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Hier endete Olivier die Vorlesung. Er sah mich mit fragenden Blicken an.
Lächelnd sagte ich: »Man muß gestehen, der Ton darin ist gut gehalten. Ungefähr so würde einer der alten griechischen Weisen von den barbarischen Nationen Asiens seiner Zeit gesprochen haben, wenn er sie besucht hätte. Recht brav! Selbst der edeln Steifheit der Schreibart merkt man an, daß diese Fragmente nur Übersetzung sind. Indessen glaube ich doch nicht an ihre Echtheit. Wir haben nichts von Pytheas, meines Wissens, als...«
Es unterbrach mich Olivier mit unmäßigen Gelächter, und rief: »O du armer Norbert, du Kind des achtzehnten Jahrhunderts, der du immer nur an der Oberfläche und Schale der Dinge herumtastest und den Kern darüber vergissest, der du immer mit dem Schein zu schaffen hast, und nicht in das Wesen dringest, siehst du und hörst du denn nicht, daß du selbst ein Bürger von Thule bist? – Was? Asien? Nein, so würde ein Weiser der griechischen Vorwelt von euch Europäern geredet haben, wenn er euch zu seiner Zeit hätte besuchen können!«
»Du hast Recht, Olivier; du ließest mich nur nicht zu Ende kommen. Ich wollte noch hinzusetzen, es sind diese Fragmente eine Art lettres persannes. Die Rede ist von uns. Die treffende Wahrheit ist unverkennbar.«
»Ich verstehe dich nur halb, dich Kunstmenschen. Nicht so, du beurteilst die Kunst des Verfassers, ob er die Wahrheit getroffen habe? Oder meinst du, die Wahrheit habe dich getroffen?«
»Beides! Doch auf dich, lieber Olivier, machte sie schmerzlichere Eindrücke, wie du vorhin erzähltest, du lagest mit diesem Buche im Schatten eines Ahorns. Erzähle weiter.«
»Gut da lag ich. Wie ich die Fragmente gelesen hatte, warf ich das Buch von mir, sank mit dem Haupte ins Gras zurück, starrte über mir in die dunkle Bläue des ewigen Himmels hinaus, hinaus in die Tiefen des nirgends umuferten Weltalls, und dachte Gott den Alleserfüllenden, Alles mit Liebe und Herrlichkeit Durchdringenden; und dachte an die Ewigkeit meines Daseins in dieser Unendlichkeit; und verstand in dem Augenblick dieser erhabenen Vorstellungen viele Worte Christi besser, des Wiederoffenbarers der göttlichen Verhältnisse unserer Geister: In unsers Vaters Haus sind viele Wohnungen. Wenn ihr nicht werdet wie die unschuldigen, natürlichen Kindlein. Wer mein Jünger sein will, der verleugne die Torheiten der heutigen Welt, und nehme mein Kreuz mutig auf sich. – Und ich sah die Göttlichkeit Christi nie heller als damals. Ich dachte an die Entartungen des Menschengeschlechts, wie dasselbe von Jahrtausend zu Jahrtausend aus der Wahrheit, Einfalt und Seligkeit der Natur immer weiter abgeirrt war zum tierischen, verkünstelten, wahnsinnigen, schmerzensvollen Leben. Ich flog in meinen Gedanken zurück in die Urwelt, zu den ersten Völkern, zu den einfachen Denkweisen der hohen Alten. Ich seufzte, ich fühlte Tränen in meinen Augen. Ich ward in meinen Gedanken wieder ein einfaches Gotteskind. Warum kann ich nicht wahr fühlen, wahr denken, wahr reden, wahr handeln wie Jesus Christus? Kann ich die Fesseln des Gewohnten abstreifen? Was hindert mich, als dumme Scheu, unter Wahnsinnigen, unter verkehrten Barbaren ein Vernünftiger, ein Gottesmensch zu sein? So sprach ich. In meiner Einbildung war ich's nun schon. Ich schloß die Augen. Ich empfand eine unaussprechliche Seligkeit, von der in ihrer Vertierung sich quälenden Welt, mit Gott, mit der Natur, dem Weltall, der Ewigkeit, wieder versöhnt und eins zu sein. So lag ich lange; denn als ich die Augen öffnete, war die Sonne verschwunden und das Abendrot umschwamm und vergoldete Alles. Ich wähnte in einer andern Welt zu atmen.«
»Ich kenne diese heiligen Zustände!« sagte die Baronin.
»Da ich mich erhob, um in die Stadt zurückzukehren«, fuhr Olivier fort, »und meine Uniform an mir erblickte, durchzuckte es mich wie ein Blitz. Ekelhaft lag die Welt mit allen ihren Torheiten, mit allen ihren Widersinnigkeiten vor mir da; nie heller sah ich den gräßlichen Abfall der Menschheit von dem Ewigen, Wahren und Heiligen, als in jenem Augenblick. Ich erkannte, daß Sokrates, lebte er heut', noch einmal den Giftbecher trinken müßte; daß Christus, lebte er heut' in unsern Städten, in jeder Stadt sein Jerusalem wieder finden, und von den christlichen Sekten einstimmig zum Kreuz geführt, von den Fürsten als Feind der alten guten Ordnung, als Volksverführer, als Schwärmer verurteilt werden müßte. – Ich schauderte. Da fragte ich mich im Gehen mit lauter Stimme: Hast du Mut? – Der feste Wille durchdrang mich. Ich antwortete mit lauter Stimme: Ich habe Mut. Es soll sein. Ich will vernünftig werden, erfolge daraus, was wolle.
Am andern Morgen – ich hatte einen erquickenden Schlaf getan und fast Alles, was ich den Abend vorher gedacht, vergessen – fiel mir dies Buch wieder in die Augen. Ich erinnerte mich meines Entschlusses wieder. Nun erkannte ich das Gefährliche meines Wagstücks. Ich ward schwankend. Und doch mußte ich die Wahrheit meiner gestrigen Überzeugungen anerkennen. Wer mein Jünger sein will, soll alles verleugnen. Ich durchdachte meine häuslichen und öffentlichen Verhältnisse. Ich kam mir vor, wie der reiche Jüngling im Evangelium, der traurig von Christo schied. Da fragte ich mich wieder: Hast du Mut? – Und mit lauter Stimme antwortete ich: den will ich haben.« – Und so beschloß ich von Stund an vernünftig zu handeln, im Kleinsten wie im Wichtigsten. Nur den ersten Schritt getan und den Hohn der Menschen nicht geachtet, wird jeder folgende Schritt leicht.«
»Ich zittere für dich, du edler Schwärmer!« rief ich und drückte ihm die Hand: »Nicht so, du erzählst mir doch den Ausgang deines Wagstücks?«
»Warum nicht? Aber so etwas muß im Freien geschehen, unterm Himmel, unter den Bäumen, im Anblick des weiten Meeres!« sagte Olivier: »Denn, lieber Norbert, in der Stube, zwischen Wänden und Mauern sieht manches vernünftig aus, was in der freien Natur, wo sich die Seele gleichsam in das große, reine All auflöset, gar hirngespinstisch und träumerisch erscheint. Und umgekehrt findet man draußen in den Umgebungen der Gottesschöpfung, wo das Ewige und Wahre bleibend steht, daß manches vollkommen richtig sei, was inner den Wänden einer Wohnstube voller häuslichen Rücksichten, oder inner den Wänden eines philosophischen Lehrsaales, eines Audienzzimmers, eines Ballsaals, eines prunkvollen Gesellschaftszimmers, wie überspanntes Wesen, wie Albernheit, wie Schwärmerei oder Verrücktheit erscheint. Also komm' ins Freie!«
Er nahm mich beim Arm. Die Baronin ging zu ihren Kindern. Olivier führte mich durch den Garten auf einen Hügel, wo wir im Schatten eines Felsen lagerten. Über uns schwammen im weiten Luftmeer die zarten Zweige der Birken; unter uns die blitzenden Wogen des Ozeans ins Unendliche.
Olivier erzählte dann ungefähr folgendermaßen: