Emile Zola
Ein Blatt Liebe
Emile Zola

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13

Die Nacht kam. Vom fahlen Himmel, an dem die ersten Sterne funkelten, schien eine feine Asche über die Stadt Paris zu regnen und sie langsam zu begraben.

Am Horizont stieg eine pechschwarze Wolkenwand auf, verzehrte das letzte Tageslicht und löschte die säumigen Lichter, die sich gen Westen verloren. Wo Passy liegen mußte, konnte man noch wenige Dächer erkennen. Dann hatte die Wolkenwand alles verschlungen und in tiefe Finsternis getaucht.

»Ein schwüler Abend,« sagte Helene leise. Erschlafft vom warmen Brodem, der Paris entstieg, saß sie am Fenster.

»Die Nacht der armen Leute,« sagte der Priester. »Wir werden einen milden Herbst haben.«

An diesem Dienstag war Jeanne über ihrem Nachtisch eingeschlummert, und Helene hatte sie zu Bett gebracht.

Das Kind schlief bereits, während Herr Rambaud sich noch mühte, ein Spielzeug wieder zurecht zu basteln. Es war eine mechanische Puppe, die sprechen und sogar laufen konnte. Es war sein eigenes Geschenk an Jeanne. Helene hatte in der Hitze des September die Fenster weit geöffnet, und die ungeheure schwarze Fläche, die sich draußen breitete, schaffte ihr Erleichterung. Sie hatte einen Stuhl ans Fenster geschoben, um mit ihren Gedanken allein zu sein. Nun war sie erstaunt, den Priester sprechen zu hören.

»Haben Sie die Kleine gut zugedeckt? In dieser Höhe ist die Luft schon recht frisch.«

Helene fühlte das Bedürfnis zu schweigen und antwortete nicht. Sie genoß den Reiz des schwindenden Lichtes, dieses letzte Hinsterben aller Gegenstände, das Abebben und Verklingen aller Geräusche.

»Welch schöner Sternenhimmel,« flüsterte der Priester. »Dort oben funkeln sie zu Tausenden.«

Er hatte einen Stuhl herangeschoben und sich neben sein Beichtkind gesetzt. Da hob auch sie die Augen. Die Sternbilder schlugen ihre goldenen Nägel in den Samt des Himmels. Über den Rand des Horizontes leuchtete ein Planet gleich einem Karfunkelstein, während eine Staubwolke fast unsichtbarer Sterne das Gewölbe mit Funkensand überstreute. Das Sternbild des Wagens drehte langsam seine Achse.

Jetzt sagte Helene: »Sehen Sie den kleinen blauen Stern dort? Ich finde ihn alle Abende wieder... In jeder Nacht zieht er seine Bahn und verschwindet.«

Die Anwesenheit des Priesters störte Helene nicht, denn von ihm ging Ruhe aus. Sie tauschten manches gute Wort, dann wieder schwiegen sie lange. Helene fragte nach den Namen einzelner Sterne, schon immer hatte sie der Anblick des nächtlichen Himmels beunruhigt. Er aber zögerte mit der Antwort, er kannte die Sterne nicht.

»Sehen Sie jenen schönen Stern dort, der so hell glänzt?«

»Links, nicht wahr, dort neben dem kleineren, der so grünlich schimmert... Ach, es sind zu viele – ich habe die Namen vergessen.«

Wieder schwiegen sie, die Augen emporgerichtet, von ehrfürchtigem Schauer vor diesem ständig wachsenden Gewimmel von Sternen erfaßt. Tausende und Abertausende schienen ohne Unterlaß aus der unendlichen Tiefe des Himmels aufzutauchen. Schon breitete die Milchstraße ihre Atome, so zahlreich und fern, daß sie am Gewölbe des Himmels nur einem Bande aus Licht glichen.

»Ich habe Angst,« sagte Helene leise.

Sie senkte den Kopf und schaute in die gähnende Leere zurück, in der irgendwo Paris liegen mußte. Noch immer war dort kein Licht sichtbar, noch immer herrschte tiefes Dunkel.

»Sie weinen?« fragte der Priester, als er neben sich ein Schluchzen hörte.

»Ja,« sagte Helene schlicht.

Sie konnten einander nicht sehen. So weinte sie lautlos mit einem Flüstern ihres ganzen Seins. Hinter ihnen schlief Jeanne ihren unschuldigen Kinderschlaf, während Herr Rambaud seinen grauen Kopf noch immer über die Puppe gebeugt hielt, deren Glieder er abgenommen hatte.

»Warum weinen Sie, meine Tochter?« fragte der Abbé wieder. »Kann ich Ihnen nicht irgendwie helfen?«

Helene war außerstande zu antworten. Schon einmal hatte sie an der gleichen Stelle ein Tränenkrampf geschüttelt. Damals hatte sie sich ausweinen können. Aber jetzt, seit das Kind gerettet war, hatte sie keinen Kummer. Wieder umfing sie das eintönige und doch so willkommene Gleichmaß ihres Alltags. Nun plötzlich hatte sie an ihrem Herzen das stechende Gefühl eines ungeheuren Schmerzes. In ihr war eine unergründliche Leere, die sie niemals ausfüllen würde, eine grenzenlose Verzweiflung, in die sie mit allem versank, was ihr lieb und teuer war. Und doch hätte sie nicht zu sagen gewußt, welches Unheil ihr drohte. Sie war einfach ohne Hoffnung und weinte... Schon während des Marienmonats waren in der blumendurchdufteten Kirche solche Erregungen über sie gekommen. Der weite Horizont von Paris in seinem Dämmerlichte stimmte sie zu frommer Ehrfurcht. Die Ebene schien sich zu weiten und deckte das trübselige Dasein zweier Millionen schlagender Herzen barmherzig zu. Und wenn dann die Dunkelheit einfiel und die Stadt langsam versank, machte Helene ihrem gepreßten Herzen Luft, und ihre Tränen flossen im Angesicht dieses erhabenen Friedens.

Nach langem Schweigen begann Abbé Jouve von neuem:

»Meine Tochter! Sie müssen sich mir anvertrauen, warum zögern Sie?«

Helene weinte noch immer, aber es war nur noch ein kindliches Weinen, müde und kraftlos.

»Die heilige Kirche erschreckt Sie,« sprach die Stimme weiter. »Manchmal habe ich geglaubt, Sie seien für Gott gewonnen, aber nun ist es anders gekommen. Der Himmel hat seine Absichten. Nun, wenn Sie mir als dem Priester mißtrauen, wollen Sie dem Freunde noch länger eine Aussprache weigern?«

»Sie haben recht,« stammelte Helene. »Ja, ich bin traurig und habe Sie nötig. Ich muß Ihnen beichten. Als ich noch klein war, ging ich nicht gern in die Kirche. Heute erschüttert mich jeder Gottesdienst. Und sehen Sie was mich soeben zum Weinen brachte... es ist diese Stimme von Paris, die dem Brausen und Tönen einer Orgel gleicht... es ist die Unermeßlichkeit der Nacht, es ist dieser sternenbesäte Himmel... Ach! ich möchte glauben... Helfen Sie mir dazu! Unterweisen Sie mich!«

Der Priester legte seine Hand leicht auf die ihre.

»Sagen Sie mir alles,« antwortete er schlicht. Sie wehrte angsterfüllt ab.

»Sie müssen«es mir glauben, ich habe nichts zu beichten, ich verheimliche nichts... Ich weine ohne Grund, weil mir zum Ersticken heiß ist, weil mir die Tränen von selbst kommen... Sie kennen mein Leben. Ich könnte in dieser Stunde weder eine Schuld noch eine Gewissensqual finden ... Und ich weiß nicht... ich weiß nicht...«

Ihre Stimme erlosch.

»Sie lieben, meine Tochter!« Langsam tropften die Worte in den Raum.

Helene bebte und wagte nicht zu widersprechen. Wieder das Schweigen der Stille. In das Meer von Finsternis, das vor ihnen schlummerte, trat ein Lichtfunke.

Weit draußen irgendwo im Abgrund zu ihren Füßen mußte es sein, wenn man auch den genauen Ort nicht bezeichnen konnte. Und dann erschienen neue Funken, mehr und immer mehr. Sie entstanden in der Nacht mit einem jähen Sprung und blieben starr und funkelnd.

Ein neuer Sternenhimmel schien auf der Oberfläche eines düsteren Sees aufzugehen. Noch immer sprach Helene nicht. Sie folgte mit den Blicken diesem Funkenmeer, dessen Lichter irgendwo am Rande des Horizonts im Unendlichen den himmlischen Sternen begegneten.

Mit jener eintönig sanften Stimme, die ihm vom Beichtstuhl her Gewohnheit war, flüsterte der Priester ihr lange ins Ohr. Hatte er ihr nicht eines Abends gesagt, daß sie nicht für die Einsamkeit geschaffen sei? Man stelle sich nicht ungestraft in den Schmollwinkel. Seit sie sich der Welt verschlossen, habe sie gefährlichen Träumereien Tür und Tor geöffnet.

»Ich bin nun sehr alt, meine Tochter. Ich habe oft Frauen gesehen, die mit Tränen zu uns kamen, die glauben und niederknien wollten ... Heute kann mich das kaum noch täuschen. Diese Frauen, die Gott so fieberhaft suchen, sind nur arme, von Leidenschaft verwirrte Herzen. Ein Mann ist's, den sie in unseren Kirchen verehren ...«

In der verzweifelten Anstrengung, ihren Gedanken endlich Klarheit zu schaffen, entschlüpfte ihr das Geständnis:

»Nun denn, ja, ich liebe ... Das ist alles. Weiter weiß ich nichts, weiß ich nichts mehr ...«

Der Priester unterbrach sie nicht. Sie sprach in kurzen abgerissenen Sätzen wie im Fieber. Sie empfand bittere Freude, ihre Liebe, die sie schon seit so langer Zeit zu ersticken drohte, zu beichten, mit dem Greise ihr Geheimnis zu teilen.

»Ich schwöre Ihnen, ich kenne mich selbst nicht mehr ... Alles ist gekommen ohne mein Zutun ... Vielleicht ganz plötzlich ... Warum soll ich Stärke heucheln, wo ich schwach bin? Ich habe nicht zu fliehen gesucht, ich war zu glücklich. Heute kann ich es weniger denn je ... Sehen Sie, mein Töchterchen ist krank gewesen ... Ich war nahe daran, es zu verlieren. Nun! Meine Liebe war so tief wie mein Schmerz ... Nach diesem schrecklichen Tage ist sie allmächtig geworden ... er besitzt mich, und ich fühle mich fortgetragen.«

Zitternd rang Helene um Atem.

»Ich bin am Ende meiner Kraft. Sie hatten recht, mein Freund! Es erleichtert mich, Ihnen das alles anzuvertrauen ... Sagen Sie mir, o sagen Sie mir: Was geht in meinem Herzen vor? Ich war so ruhig, so glücklich. Der Blitz hat in mein Leben geschlagen. Warum mußte er gerade mich treffen? Warum nicht eine andere? Ich hatte ja nichts dazu getan ... Ich glaubte mich wohl behütet ... Und wenn Sie wüßten! Ich kenne mich nicht wieder... Helfen Sie mir! Retten Sie mich...«

»Der Name? Nennen Sie mir den Namen!« richtete der Priester mit der Freiheit des Beichtigers die Frage an sie.

Helene zögerte. Ihr Blick streifte Herrn Rambaud, der sich noch immer an der Puppe zu schaffen machte und nun mit vertrauensvollem Lächeln herübersah. Jeanne schlief noch immer.

Da beugte sich Helene zu ihrem Beichtiger und flüsterte ihm einen Namen ins Ohr. Der Priester verharrte unbeweglich. Im Schatten war sein Gesicht nicht zu erkennen. Endlich sagte er:

»Ich wußte es, aber ich wollte das Geständnis aus Ihrem Munde hören. Meine Tochter, Sie müssen sehr viel leiden.«

Helene, in sich zusammengesunken, vom Mitleid des Seelsorgers erschüttert, folgte wieder den Funken, die den dunklen Mantel von Paris mit ihrem Golde betupften. Diese Funken vervielfältigten sich ins Unendliche, vom Trocadero bis zum Herzen der Stadt, dann links am Montmartre hinauf, endlich nach rechts hinter dem Invalidendom und den Seiten des Pantheon.

»Sie erinnern sich unseres Gesprächs,« begann der Abbé bedächtig, »ich habe meine Meinung nicht geändert. Sie müssen wieder heiraten, meine Tochter!«

»Ich?« rief Helene verzweifelt. »Aber ich habe Ihnen doch eben gebeichtet! Sie müssen doch wissen, daß ich nicht kann!«

»Sie müssen heiraten,« wiederholte der Priester mit Nachdruck. »Sie werden einen ehrenhaften Mann heiraten.«

Er schien in seiner alten Soutane zu wachsen. Er hob den mächtigen Kopf mit den halbgeschlossenen Augen, dann wurden seine Blicke so groß und hell, daß man sie durchs Dunkel leuchten sah.

»Sie werden einen ehrenhaften Mann heiraten! Der wird Ihrer Jeanne ein guter Vater sein und Ihnen Ihre Ehrbarkeit zurückgeben!«

»Aber ich liebe ihn nicht... ach Gott! ich liebe ihn doch nicht...«

»Sie werden ihn lieben, meine Tochter. Er liebt Sie und ist ein gütiger Mensch...«

Helene wehrte sich und hatte die Stimme gesenkt, so daß man das leise Hantieren Rambauds im Zimmer hören konnte. Er war so geduldig und stark in seiner Hoffnung, daß er sie seit einem halben Jahre nicht ein einziges Mal mit seiner Liebe behelligt hatte. So wartete er vertrauensvoll in entsagender Ruhe.

Der Priester machte eine Bewegung zum Zimmer hin.

»Wollen Sie, daß ich ihm alles sage? Mein Bruder wird Ihnen die Hand reichen, er wird Sie retten. Und Sie werden ihn mit unermeßlicher Freude überschütten.«

Helene hielt ihn zurück, ihr Herz lehnte sich auf. Diese so friedsamen und zartfühlenden Männer mit ihrer eiskalten Vernunft erschreckten sie.

Der Priester machte eine weite umfassende Gebärde.

»Meine Tochter, sehen Sie diese herrliche Nacht, diesen erhabenen Frieden? Warum weigern Sie sich, glücklich zu sein?«

Helene war der Gebärde des Priesters gefolgt, und wieder ruhte ihr Blick auf dem Lichtermeer Paris'. Auch dort kannte sie den Namen der Sterne nicht. Gern hätte sie gefragt, was das für ein lebhaftes Blinken wäre, das sie dort unten zur Linken Abend für Abend sah. Da waren noch mehr Lichter, die sie interessierten, die einen liebte sie, andere wieder ließen sie gleichgültig oder bereiteten ihr Unruhe.

»Mein Vater,« sagte sie und brauchte zum ersten Male diese Anrede der Liebe und Achtung. »Mein Vater, lassen Sie mich weiterleben, – die Schönheit der Nacht ist's, die mich erregt. Sie haben sich getäuscht. Sie würden mir zu dieser Stunde keinen Trost geben können, denn... Sie werden mich nie verstehen.«

Der Priester öffnete die Arme, dann ließ er sie ergeben wieder sinken. Endlich sagte er leise:

»Gewiß, es mußte so kommen... Sie rufen um Hilfe und nehmen doch das Heil nicht an. Wieviel verzweifelte Bekenntnisse habe ich gesammelt, und wie viele Tränen habe ich nicht hindern können! ... Hören Sie, meine Tochter, versprechen Sie mir dies eine: Wenn das Leben für Sie jemals zu schwer wird, denken Sie daran, – ein ehrenhafter Mann wartet auf Sie ... Sie brauchen Ihre Hand nur in die seine zu legen und werden Ihre Ruhe wiederfinden.«

»Das will ich Ihnen gern versprechen,« antwortete Helene fest. Und als sie diesen Schwur tat, hörte man ein schwaches Lachen durchs Zimmer. Jeanne war soeben aufgewacht und freute sich über ihre Puppe, die auf dem Tische lief. Herr Rambaud, stolz auf sein Werk, schützte sie mit den hohlen Händen vor einem Unfall. Aber die Puppe blieb standfest. Sie setzte die kleinen Hacken fest auf und plapperte wie ein Papagei bei jedem Schritt, den sie tat, das gleiche.

»Oh! Das ist herrlich!« rief Jeanne noch schlaftrunken. »Was hast du denn mit ihr gemacht? Sie war kaputt, und nun ist sie wieder, lebendig ... Mach doch ein bißchen Platz, laß mich doch sehen! Du bist gar zu lieb, o so lieb ...«

Über dem in Flammen stehenden Paris war eine Lichtwolke aufgestiegen. Es war wie der rote Atem eines Feuerschlotes. Zuerst war es nur eine Blässe im Dunkel, ein kaum merklicher Widerschein. Dann rötete sich die Wolke mehr und mehr, hob sich und schwebte bewegungslos über der großen Stadt. Zusammengeballt aus allen Flammen und allem grollenden Leben, das aus ihr atmete, glich sie jener Blitz- und Feuerwolke, die den Gipfel des Vulkans ständig krönt.


 << zurück weiter >>