Heinrich Zschokke
Der Freihof von Aarau
Heinrich Zschokke

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10.
Die nächtliche Erscheinung.

Der junge Ritter stieg sehr verstimmt und düster in sein hochgetürmtes Bett. Er befand sich an einem Scheidewege des Lebens. Seine Eitelkeit, sein Ehrgeiz, seine Liebe zur reizenden Ursula lockten ihn links, zeigten ihm den Besitz eines schönen Weibes, die Verbindung mit mächtigen Häusern, die Erbschaft reicher Güter, die Huld des Markgrafen von Hochberg, die Wiederauffrischung des alten Glanzes vom ritterlichen Stamme der Trüllerey. Aber männlicher Stolz, Liebe zum Vaterlande und Gerechtigkeit mahnten ihn, den entgegengesetzten Weg einzuschlagen, als ein freier, frommer, selbständiger Mann, der für die bessere Überzeugung das Teuerste opfern müsse. Dort winkten Einbildungskraft und Leidenschaft zum Genuß der Liebe, des Ruhms und des Reichtums; hier warnte der Verstand, nicht den Frieden des Gemüts und das Glück des Lebens um fremdes Geld, um ungewisse Fürstengunst und um die Hand eines herrschsüchtigen und wankelmütigen Weibes hinzugeben. Vielleicht würde der Streit eher entschieden gewesen sein, wäre Ursula minder schön, oder Gangolfs Neigung zu der verführerischen Braut weniger tief gewesen.

Er mochte kaum einige Stunden unruhigen Schlummers genossen haben, als ihn ein Geräusch an der Thür des Gemaches weckte. Die Thür ging langsam auf; ein dunkelrotes Licht strömte heller und heller durch die sich erweiternde Öffnung. Gangolf richtete sich mit halbem Leibe, nicht ohne Bestürzung, auf, als er seinen Vater eintreten sah, der in der Hand eine brennende Lampe trug. Die Lampe, der lange schwarze Pelzrock, das blasse Antlitz, welches aus dem, um das Haupt geschlagenen und unter dem Kinn zusammengehefteten Tuche hervorschaute, gaben der hohen Gestalt des Greises etwas Gespensterhaftes.

»Seid Ihr es, mein Vater?« fragte Gangolf mit ungewisser Stimme.

»Stehe auf, Gangolf, und folge mir!« antwortete jener.

Gangolf gehorchte, sprang aus dem Bette und warf die Kleider um. Sobald er seinen Anzug vollendet hatte, ging Herr Rüdiger voran und winkte dem Sohne. Dieser folgte ihm die engen Wendeltreppen hinab, dann unten in einen schmalen Seitenweg, wo in der dicken Mauer des Turmes eine Thür angebracht war, welche Gangolf wohl kannte, und für die Thür eines Mauerschrankes gehalten hatte.

»Rede kein Wort, Gangolf,« sagte der Alte, »sondern höre und gehorche schweigend.«

Er zog einen großen Schlüssel hervor, öffnete die Thür, kroch gebückt durch das Pförtchen voran, ging wieder einige Stufen abwärts, öffnete eine zweite niedrige Thür und trat in ein enges Gemach, kaum sechs Fuß hoch und ebenso lang und breit. Dem jungen Ritter wurde es in dieser, ihm bisher fremd gebliebenen Gegend des Turmes etwas unheimlich; noch mehr, als er zu seinen Füßen im Stroh einer menschlichen Gestalt ansichtig wurde, die er beim Eintritt nicht bemerkt hatte. Ein altes Weib, in Lumpen gewickelt, schwarzgelben Gesichts, mit hervorstehenden Backenknochen, spitzem Kinn, spitzer Nase und dünnen Lippen, richtete sich auf. Es strich die schwarzen Haupthaare, welche, wie aus dem Wasser gezogen, in einzelnen, geraden, naßglänzenden Zotteln um den Kopf hingen, vom Gesicht, und zeigte gähnend den zahnlosen, finstern Rachen. Der junge Ritter trat mit Grausen so weit zurück, als ihm der enge Raum gestattete. Er zweifelte keinen Augenblick, daß dies eben jene Zigeunerin sein müsse, die Irni Fäsen beschrieben hatte; die nicht entwischt, sondern bisher in der Veste verborgen gehalten worden war.

»Stehe auf, Du bist frei!« sagte der greise Rüdiger zu dem Weibe: »Mein Sohn führt Dich hinaus.« Dann wandte er sich mit halber Beugung zum Sohne um und sagte: »Führe das Weib durch das Hinterpförtchen zur Stadtmauer; hier ist der Schlüssel. Du wirst eine Leiter vom Stall nehmen und das Weib über die Mauer gehen lassen. Aber, Gangolf, alles in der Stille, daß Dich niemand bemerke. Du wechselst mit dieser Vettel kein Wort, beantwortest keine Frage und fragst nicht.« Darauf sprach er wieder zur Alten, die nun aufgestanden war, ihre Röcke schüttelte und ein schmutziges Bündel unter den Arm nahm: »Bist Du über die Stadtmauer, so halte Dich links, immer der Mauer entlang, um die Stadt herum, in die Schachen; von da auswärts zur Landstraße, die nach Schönenwerth führt. Über die Bäche und Gräben findest Du Stege; noch ist's vom Schein der Sterne hell genug, doch der Tag graut schon. Fort!«

Er selber leuchtete mit der Lampe voran, öffnete Gangolf und der Zigeunerin die Turmpforte zum Schloßzwinger und ließ beide gehen.

»Lebe wohl, alter Schatz!« sagte die Zigeunerin mit vertraulichem, wiederholtem Kopfnicken gegen Rüdiger. »Du hast mich bewirtet mit Lems, Johanns und Wendrich; Du hast mich beschirmt vor den Schuders, als sie mich brucken wollten in der Gabel. Fahre wohl, alter Schatz! Halte meinen Fingerreif wohl und in Ehren!«

»Schweige, Vettel, verdammte,« rief der greise Rüdiger mit zorniger, aber sehr gedämpfter Stimme, »oder ich breche Dir das Genick, ehe es der Henker bricht.« Damit schloß er die Turmpforte.

Gangolf, welcher von dem Rotwelsch der Zigeunerin wenig verstanden hatte, glaubte doch soviel daraus folgern zu können, daß sie zu seinem Vater in einem besondern und geheimnisvollen Verhältnisse gestanden habe und im Turm Rore keineswegs hart behandelt worden sein müsse. Es that ihm fast leid, daß ihm Schweigen auferlegt war, doch beobachtete er's gewissenhaft, indem er seine verzeihliche Neugier mit kindlicher Ehrfurcht überwand. Er fand die Leiter; er öffnete das hintere Pförtchen; er führte die Alte zwischen Felsstücken und Gesträuchen an der schroffen Halde unter dem Turm herab zur Stadtmauer, lehnte die Leiter an, stieg zuerst hinauf und ließ die Zigeunerin nachklettern. Als sie oben war, zog er die Leiter hinauf und setzte sie von außen an.

»Giebst Du mir einen Zehrpfennig, sag' ich Dir schönes!« redete ihn die Alte an, indem sie den Fuß schon jenseits der Mauer auf der obersten Leitersprosse hielt.

Gangolf suchte einige Geldstücke und gab sie der Zigeunerin, nicht sowohl aus Mitleiden, als aus Furcht vor geheimen Künsten oder gefährlichen Verwünschungen der Ägypterin, wenn er sie im Zorn von der väterlichen Burg scheiden ließe.

»Goldsöhnchen,« sagte sie, indem sie mit den Fingern derselben Hand, mit der sie das Geld empfing, die Stücke behend hin und her schob und zählte, »laß Dich's nicht reuen; Du wirst hochalt, ein steinreicher Mann; und das schönste Kind ist Deine Frau, wenn Du pfiffig bist. Es hat Dich lieb; es wartet auf Dich; mache bald Hochzeit! Greife zu, sonst schnappt's Dir ein anderer weg. Warte nicht, bis Dein Väterchen heimkehrt; Väterchen kommt noch lang nicht heim.«

»Du meinst meinen Vater?« fragte Gangolf.

»Ich sage Dir's ja, schmuckes Kind! Denke an mich! Ihn jagen die Hornissen; thut nichts! Fängt jeder seine Mücken; aber Mücken stechen. Thut nichts! Gehab' Dich wohl, Goldkind!«

Die Alte machte eine Bewegung, hinabzusteigen.

»Noch einen Augenblick!« rief Gangolf. »Wer schickte Dich nach Aarau?«

»Wer kann mich schicken? Bin ein armes Ding; suche gute Leutchen, barmherzige Leutchen; sind selten. Meinst Du, mich schickt wer? Rate, wer? Ich sag' Dir's, wenn Du's triffst.«

»Zum Beispiel ein Freiherr? Antworte!«

»Nenne ihn, Schätzchen!«

»Thomann von Falkenstein.«

»Nichts! Nichts! Mich schickt keiner. Gehab' Dich wohl! Der Morgen kommt.«

»Noch eins! Ich gebe Dir eine Hand voll Gold, wenn Du meinen Vater wieder gesund machst, wie er war, ehe Du zu ihm kamst. Warum hast Du ihm übles gethan?«

»Goldsöhnchen, was konnte ich ihm Leides thun? Meinest, unsereins hat kein Herz? Wir haben's wie Ihr. Väterchen soll an mich denken; habe ihn lieb! Hat mich gepflegt, hat mich gehütet. Hältst Du Wort, wenn ich ihn heile?«

»Gewiß!«

»Sprich: auf Deine ritterliche Ehre!«

»Bei meiner Ehre!«

»Ich suche ihm Balsam. Halte Wort, dann siehst Du mich wieder.«

»Rede Wahrheit!«

»Was soll ich lügen? Zahlst mir für's Lügen nichts.«

»Woher willst Du den Balsam holen?«

»Goldsöhnchen! Vom End!«

»Was fehlt meinem Vater?«

»Vom End. Gehab' Dich wohl! Siehst Du die rote Wolke?«

»Wohin gehst Du?«

»Zum End!«

Und mit diesen Worten war die Alte behende an der Leiter hinab; sie verschwand längs der Mauer.

Gangolf zog die Leiter zurück, stieg herab, stellte sie an den alten Ort und kehrte in die Veste zurück. Die Pforte des Turmes war nur angelehnt; er sah seinen Vater mit der Lampe noch auf der Wendeltreppe stehen.

»Du läßt mich lange warten!« sagte Herr Rüdiger. »Ich hoffe, Du wirst nicht mit der Zigeunerin gesprochen haben. Oder hast Du?«

»Sie bettelte; ich gab ihr ein Almosen. Ich verstand kein Wort von allem, was sie mir sagte; es war Unsinn!« erwiderte Gangolf.

»Schließe leise die Pforte und folge mir!« sagte der alte Herr.

Gangolf gehorchte und folgte seinem Vater, der ihn in denselben Saal führte, in welchem Gangolf und Isenhofer den vorigen Tag geplaudert hatten. Es schien mit dem alten Herrn während dieser Nacht eine große Veränderung vor sich gegangen zu sein. Seine starre, totenartige Ruhe oder Unempfindlichkeit war gewichen; seine Augen, seine Gesichtszüge hatten Leben und Beweglichkeit erhalten; doch lag darin ein finsteres Wesen, welches dem Sohne nicht minder beängstigend entgegentrat, als die frühere leichenhafte Kälte.

»Welche Nachrichten bringst Du aus Frankreich?« sagte Herr Rüdiger nach einer Weile. »Man spricht davon, die Verhandlungen zu Baden seien ohne Erfolg geblieben, der Krieg der Eidgenossen wider Zürich und Österreich hebe vom neuen an.«

Gangolf erzählte vom Heranzuge der französischen Kriegsmacht gegen Basel und den Rhein; von den Rüstungen der Züricher und des römischen Königs; von den neuen Ansprüchen desselben auf den Aargau; von den unzweideutigen Gesinnungen des Adels für Österreich und von der Erwartung des Markgrafen von Hochberg, daß sich alle Städte im Aargau für das Erzhaus vereinigen würden. Herr Rüdiger schüttelte den Kopf und sprach mit starker Stimme:

»Keinen Meineid, Gangolf, keinen Meineid! Behüte Dich Gott vor Meineid! Wir haben zu Bern geschworen; wir sind Lehensträger der Stadt. Gangolf, wenn Dir Deine Seele lieb ist, keinen Meineid! – Was gedenkst Du zu thun?«

»Mein teurer Herr Vater, nichts wider Euren Willen!« versetzte Gangolf. »Und wenn Ihr's befehlet, verlasse ich selbst die Dienste des Markgrafen und des Königs.«

»Das will ich nicht,« entgegnen der alte Herr, »doch folge Deinem Gewissen. Du bist frei; der König kann Dich zu Ehren erheben; Bern kann und wird Dir nichts verleihen. Du bist daran, Dich durch die Hand Deiner Braut mit den Falkensteinen zu verbinden. Ich wollte, es wäre schon geschehen; mein Herz würde um vieles erleichtert sein. Gangolf, ich sage Dir noch mehr: Du bist arm; nichts wirst Du von mir erben, als den Freihof. Alles übrige, was ich habe, gehört nicht Dir, nicht mir, sondern einem Dritten. Frage nicht weiter! Schlage Dich durch die Welt, wie Du es vermagst . . . . aber, Gangolf, keinen Meineid, um Gottes und Deiner Seele willen, keinen Meineid! Thue alles, nur hüte Deine Seele, daß sie nicht Beute des Teufels wird. Du bist arm; gehe, diene dem Könige mit Deinem Leibe; er kann Dir's lohnen und Bern Dir's nicht verargen. Es dient mancher Ehrenmann um Geringeres, als Du. Aber keinen Meineid! Diene ehrlich; lieber Bettlerbrot, lieber Hungertod, als Falschdienerei! Bist Du mit Urlaub nach Baden gekommen?«

»Ich wollte gen Baden oder Zürich zum Markgrafen,« entgegnete Gangolf, »dann aber zog mich die Nachricht vom Aufenthalt meiner Braut nach Brugg hin, und was mir der Schultheiß Effinger von Eurem Unwohlsein meldete, trieb mich bis hierher zu Euch.«

»Unwohlsein? Er hält mich ohne Zweifel für krank, doch ich bin gesund. Du aber bist zu guter Stunde angekommen. Ich verlange, daß Du einige Tage im Freihof bleibest; wir haben vieles abzuthun, denn, Gangolf . . . .«

Hier brach Herr Rüdiger plötzlich ab, und ging mit langsamen Schritten durch das Zimmer, wandte sich aber schnell wieder um und sagte:

»Also in Schaffhausen warst Du? Sahst Du die Trüllereys, unsere Vettern?«

»Ich traf sie im besten Wohlsein. Zufällig war auch Hans Trüllerey von Rothweil, der Kommenthur, bei ihnen. Doch mein Aufenthalt war kurz; wir hatten . . .«

»Da fällt mir ein, Gangolf!« unterbrach ihn sein Vater mit einem gleichgültigen Tone und einer Miene, als dächte er an ganz andere Sachen. »Du hast viel gesehen und gehört; vernahmst Du vielleicht zufällig vom Junker Jörg von Ende, dem Freiherrn? Er soll, glaube ich, im Rheinthal auf dem Schloß Grimmenstein sitzen oder gesessen haben?«

Gangolf erinnerte sich des Namens nicht, sondern fuhr fort, von den Vettern zu Schaffhausen zu erzählen.

»Erwartet Dich der Markgraf von Hochberg in Zürich zu bestimmter Zeit bei sich?« unterbrach ihn der alte Herr vom neuen.

»Ich glaube nicht,« antwortete Gangolf, »denn er ließ mir durch Marquard von Baldegg unterwegs den Auftrag zukommen, ich sollte Aarau dem Hause Österreich günstig zu stimmen suchen.«

»Bluten, bluten kannst Du, sterben kannst Du für den König!« rief Herr Rüdiger heftig; »aber belaste Deine Seele mit keinem Meineide, Gangolf! Gangolf, ich würde Dich enterben, verstoßen, verfluchen! Ja, das würde ich!«

Gangolf erschrak fast vor der Heftigkeit seines Vaters und versicherte, daß er lieber des Königs Dienst verlassen würde.

»Auch das nicht, es darf das nicht sein!« erwiderte Herr Rüdiger. »Dann verlierst Du die Hand Deiner Braut; dann wärest Du ein Bettler. Feiere zuvor die Hochzeit; nachher bindet Dich niemand. Feiere sie bald, auch wenn ich nicht zur Hochzeit erscheine. Ich habe eine große Reise vor und weiß nicht, wann ich zurückkomme.«

»Wie? Ihr wollet eine Reise machen?« fragte Gangolf erstaunt und sich an die Reden der alten Zigeunerin erinnernd. »Wohin? Darf ich Euch begleiten?«

»Frage nicht! Ich habe dem Himmel ein Gelübde gethan, es soll gelöset werden!« antwortete ihm der Vater düsterer als vorher, »Frage nicht! Hemman Enderli soll mich begleiten; er ist ein treuer Mensch; ich bin an ihn gewöhnt; er kennt meine Bedürfnisse, wie keiner. Darum beruhige Dich!«

»Doch werdet Ihr so bald nicht von hinnen ziehen wollen, Herr Vater?«

»Morgen, übermorgen; in drei vier Tagen, sobald ich Dir alles übergeben habe. Du bist gekommen in der Glücksstunde, vom Himmel gesandt. Eine Woche später und Du hättest mich nicht mehr gefunden. Alle Titel und Briefe werde ich Dir übergeben und Dich darüber unterrichten. Wir wollen heute und morgen die Marken unsers Eigentums und Lehens umreiten. Auf unsern Grundstücken haften keine Schulden. Ich überantworte Dir Großes und Kleines zu eigen, nur eines bleibt verschlossen: das ist die Eisenkiste im obersten Gemach des Turmes. Die wirst Du nicht öffnen, bis Du gewisse Botschaft von meinem Hinscheiden hast, oder wenn, von heute an, zehn Jahre vergangen sind, ohne Nachricht von mir. Dann in Gottes Namen, ja dann! In der Kiste wirst Du meinen letzten Willen finden, und ich binde Dir die Erfüllung desselben auf die Seele.«

Der Jüngling ergriff tieferschüttert die Hand seines Vaters und beschwor ihn mit Thränen im Auge und mit zitternder Stimme, daß er, wenn es möglich sei, den Freihof in dieser Zeit nicht verlassen solle; müßte er aber, daß er dann den Sohn zum Begleiter mit sich nehmen möchte, zum Schutz und zur Pflege. Doch der alte Herr blieb unbeweglich.

»Ich habe ein heiliges Werk zu verrichten,« sagte Rüdiger; »ich soll das Gelübde erfüllen und mich entsündigen, ehe ich zu den Vätern gehe. Störe mich nicht! Du bleibst im Lande und leistest der Stadt Deine Bürgerpflicht. Seit mehr denn zweihundert Jahren haben unsere Altvordern diesen Turm bewohnt und der Stadt in bösen und guten Tagen treulich beigestanden. Vergiß das nicht! Müßtest Du der Letzte der Trüllereys werden, sollst Du der Erste unter den Besten von ihnen sein. Habe Acht auf die Falkensteine, auf Thomann insbesondere; er ist der Stadt und mein geschworener Feind. König Rudolf hat Aarau befreit; vor ihm war die Stadt lange Zeit ein dienstbares Hündlein, das von den Grafen von Rore und den Habsburgern am Halsband gezogen wurde; nun ist es ein aufsteigender Adler geworden. Gangolf, wache, daß der Adler nicht abermals zum Hunde wird! . . . Ich werde Dir noch vieles sagen: jetzt aber sollst Du für Deinen Gast sorgen, denn die Sonne will schon aufgehen.«

Mit diesen Worten entfernte sich Herr Rüdiger.

11.
Der Zug nach Seckingen.

Die Bewohner des Freihofes waren nicht wenig überrascht, als sie die unerwartete Verwandlung bemerkten, welche sich in einer einzigen Nacht mit ihrem Herrn und Gebieter zugetragen hatte. Sie hielten dieselbe für eine natürliche Wirkung der Freude über das Wiedersehen seinem Sohnes, den alle lieb hatten. Die Teilnahme an dieser Genesung des alten Herrn, der jetzt wieder, wie ehemals, im Barett, hirschledernen Wamms und klirrenden Ritterstiefeln rüstig umherwandelte, Keller, Stallungen und Fruchtböden besuchte, Befehle erteilte, und Rechenschaft forderte, würde wohl noch größer gewesen sein, wenn ihm nicht die Blässe des Antlitzes, der düstere Blick und der zurückschreckende Ernst seines ganzen Wesens geblieben wären. Dazu kam etwas Beängstigendes, was jede geheimnisvolle Sache für die Neugier der Zuschauer mit sich bringt. Man bemerkte die Vorrichtungen, welche zur nahen Abreise des Herrn Rüdiger getroffen wurden; doch niemand kannte Ziel und Zweck der Reise, selbst Hemman Enderli nicht, der sie mitmachen sollte. Hemman ließ nur erraten, daß sie von langer Dauer sein werde; vielleicht eine Wallfahrt zu den Kirchen der heiligen Apostel in Rom, oder gar nach Jerusalem, zum heiligen Grabe. Auch Herr Isenhofer, der einen langen, guten Schlaf gehalten hatte, war erstaunt, als er bei der Morgensuppe seinen Reisegefährten Gangolf nachdenkend, mit verstörten Mienen, dessen Vater hingegen lebhaft und gesprächig erscheinen sah.

Während der Unterhaltung erschien ein Bote des Fräuleins von Falkenstein aus Brugg. Er brachte die Nachricht an den Bräutigam, daß dessen Verlobte schon diesen Morgen über den Bötzberg nach Seckingen reisen werde; daß sie ihn, nebst Isenhofer, unterwegs in Frick zu finden hoffe, wohin er auf kürzerem Wege über das Gebirge gelangen könne.

Herr Rüdiger heftete einen verdrossenen, still fragenden Blick auf seinen Sohn. Dieser aber, welcher den Gedanken des Vaters erriet, sagte sogleich: »Ich werde Euch nicht verlassen, mein Herr Vater, sondern so lange hier verweilen, als Euch gefällt, oder bis Ihr abgereist sein werdet.« Zugleich bat er Isenhofer, ihn bei dem Fräulein zu entschuldigen, indem er ihm über die bevorstehende Reise seines Vaters und über die Notwendigkeit von mancherlei Abreden mit demselben Auskunft erteilte, da dessen Entfernung von Aarau lange dauern könne.

»Ihr traget mir böse Gesandtschaft auf, Junker!« sagte Isenhofer, sich hinter den Ohren krauend. »Ich billige Euren Entschluß zwar, aber Ihr gebt mir zu, daß es für mich kein Spiel sein werde, den ersten Sturm des jungfräulichen Zorns auszuhalten. Nun denn, es sei, weil es nicht zu ändern steht; Wetterwolken sind nur in der Ferne schwarz. Lasset mich in einer Stunde aufbrechen, damit ich den Zug der Reisenden bei Frick nicht verfehle.«

Nach einer Stunde standen die Pferde gesattelt vor der Veste. Gangolf hatte inzwischen Zeit gefunden, seinen neuen Freund von allem zu unterrichten, was ihn verhinderte, dem Ruf der Braut zu folgen. Doch von der Zigeunerin schwieg er, weil ihm sein Vater aufs strengste verboten hatte, die Anwesenheit derselben im Turm und die Art ihrer Entfernung irgend jemandem zu verraten.

Isenhofer nahm von dem Jüngling, der ihm in so kurzer Zeit durch seinen schlichten und reinen Sinn teuer geworden war, freundlichen Abschied; desgleichen von dem alten Rüdiger, welcher sich mit jugendlicher Gewandtheit aufs Pferd schwang, um in Begleitung des Sohnes die Hausgüter zu besichtigen. Noch einmal rief Isenhofer sein Lebewohl zurück und ritt, während jene quer durch die Stadt trabten, links einen steilen Rain abwärts zum nahen Thor, wo er, beim ersten Schritt aus demselben, sogleich eine lange hölzerne Brücke betrat, die ihn zum andere Ufer des Aarflusses hinüberbrachte.

Eine Zeitlang ritt er längs den grünen Vorhügeln des Jura hin, bis der Weg seitwärts durch ein geräumiges Thal und durch das Dorf Küttigen in das Innere des Gebirges einbog. Da sah er links die gewaltige Wasserflue, an deren graue Spitzen sich einzelne Tannen wie zartes Epheu schmiegten, aus der Tiefe emporsteigen. Zu den Füßen des Berges, auf schroffen Felsen, hoben die Mauern des Schlosses Königstein aus dichtem Buschwerk ihre Zinnen empor. Er aber verfolgte den steinigen Bergpfad seitwärts, einem weiten, sumpfigen Grunde ausweichend, zu den Höhen der Staffelegg, deren kahler Rücken vor ihm lag. Dann leitete er das Roß langsam die steile, von Regengüssen zerklüftete Straße aufwärts, wo er von oben, wenn er zurückschaute, durch einen Einschnitt der nahen, dunkeln Vorberge das helle Grün der Aarufer, die fern im Sonnenglanz schwimmende Stadt, und im Hintergrunde, wo Erde und Himmel eins zu sein schienen, die weiße, ewige Wand erblickte, welche, von Schnee und Eis gebaut, große Länder und Völker, von ungleichen Denkarten und Sprachen, sondert.

Er blieb oftmals stehen, das Wunderbild betrachtend, und hob stumm und unwillkürlich, in Anbetung versunken, Blick und Hände gen Himmel. Dann, als er die Höhe erstiegen hatte, sah er unter seinen Füßen vor sich liegend ein stilles, ödes Thal und in der Ferne den weichen Umriß des Schwarzwaldgebirges. Er ritt hinab zur Tiefe, wo sich die Berge enger an ihn drängten und kesselartig ein armseliges Dörfchen umfingen. Doch bald erweiterte sich das Thal zu einem schmalen, freundlichen Grunde voller Hütten und Höfe mit hellgrünen Wiesen und blühenden Kirschbäumen, welches, immer offener werdend, sich zuletzt am Rheine in den hintern Frickgau, zwischen Jura und Schwarzwald, aufschloß.

Da wurde er zur Rechten, von wo die große Landstraße über den Bötzberg aus dem Seitenthale hervortritt, eines langen und glänzenden Zuges von Reisigen gewahr, Herren und Frauen in freundlichem Geplauder neben einander reitend. Bald erkannte er an der Spitze des Zuges das Fräulein Ursula von Falkenstein auf einem weißen Zelter, an jeder Seite einen Ritter. Einer derselben war Bentelin von Hemmenhofen, der andere ein unbekannter, aber schöner, junger Mann, schlank und stolz, in scharlachrotem, goldgesticktem Wamms, mit himmelblauer, goldgestickter Schärpe, unter dessen, mit blauen und weißen Federn anmutig geschmücktem kleinen Hut eine Fülle schwarzer Locken hervorringelte.

»Ah, so allein, Isenhofer?« rief das Fräulein mit vornehmem Lächeln ihm entgegen. »Herr Gangolf, scheint's, will Krankenwärter bleiben?«

»Mit nichten!« antwortete Isenhofer, ehrerbietig die Kommenden begrüßend. »Er könnte wohl selbst aus Liebe und Sehnsucht ein Kranker werden, da die Rüstungen seines Vaters zu einer Reise nach Rom oder dem gelobten Lande ihn abhalten . . .«

»Nichts davon!« fiel ihm Ursula lachend ins Wort. »Wir kennen den frommen Schneemann besser. Er wartet vermutlich, bis wir ihn selbst aus seinem Turm Rore abholen.«

»In wenigen Tagen, denke ich, wird er in Seckingen zu den Füßen seiner Angebeteten liegen,« sagte Isenhofer; »inzwischen sendet er der Braut die zärtlichsten Gruße und Seufzer . . .«

»O!« unterbrach ihn Ursula spöttelnd, »ich habe sie empfunden, ehe Ihr kamet; sie hatten die Luft so eiskalt durchdrungen, daß wir alle fast erstarrten. Indessen bitte ich Euch, erzählet weiter!«

Die Ritter lachten mit lauter Stimme. Isenhofer, welcher sich dem Gefolge, zunächst hinter dem Zelter des Fräuleins, anreihte, stattete fernern Bericht ab, bemerkte aber bald, wie wenig Anteil an seiner Erzählung genommen wurde, und stimmte daher sogleich in die mutwilligen Scherze der Gesellschaft ein. Sowohl Bentelin, als das Fräulein, schienen mit dem fremden jungen Rittersmann, der mancherlei lustige Schwänke und Abenteuer von den Höfen König Friedrichs und des Herzogs von Österreich erzählte, sehr vertraut zu sein. Doch dem Waldshuter Dichter entging es inmitten aller Scherze nicht, daß weder der fremde Jüngling, noch die Jungfrau einander ganz unbefangen sahen. Nie fiel der Blick des Ritters auf das Freifräulein, ohne daß er lange und brennend an deren Reizen hangen blieb; und Ursula, als könne sie den Flammenblick dieser schwarzen Augen, die sie doch suchte, nicht ertragen, mußte jedesmal errötend und lächelnd die Augen niedersenken. Dieses stille Gespräch der Mienen, zwischen der lauten Unterhaltung und dem Gelächter der andern, bemerkte selbst Bentelin nicht, welcher auf der entgegengesetzten Seite ritt.

Isenhofer, den die Neugier reizte, blieb im Zuge, wie zufällig, zurück, bis er in die Nähe einer von Ursulas Kammerfrauen geriet, mit der er wohl bekannt war. Von ihr vernahm er, daß der junge Ritter mit den Flammenaugen ein Freiherr Hinz von Sax, ehemaliger Jugendgespiele des Fräuleins, nun Verlobter einer schönen Gräfin von Zollern und Bentelins von Hemmenhofen treuester Freund und Waffengefährte sei. Er war am vorigen Tage von Zürich gen Brugg gekommen, um zu den Falkensteinen nach Seckingen zu reisen; hatte unvermutet daselbst den Freund und die reizende Gespielin seiner Kindheit gefunden und mit beiden, bis tief in die Nacht, einen fröhlichen Abend genossen.

Schon war Mittag vorüber, als man endlich den blaugrünen Rheinstrom und drüben am Fuße des Waldgebirges in anmutiger Ebene das Städtchen Seckingen erblickte, über welchem die grauen Türmchen von St. Fridolins ehrwürdigem Stift und der Kirche längst sichtbar geworden waren. Es wurden Trompetenstöße gehört, und von der Brücke her kam dem Zuge der Reisenden eine Schar zu Pferde entgegen; alle auf prächtigen Rossen, alle festlich gekleidet. Voran ritt Ursulas Vater, der Freiherr von Falkenstein, und dessen Bruder, Thomann, Landgraf von Buchsgau und Sißgau. Ihnen folgten Max von Ems, Graf Görg von Sulz, Hug von Hegnau, Fritz vom Haus, Görg von Knöringen, Balthasar von Blumeneck und viele andere Edelherren, welche während der Friedenstage mit den Falkensteinen zu Seckingen die Zeit in Lust und Freuden verbrachten.

12.
Ritterliches Wohlleben.

Ich will hier weder den bunten Wechsel, noch die Pracht der Lustbarkeiten und Feste schildern, welche die fröhliche Ritterschaft bald in dieser Stadt, bald auf den Burgen des benachbarten Adels beging. Jeder Tag brachte der lebenslustigen Menge neuen Genuß, durch den Witz und die Anmut und die Liebesgeschichten der schönen Edeltöchter und Frauen aus der Umgegend gewürzt. Die Königin der Feste aber war Gangolfs Braut, welche durch die verschwenderische Freigebigkeit ihres reichen Vaters jede ihres Geschlechts an Pracht übertraf. Sie selbst eine volle Blüte der Lust, sog gleichsam ihr Leben aus dieser Fülle mannigfaltiger Freuden; und, wo sie erschien, verbreitete sich wie durch einen Zauber rauschendes Vergnügen. Was sie unter den Weibern, war Hinz von Sax unter den Männern. Man würde das schöne Paar für mehr als ehemalige Gespielen gehalten haben, hätte nicht jeder gewußt, daß er der Bräutigam einer Fremden, wie sie die Verlobte Gangolfs war. Auch wußte Ursula mit mädchenhafter Feinheit alle übrigen auf gleiche Weise zu behandeln, so daß weder der junge Freiherr, noch ein anderer sich eines Vorzugs bei ihr rühmen konnte, wenn nicht der Zufall dem einen zuweilen holder war als dem andern. Nur Isenhofer, der in diesem Getümmel den überall willkommenen Freudenmeister und Possenmacher spielte und doch der einzig Nüchterne blieb, blickte heller in das Treiben. Wenn er zuweilen die trunkenen, blitzenden Augen beider sich verstohlen begegnen sah, ahnte ihm, welche verbotene und verhehlte Glut hier glimmen möge.

»Armer Gangolf!« seufzte er eines Abends, da er, im kerzenhellen Saale still ans Fenster gelehnt, die Reihen der Tänzer übersah, aus welchen Ursula glühend hervorkam, um auf einem Sessel in seiner Nähe zu ruhen.

»Ists nicht wahr, Isenhofer?« fragte sie vertraulich leise. »Der böse Mensch! Ists zu verzeihen, daß er mich so lange vergessen kann?«

»Der arme Gangolf!« seufzte Isenhofer abermals, doch mitleidig spaßend. »Er soll sich nicht hierher sehnen; ihm ists besser im Turm von Rore.«

»Wie meinet Ihr das?« sagte sie, das Köpfchen spöttisch und vornehm zurückwerfend.

»Fröhlich würde er nicht sein,« antwortete jener, »uns aber manche unschuldige Freude stören.«

»Nun ja, Isenhofer . . . wie er es immer zu thun pflegt. Ich könnte ihn darum fast hassen. Denkt nur, wie er's in Brugg trieb.«

»Fräulein, was ist zu thun?« sagte Isenhofer und setzte rasch mit ernster Miene hinzu: »Sieh' da, er kommt!«

»Wo?« fuhr erschrocken Ursula auf und verließ schnell den Sitz.

Lachend antwortete Isenhofer: »Bleibt ruhig, mein Fräulein! Ich irrte mich, als ich drüben Herrn Veit von Ast hereinschreiten sah.«

»Narr und Tölpel, mir solchen Schreck zu machen!« sagte das Fräulein zwar lächelnd, doch verdrießlich.

»Soll ichs wieder gut machen?« fragte jener mit schalkhafter Furchtsamkeit.

»Auf der Stelle! Doch womit?« fiel Ursula neugierig ein.

»Mit der Botschaft, daß er bald hier ist. Ihr werdet schon wieder ernst, mein Fräulein! Mich freut's, beide, den Herrn von Sax und Herrn Trüllerey, zusammen zu sehen und durch den Vergleich zu erfahren, wer eigentlich der schönere Mann von beiden sei?«

»Aber ich,« erwiderte Ursula, »ich zittere; sie werden, wie ich befürchte, keine Freunde werden. Mein edler Bräutigam ist von wunderlichen Launen heimgesucht. Ich muß gestehen . . .«

Sie sagte nichts weiter, sondern drehte den Kopf, in Verlegenheit, was sie wünschen solle, gegen das Fenster hin, um nach den Sternen zu sehen; Isenhofer jedoch schien sie zu erraten.

»Ihr habt recht!« sagte er. »Gangolf ist ein vortrefflicher Mensch, aber fast zu vortrefflich. Er fügt sich nicht in die Gewohnheiten unseres Jahrhunderts; er gehört in die alten Zeiten seines Turmes. Es würde mich wenig kosten, ihn zu bereden, im Freihofe von Aarau zu bleiben. so lange es Euch gefiele.«

»Ach!« stammelte Ursula verlegen und zerstreut, indem ihre Augen unter den Tänzern dem jungen Freiherrn von Sax magnetisch folgten; »nur noch wenige Zeit, nur wenige, bis . . . Ihr begreift es ja selber. Ich bitte Euch, denkt an den Handel mit Bentelin während des Mahles beim Schultheiß Effinger. Sollte er uns dergleichen hier wiederholen? Ich bitte Euch, wenn Ihr etwas über ihn vermögt: Ihr thut uns allen einen Liebesdienst!«

»Ihn noch eine Weile entfernt zu galten?« fragte Isenhofer.

»Ich bitt' Euch! Nun ja doch,« flüsterte sie schmeichelnd und legte traulich ihre Finger auf seinen Arm, »nur kurze Zeit.«

»Bis etwa . . .« sagte Isenhofer leiser, indem er ihr schelmisch lächelnd ins Auge sah, als hätte er ihre Seele ausgeforscht, »bis . . . nun es ist natürlich; es muß geschehen! . . . Bis der junge Freiherr von Sax . . .«

Ursula fühlte sich von dem Laurer ertappt und errötete.

»Spitzbube!« sagte sie verschämt und doch mit schmeichelndem Lächeln, wie eine Gefangene, die um Gnade flehen will, und gab ihm mit der Hand einen leisen Streich auf den Backen. »Möchtest Du gern stehlen?«

Mit diesen Worten entfernte sie sich, wandte sich aber, ein paar Schritte von ihm, nochmals um, drohte mit den Finger und mischte sich in das glänzende Gewühl. Ihr Herz pochte; sie fühlte, es sei etwas verraten, was sie sich selber nicht gestanden haben wollte. Aber in diesem Augenblicke fühlte sie ihr Herz von einer ganz andern Unruhe zusammengezogen; ein Schauer von Eifersucht überflog sie. Sie wollte aus dem Saale hinweg, doch sie konnte den Fuß nicht vom Boden heben. Ihr Jugendgespiele tanzte, voll unaussprechlicher Anmut, mit dem Fräulein Hagenbach.

In der That, von allen ihren Nebenbuhlerinnen bei den Huldigungen der Männer war die niedliche Hagenbach weitaus die gefährlichste. Ursula hatte anfangs diese Geliebte ihres Vaters, des Freiherrn Hans von Falkenstein, für die er ungeheure Summen verschwendet hatte, von Herzen gehaßt oder verachtet; aber damit geendet, sie nicht nur liebenswürdig zu finden, sondern sogar ihre vertrauteste Freundin zu werden. Dies Mädchen stand durch ihr Treiben und Thun im vollsten Widerspruch mit ihrem Rufe. Sie lebte eingezogen, fromm und anspruchslos; kleidete sich geschmackvoll, aber höchst bescheiden und züchtig, und war von der Anwendung der üblichen Künste, um zu gefallen, so sehr entfernt. daß selbst Frauen an dieser Verläugnung der Mädchennatur irre wurden. Hans von Falkenstein, der erklärte Liebhaber dieser seltsamen Schönen, bis zur Narrheit in sie vergafft, behandelte sie mit ehrfurchtsvoller Schüchternheit, so wenig er übrigens sonst die Grenzen des Anstandes innehalten mochte. Mit allen andern Frauen waren die Männer freier, als mit ihr, und doch konnte keiner von diesen die niedliche Verführerin mit Gleichgültigkeit ansehen. In der Bildung ihres Gesichtes hatte die Natur zwar nicht die gewöhnlichen Regeln des Schönen beobachtet, aber in jeden Zug desselben Seele und Feinheit gelegt. Ihr Wuchs war nicht hoch, aber er hatte das zarteste Ebenmaß, und jeder Teil ihres Körpers war zierlich geformt. Sie vereinigte in ihrem Wesen kindliche Blödigkeit und Furcht mit der Harmlosigkeit und dem Mutwillen der unerfahrenen Unschuld. Jene ernste, unentweihbare Schüchternheit hielt alle Männer zurück, und dieser kindliche Frohsinn und Übermut unter ihren Freundinnen zog jedermann unwiderstehlich an. Dem Gerüchte nach wäre dessenungeachtet mehr als ein Mann der Beglückte gewesen; aber die Beglückten selbst schienen ihre Eroberung nur wie den Erfolg der Gewalt und Überraschung zu betrachten und sich selber darum umsomehr mit Vorwürfen zu strafen, weil sie, von da an, nur Abscheu gegen sich in jeder Geberde der Angebeteten fanden. Und doch behauptete der weibliche Neid oder Scharfblick, gerade das sei das klugberechnete Spiel des schlauen und lebenslustigen Mädchens.

Sie tanzte jetzt mit dem jungen Freiherrn von Hinz. doch so kalt, so ängstlich, daß jede ihrer Bewegungen einen Widerwillen, einen innern Zwang verriet, und doch tanzte sie gleich einer Grazie. Mitten im Tanz bemerkte sie Ursulas Unruhe und die eifersüchtigen nachschleichenden Blicke derselben; sie verstand sie noch besser, als sie darauf zu ihr trat und Ursulas Eintönigkeit und Wortarmut vernahm. Unter einem unbedeutenden Vorwande lockte sie dieselbe in ein abseits gelegenes kleines Nebenzimmer, schloß sie an ihre Brust und sagte.

»Meiner Treu, Ursi, Du leidest. Warum quälst Du Dich, liebe Seele, im Kampf mit Deinem Herzen? Du bist die Verlobte eines andern, aber Dein Herz hatte sich schon in der Kindheit dem Einzigen hingegeben, den Du mir selbst kaum zu nennen wagst. Und der arme Unglückliche! Ihn verzehrt die stille Glut um Dich. Ich beschwöre Dich, süßer Engel . . . folge dem heiligen Zuge des Gemütes; bringe Dich nicht fremden Berechnungen zum Opfer. Du machst Dich elend, wenn Du nicht wieder frei wirst.«

Ursula umklammerte mit Schmerz die Freundin und weinte heftig an ihrem Halse.

»In Ewigkeit nicht; nie werde ich froh; ich möchte mich selber verabscheuen. Ja, ja, magst Du es wissen, aber nur Du! Ich bin eine Wahnsinnige; ich vergehe für den, den ich fliehen sollte. Wäre er nie erschienen! Wir hingen schon als Kinder fest aneinander. O Gott . . . und jetzt, wie herrlich hat er sich verwandelt und ist doch noch immer derselbe!«

Mit aller Leidenschaftlichkeit, die dem Fräulein von Falkenstein eigen war, erzählte sie nun von den seligen Tagen ihrer Kindheit; vom Wiedersehen des früher Geliebten in Brugg und von tausend kleinen Dingen, die einem so tief ergriffenen Gemüte in solchem Augenblicke wichtig sein können. Ihre Freundin hatte Mühe, sie zu beruhigen, und bat sie, noch einige Augenblicke allein zu bleiben, um sich zu fassen und wieder in die Gesellschaft eintreten zu können, ohne durch ihr verweintes Auge aufzufallen. Die Hagenbach trat allein in den Saal zurück, wo es der Zufall wollte, daß sie mit dem Freiherrn von Sax zusammentraf, der sie abermals zum Tanz aufforderte. Sie stieß fast mit Zürnen seine Hand zurück und sagte:

»Leichtsinniger! Wenn die liebenswürdige Ursula weint, mögt Ihr noch tanzen?«

Er entfärbte sich und fragte nach Ursula's Aufenthalt. Seine Wangen brannten, wie sein Auge glühte. Er fragte dringend, stets und wiederholt, wo das Fräulein sich befinde. Er erfuhr's endlich und verschwand. Als das Paar, welches man in dem bunten Getümmel kaum vermißt hatte, nach langer Zeit zurückkehrte, leuchtete aus des jungen Freiherrn Gesicht das Entzücken; Ursula schien heiter, doch verlegen.

»Wie siehst Du so wunderbar aus?« flüsterte ihr das Fräulein Hagenbach zu.

Ursula lächelte und sagte: »Was sieht man mir an? – Du hättest mich doch nicht verraten sollen, nur in dem Augenblick nicht, wo ich mir zu wenig gehörte.«

»Bist Du beruhigt, süße Ursi?«

»Ja!« sagte Ursula ganz leise, »Wenn er nicht ein Bösewicht ist.«

Tänzer erschienen und unterbrachen das Gespräch der Jungfrauen.


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