eins, denn ich habe nur eine Liebe für dich.«

Während ich in den Vorhallen des Himmels lebte, war die Stadt vor Erstaunen außer sich; waren meine Verwandten väterlicher und mütterlicher Seits in Grausen und Verzweiflung, als ich die nahe Vermählung mit Amalien ankündete. Ein Freiherr, aus altadelichem Geschlecht, dessen Altvordern im Dienst der Könige die höchsten Würden bekleidet hatten, ein turnier- und stiftsfähiger Baron des Landes, mit den ersten Familien des Landes blutsverwandt, geht die heilloseste Mesalliance ein, nicht einmal mit einer Briefadelichen, nicht einmal mit einer vornehmen Bürgerlichen, nicht einmal mit einer ehrlichen Handwerkerstochter, nein, mit einem Bettelmädchen von unehelicher Abkunft! – Man schrieb mir Drohbriefe aus meiner ganzen Verwandtschaft, man werde sich meiner öffentlich schämen, mich von künftigen Erbschaftsfällen ausstoßen, mich durch Verwendungen beim allerhöchsten Ort zu zwingen wissen. Es kam alles zu spät, denn nach vierzehn Tagen schon war mir Amalia förmlich vor dem Altar angetraut worden.

Was soll ich dir von den Torheiten erzählen, welche die Menschen, behaftet mit ihren Vorurteilen, begannen, sobald ich's darauf anlegte, als ehrlicher, natürlicher Mensch zu leben, streng, der Wahrheit gemäß, mit Verbannung aller Schnörkeleien, aller Tanzmeisterhöflichkeiten, aller Ausländereien, aller sogenannten Konvenienzen, ohne jedoch deswegen ein würdiges und anständiges Betragen aus den Augen zu setzen. Mein einfaches Du, mit dem ich Jeden anredete und von Jedem angeredet zu werden bat, schreckte sogleich Jeden von mir, als wäre ich mit Pestbeulen bedeckt. Mein Bart wurde zum Gespötte; mein freundliches Grußerwidern ohne spießbürgerliches Hutabziehen auf den Gassen zur ungeheuern Grobheit. Ich ließ mich nicht irre machen. Einmal mußte Bahn gebrochen werden. Ich wollte sehen, ob es im neunzehnten Jahrhundert erlaubt sei, in einer europäischen Stadt mit Wegwerfung aller Schnurren, aller verschrobenen Begriffe über Ehre, Sittlichkeit, Recht, Anständigkeit, aller Lächerlichkeiten von Titulaturen und Komplimenten, die nichts sagen, zu leben? Weit entfernt, Jemanden durch irgend eine Unart zu kränken, Jemandem wegen seines Vorurteils, seines Wahns, seiner moralischen Verzerrung Vorwürfe zu machen, ward ich gefälliger gegen Jeden. Ich suchte die Menschen, von welchen ich äußerlich so sehr verschieden war, wie ich es längst schon in meinem Innern gewesen, durch Güte, durch Wohltun mit mir zu versöhnen. Es war fruchtlos.

Ich begab mich auf meine Güter hierher nach Flyeln. Ich fand Vergnügen daran, mit meinen Angehörigen bekannt und vertraut zu werden. Sie waren damals Halbwilde; sie waren Leibeigene. Sie krochen vor ihrem Erbherrn sklavisch. Keiner konnte lesen und schreiben. Sie waren träg und unsittlich. Faulenzen, Saufen, Raufen schien ihr Himmel. Aberglaube war ihre Religion; tote, abgöttische Werkheiligkeit ihre Religiosität; und Betrug und Lug ihre Klugheit. Ich beschloß, aus diesem Vieh Menschen zu machen. Ich ließ die Gefängnisse verbessern, und ein großes Schulhaus bauen; ich und Amalia besuchten alle Hütten; es waren kotige Ställe. Ich gebot, bei schwerer Strafe, die strengste Reinlichkeit. Wer nicht gehorchte, kam in den Kerker, hinwieder den Gehorsamen beschenkte ich zur Aufmunterung mit Tischen, Spiegeln, Sesseln und anderm Hausgerät. Bald war alles in den Häusern wohlgeordnet und sauber. Ich verbot Kartenspiel, Branntewein, Kaffee, Rauferei, Fluchen und Schwören u. s. w. Wer fehlte, ward herbe gezüchtigt, wer gehorchte und einen Monat lang nie Ursache zum Tadel gab, dem entließ ich Frondienste. Ich gab dem alten Pfarrer einen Gnadengehalt; wählte einen jungen, gelehrten, trefflichen Geistlichen, der ganz in meine Idee eintrat, an die Stelle des vorigen; ernannte einen im wechselseitigen Unterricht geübten, in der Schweiz bei Pestalozzi erzogenen Jüngling zum Schulmeister mit gutem Gehalt, und vollendete mit diesen beiden Gehilfen die Reformation. Ich selbst hielt wöchentlich zweimal Schule, aber mit erwachsenen Jünglingen und jungen Männern; der Pfarrer mit den ältern Männern und Greisen; Amalia mit den Jungfrauen; des Pfarrers Frau mit den Müttern. Ich ließ alle Kinder neu kleiden auf meine Kosten, so wie du sie noch jetzt siehst. Auf unsere Kosten änderte Amalia die ungestalte Tracht der Mädchen.

Schule und Gefängnis wirkten; noch mehr der Eigennutz. Sich bei mir einzuschmeicheln, ließen die jungen Männer den Bart wachsen. Ich verbot das den Leibeigenen; nur den Freien war erlaubt, den Bart zu tragen. Sklaven mußten geschoren gehen. Ich tat die Pforte zur Freiheit auf. Wer seine Felder nach meiner Vorschrift am besten baute, erhielt dieselben Ende Jahrs gegen geringen, doch loskäuflichen Bodenzins, zum Eigentum und dazu Befreiung vom Frondienst. Wer im zweiten Jahr der Sparsamste, Fleißigste, Verständigste war, empfing seine Freiheit, sein Haus eigen, einen Vorschuß an Geld, ein Ehrenkleid, nach meiner Tracht gemodelt, er durfte den Bart wachsen lassen. Schon am Ende des ersten Jahrs hatte ich Anlaß und Recht, ja sogar Verpflichtung, mehrere ausgezeichnete Familien frei zu sprechen; sie gehörten schon vor meiner Ankunft zu den bessern. Dies erweckte bei Vielen Neid, bei Allen Anstrengung zur Nacheiferung, um so mehr, da ich von den Freien im Gericht an Gerichtstagen zu mir sitzen und sie über die Fehlbaren mitrichten ließ. Die Beisitzer des Gerichts wurden aus der Mitte der Freien von ihnen selbst erwählt.

Während ich mich hier um die übrige Welt wenig bekümmerte, bekümmerte sich diese desto mehr um mich. Ganz unerwartet erschien auf ministeriellen Befehl, den meine Verwandten bewirkt hatten, eine außerordentliche Kommission, meine Gesundheits- und Vermögensumstände zu untersuchen. Man hatte mich für wahnsinnig ausgeschrien und als verschwende ich mein gesamtes Vermögen auf die tollste Weise. Die Herren der Kommission taten sich ein paar Monate lang gütlich. Ich weiß nicht, welchen Bericht sie abgestattet haben, aber vermutlich, weil ich vergaß, ihnen Gold in die Hand zu drücken, den unvorteilhaftesten. Denn ohne Rücksicht auf meine Beschwerden und Rechtsverwahrungen ward ich wie ein Blödsinniger behandelt, und auf meine Güter eingebannt. Es wurde mir ein Administrator meines Vermögens zugesandt, der zugleich mein Betragen beobachten, und jeden Besuch von Fremden abhalten mußte. Zum Glück war der Administrator ein rechtschaffener und nicht unverständiger Mann; darum wurden wir bald einig und Freunde. Als er meine Rechnungen durchgesehen hatte, erstaunte der gute Mann über die Strenge der Ökonomie, und begriff, daß ich durch diese und durch das allmähliche Auflösen der Leibeigenschaft und der Frondienste eher gewänne, als verlöre. Aus langer Weile half er mir selbst bei den Vermenschlichungsversuchen meiner Sklaven. Er hatte dabei noch einige gute Einfälle, wie z. B., daß die Freigelassenen fünf Jahre lang Rechnung von ihren Ausgaben und Einnahmen vor Gericht ablegen mußten, um versichert zu sein, daß sie sich nicht verschlimmerten und heimlich nachlässig würden. Der gute Mann ward zuletzt ganz begeistert von unserer Flyeler Wirtschaft, denn er sah, wie von den wohlberechneten Schritten selten einer ganz vergebens getan war. Schon im zweiten Jahr meines Hierseins zeichneten sich die Landleute in unsern Ortschaften vor allen der ganzen Gegend durch Häuslichkeit und Kenntnis und Ehrbarkeit aus. Man hieß sie anderwärts nur Herrnhuter, und in den benachbarten Dörfern glaubt man noch heutiges Tages, die Flyeler hätten eine andere Religion angenommen.

Der Administrator und Vormund fand meine Ansicht der Welt in den Hauptsachen vollkommen richtig. Er wünschte sogar, daß man allgemein auf Vereinfachung und größere Wahrhaftigkeit in Sitte, Wandel und Leben zurückkommen möchte. Nur der Bart war ihm zuwider; seinen steifen Zopf im Nacken und den Puder im Haar verteidigte er auf Tod und Leben; auch das Du war ihm anstößig, und er konnte es gegen Amalien und mich, trotz aller Anstrengung, nicht über die Lippen hervordrängen. Inzwischen hatte sein Bericht über mich, nach dem ersten Jahr seiner Administration, und nachdem er über die Gesamtverwaltung meines Vermögens an die Regierung die befriedigendsten Aufschlüsse gegeben hatte, die gute Folge, daß ich wieder in die Selbstadministration eingesetzt wurde, doch aber mit einstweiliger Verpflichtung, jährlich davon Rechenschaft abzulegen. Das war das Werk meiner Verwandten. Denn sie ließen sich nicht ausreden, ich habe einen guten Teil des gesunden Menschenverstandes verloren, obgleich mich mein bisheriger Vormund nur für einen wunderlichen Sonderling hatte geltend machen wollen. Eben deswegen, und damit ich durch meine neuerungssüchtigen Irreden, nämlich durch mein unverhohlenes Aussprechen dessen, was Natur und Vernunft gutheißen, kein Ärgernis gebe, ward mir verboten, mich ohne besondere höchste Erlaubnis über die Grenzen meiner Güter hinauszubegeben, das heißt, das große europäische Narrenhospital nicht zu besuchen, sondern es bloß aus den Zeitungen kennen zu lernen. Dabei konnte ich nur gewinnen.

Es sind nun beinahe fünf Jahre, daß ich hier in meiner glückseligen Einsamkeit wohne. Gehe hinaus, betrachte meine Felder und die Felder unserer Bauern, und unsere Waldungen, unsere Herden und Wohnungen! Du wirst einen aufblühenden, vorher hier nie gekannten Wohlstand erblicken. Alle meine Leibeigenen sind frei. Ein einziger Trunkenbold und ein anderer träger, roher Kerl schienen unverbesserlich. Der Trunkenbold starb. Den andern bekehrten weder Hoffnungen noch Strafen. Als aber alle Flyeler den Bart trugen, und er und der Pfarrer nur allein glattkinnig gingen, machte das auf den Kerl eine wunderbare Wirkung. Denn auch der Pfarrer wagte es endlich, den Bart stehen zu lassen. So blieb der Leibeigene allein der Geschorene. Das konnte er nicht ertragen. Er besserte sich, um unter ehrlichen Leuten ehrlich zu sein.

Den guten Pfarrer kostete sein Bart beim Konsistorium vielen Verdruß. Umsonst bewies er, daß der Bart nicht für und wider den wahren Glauben sei; umsonst berief er sich auf die heiligen Männer des alten und neuen Bundes; umsonst zeigte er, daß er, indem er sich seiner Gemeinde in allem gleich mache, am besten wirken könne; daß er eben dadurch wirklich einen für unverbesserlich gehaltenen Menschen im bisherigen Lebenswandel geändert habe. Der Bart gab zu vielen Konsistorialverhandlungen Anlaß. Erst nachdem mein Pfarrer ärztliche Zeugnisse beibrachte, daß er, sonst immer vom Zahnweh leidend, nur durch den Bart gegen diese Not geschützt sei, ward ihm derselbe, seiner Gesundheit willen, doch unter Beschränkungen, gestattet.

Ich bestelle jetzt nicht nur mit meinen freien Leuten das Dorfgericht, sondern habe ihnen auch das Recht erteilt, sich unmittelbare Vorsteher zu ihrer Gemeindsverwaltung zu wählen. Ihr Ehrgefühl ist geweckt; sie fühlen ihre Menschenwürde. Von Zeit zu Zeit speisen ausgezeichnet wackere Leute an meinem Tische mit ihren Frauen. Ich bin ihres Gleichen. Die Gleichförmigkeit der Kleidertracht stellt eine gewisse Vertraulichkeit her, ohne die Ehrfurcht zu schwächen. Vor alten Leuten müssen die Kinder aufstehen und das Haupt entblößen; aber keiner entblößt vor seines Gleichen das Haupt. Jede erwiesene boshafte Lüge gehört bei uns zu den Verbrechen, wie der Diebstahl. Die Leute, nun sie sich selbst richten, sind strenger, als ich es ehemals war. Ich muß ihre Urteile oft mildern. Unsere Schulen sind brav. Die fähigern Knaben lernen auch Geschichte der Welt, Kenntnis der Erde und ihrer Länder und Völker, Feldmeßkunst und etwas vom Bauwesen. In der Kirche haben wir schönen vierstimmigen Gesang und Andacht.

Doch, lieber Norbert, besser, du bleibst einige Tage bei uns, und siehst selber; kannst du, so verweile einige Wochen.


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