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Jeden Dienstag speisten Herr Rambaud und der Abbé Jouve bei Helene. Sie hatten sich in den ersten Tagen ihres Witwenstandes bei ihr mit freundschaftlicher Ungezwungenheit Zutritt verschafft, um sie wenigstens einmal in der Woche der Einsamkeit zu entreißen. Später waren diese Dienstagsbesuche zur Regel geworden. Die Gäste fanden sich pünktlich um sieben Uhr mit der ruhigen Erwartung ein, die eine gern geübte Pflicht verleiht.
An diesem Abend saß Helene, mit einer Näharbeit beschäftigt, am Fenster, das letzte Dämmerlicht nützend, und wartete auf ihre Gäste. Ihre Blicke schweiften über Paris, über das sich dichter Schatten breitete. Es war schon völlig finster, als Rosalie mit der Lampe hereinkam.
»Die Herren kommen wohl heute nicht?«
Helene sah nach der Uhr.
»Es fehlen noch sieben Minuten an ein Viertel auf acht. Sie werden schon kommen.«
Der Abbé Jouve hatte Rosalie auf dem Orleans-Bahnhof für Helene angeworben, am Tage ihrer Ankunft, als sie noch keinen Stein in Paris kannte. Ein alter Schulfreund vom Seminar, der Pfarrer in einem Dorfe bei Orleans war, hatte sie ihm empfohlen. Sie war untersetzt und dick, hatte ein rundes Gesicht, schwarzes grobes Haar, eine breitgedrückte Nase und einen roten Mund.
»Ah! da kommt Herr Rambaud!« rief sie, die Türe öffnend, bevor es noch geklingelt hatte.
Herr Rambaud war groß, breit, ein echter Provinzler mit frischem Gesicht. Er war fünfundvierzig Jahre und schon ergraut, aber seine großen blauen Augen zeigten noch die verwunderte, unschuldige Miene eines Kindes.
»Und da ist der Herr Abbé, unsere Gesellschaft ist vollzählig zur Stelle!« lächelte Rosalie, die Tür von neuem öffnend.
Während Herr Rambaud, nachdem er Helene die Hand gedrückt, mit der Freude eines Menschen, der sich zu Hause fühlt, Platz nahm, hatte Jeanne sich dem Abbé an den Hals geworfen.
»Guten Tag, mein lieber Freund! Ich bin recht krank gewesen.«
»Recht krank, mein liebes Kind!«
Die Besucher zeigten sich beunruhigt, besonders der Abbé, ein dürres Männchen mit großem Kopfe, gänzlich, schwarz gekleidet; seine halbgeschlossenen Augen weiteten sich und füllten sich mit einem hellen Schimmer von Zärtlichkeit. Jeanne, die ihm ihre Hand ließ, hatte die andere Herrn Rambaud gereicht. Helene mußte über den Anfall berichten. Der Abbé wäre fast böse geworden, weil sie ihn nicht benachrichtigt habe. Man bestürmte sie mit Fragen: jetzt wäre es doch gewiß vorbei? Das Kind hätte nichts davongetragen? Die Mutter lächelte.
»Sie lieben das Kind mehr als ich!« sagte sie. »Nein, sie hat seitdem keine Schmerzen gehabt – nur noch etwas Schwere im Kopf – aber dagegen wollen wir von jetzt an mit Energie vorgehen.«
»Es ist angerichtet,« meldete das Dienstmädchen.
Das Eßzimmer war in Palisander möbliert: Tisch, Büfett und acht Stühle. Rosalie schloß die roten Ripsvorhänge, und eine Hängelampe aus weißem Porzellan in einem kupfernen Ringe beleuchtete jetzt die Tafel, das Gedeck und die dampfende Suppe. Jeder Dienstag brachte das gleiche Tischgespräch. Aber heute plauderte man natürlich vom Doktor Deberle. Der Abbé Jouve hielt ihm eine große Lobrede, obgleich der Doktor nicht gerade zu den frommen Leuten des Viertels gehörte. Er nannte ihn einen Mann von gradem Charakter, mildtätigem Herzen, einen sehr guten Vater und Ehemann, der in jeder Hinsicht das beste Beispiel gebe. Frau Deberle dagegen wäre eine ausgezeichnete Dame, trotz ihrer etwas lebhaften Umgangsformen, die sie ihrer Pariser Erziehung verdanke. Mit einem Worte: ein reizendes Ehepaar. Helene schien glücklich, sie hatte die Leute ebenso beurteilt. Was der Abbé sagte, schloß die stille Aufforderung ein, Beziehungen fortzusetzen, die Helene zu Anfang ein wenig erschreckt hatten.
»Sie schließen sich zuviel ab,« erklärte der Priester.
»Ohne Zweifel,« bekräftigte Herr Rambaud.
Helene sah sie mit ihrem ruhigen Lächeln an, als wollte sie sagen, daß die beiden Gäste ihr genügten und daß sie vor jeder neuen Freundschaft zurückschrecke. Es schlug zehn Uhr. Der Abbé und sein Bruder griffen nach ihren Hüten. Jeanne war auf einem Stuhl in der Kammer bereits eingeschlafen. Die Männer gingen auf Fußspitzen hinaus und sagten im Vorzimmer leise:
»Also heut über acht Tage.«
»Ich vergaß,« sagte der Abbé, die Stufen wieder hinaufsteigend, »Mutter Fetu ist krank, Sie sollten ihr einen Besuch machen.«
»Ich will morgen hingehen,« antwortete Helene.
Der Abbé schickte sie gern zu seiner Amme. Sie hatten mancherlei Gespräche zusammen, besondere Geschäfte, von denen sie niemals vor den Leuten sprachen. Am andern Vormittag ging Helene allein aus. Sie vermied es, Jeanne mitzunehmen, seit das Kind bei einem Krankenbesuche ohnmächtig geworden war.
Sie ging die Rue Vineuse entlang, bog in die Rue Raynouard und von da in die Passage des Eaux. Es ist dies ein seltsamer Treppengang zwischen den Mauern anstoßender Gärten, eine schmale Gasse, die von den Höhen von Passy auf den Kai hinabführt. Unterhalb dieser Steigung wohnte in einem zerfallenen Hause Mutter Fetu in einer Mansarde, die ihr Licht durch ein rundes Dachfenster erhielt. Bis auf ein ärmliches Bett, einen wackeligen Tisch und einen Stuhl, dem das Rohrgeflecht fehlte, war der Raum leer.
»Ach, meine liebe Dame!« begann Frau Fetu zu seufzen, als sie Helene kommen sah.
Die Alte war bettlägerig. Gedunsen und fett trotz ihres Elends, geschwollen und aufgebläht, zog sie mit ihren groben Händen den Tuchfetzen über sich, der ihr als Decke diente. Sie hatte kleine pfiffige Augen und eine weinerliche Stimme.
»Ach, meine liebe Dame! ich dank Ihnen! Oh, da, da, was hab ich für Schmerzen! 's ist, als ob mir Hunde in den Seiten nagten ... da sitzt's, sehen Sie ... die Haut ist recht angegriffen, das Übel sitzt innen. Seit zwei Tagen schon läßt's mir keine Ruhe. Ob's wohl möglich ist, du lieber Gott, so viel leiden zu müssen! Oh! Ich dank Ihnen, liebe Dame! Sie vergessen die Armen nicht – der Himmel wird's Ihnen vergelten!«
Helene hatte sich gesetzt. Als sie einen Topf mit dampfendem Tee auf dem Tische sah, füllte sie eine Tasse und reichte sie der Kranken. Neben dem Topfe lagen ein Päckchen Zucker, zwei Apfelsinen und Süßigkeiten.
»Man hat Ihnen schon einen Besuch gemacht?«
»Ja, ja, eine kleine Dame. Aber die weiß nicht, was unsereins braucht. Ach! wenn ich ein bißchen Fleisch hätte! Die Nachbarsfrau würde es mir mit aufs Feuer setzen... Oh! jetzt zwickt es wieder stärker. Wirklich, ganz so, als ob ein Hund... Ach! wenn ich ein bißchen Fleischbrühe hätte!«
Und trotz der quälenden Schmerzen verfolgte sie Helene, die in ihrer Tasche suchte, mit ihren pfiffigen Augen. Als sie sah, daß Helene ein Zwanzigfrankenstück auf den Tisch legte, erhob sie ein noch kläglicheres Lamento und machte Anstrengungen, sich in die Höhe zu richten. Und dabei gelang es ihr recht gut, den Arm nach dem Geldstück auszustrecken, welches rasch verschwunden war, während sie weiter klagte und jammerte.
»Ach Gott! wieder ein Anfall. Nein, ich kann's nicht länger mehr aushalten. Gott wird's Ihnen lohnen, gute Frau. Ach! mir schneidet und reißt's im ganzen Körper. Der Herr Abbé hatte mir versprochen, daß Sie kommen würden. Bloß Sie wissen, was einem guttut. Ich werde mir ein Stückchen Fleisch holen lassen. Da! jetzt zieht's in die Schenkel. Helfen Sie mir! Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!«
Die Kranke wollte sich umdrehen. Helene zog die Handschuhe aus, faßte so sanft wie möglich zu und bettete sie um. Unterdes öffnete sich die Türe. Helene war so überrascht, Doktor Deberle eintreten zu sehen, daß ihr die Röte in die Wangen stieg. Machte er denn auch Besuche, von denen er nicht sprach?
»Das ist der Herr Doktor!« ächzte die Alte. »Oh! Sie sind alle so gut, so gut! Möge der Himmel Sie segnen!«
Der Doktor hatte Helene höflich begrüßt. Mutter Fetu jammerte, seit der Arzt eingetreten, nicht mehr so heftig. Sie hatte recht gut gemerkt, daß die Dame und der Doktor sich kannten. Sie ließ keinen Blick von ihnen. Ihre Augen gingen vom einen zum andern und es arbeitete in den tausend Runzeln ihres Gesichtes. Der Doktor richtete einige Fragen an die Patientin und untersuchte die rechte Seite. Dann sagte er, sich zu Helene wendend, leise:
»Es sind Leberkoliken. Sie wird in ein paar Tagen auf sein.«
Er riß ein Blatt aus seinem Notizbuch, auf das er ein paar Zeilen kritzelte, und sagte zu der alten Frau:
»Hier! Das tragen Sie zu dem Apotheker in der Rue de Passy und nehmen dann alle zwei Stunden einen Löffel von der Arznei, die man Ihnen dort geben wird.«
Nun erging sich die Alte in neuen Segenswünschen. Helene blieb sitzen. Der Doktor schien zu warten, als ihre Blicke sich trafen. Doch dann stand er auf und ging. Er hatte noch nicht das erste Stockwerk hinter sich, als die Alte schon wieder mit ihrem Lamento anhob.
»Ach! Ein tüchtiger Arzt! Wenn mir sein Mittel nur auch was nützt! Na, Sie können sagen, daß Sie einen wackern Arzt kennen. Sie kennen ihn sicher schon lange? Ach Gott! Was hab ich für Durst! Ich habe Feuer im Blut ... Er ist verheiratet, nicht wahr? Er verdient's, ein gutes Weib zu haben und schöne Kinder ... Oh! Es macht doch viel Freude zu sehen, daß die Herrschaften einander bekannt sind.«
Helene war aufgestanden, um ihr zu trinken zu geben.
»Nun, auf Wiedersehen, Frau Fetu. Auf morgen!«
»Recht so! Wie gut Sie doch sind! Wenn ich nur ein bißchen Leinwand hätte! Sehen Sie, mein Hemd ist zerrissen. Ich liege auf einem Dreckhaufen – das macht nichts – der gute Gott wird Ihnen alles lohnen!«
Als Helene am andern Morgen kam, war der Doktor Deberle schon bei der alten Fetu. Auf dem Stuhle sitzend, schrieb er ein Rezept, während die Alte weitschweifig daherplärrte.
»Jetzt, Herr Doktor, ist's wie Blei. Ganz gewiß, ich hab Blei in der Seite. Das wiegt an die hundert Pfund – ich kann mich nicht drehen, nicht wenden.«
Als sie Helene bemerkte, ging das Schwatzen erst recht los.
»Ach! Da ist ja die liebe gute Dame! Ich sagte es doch dem wackern Herrn: sie wird kommen, und wenn der Himmel niederfiele, sie käme ... Eine echte Heilige, ein Engel aus dem Paradies, und schön, so schön, daß man in den Straßen knien möchte, um sie vorbeigehen zu sehen ... Meine liebe Dame, es geht nicht besser. Jetzt hab ich ein Stück Blei da – da, da drückt's ... Ja, ich hab ihm alles erzählt, was Sie für mich getan haben. Der Kaiser würde nicht mehr tun. Ach! Man müßte gar böse sein, Sie nicht zu lieben, ganz und gar schlecht und böse ...«
Während die Fetu schwatzte, mit dem Kopf auf dem Kissen hin und her rutschend, die Augen halb geschlossen, lächelte der Doktor Helene zu, die vor Verlegenheit nicht aus noch ein wußte.
»Mutter Fetu,« flüsterte sie, »ich hab Ihnen ein bißchen Wäsche gebracht ...«
»Danke, danke! Gott wird's Ihnen lohnen. Ach! Sie und der brave Herr da! Sie wissen nicht, daß er mich schon vier Monate lang behandelt. Arznei, Fleischbrühe und Wein hat er mir gekauft. Man findet nicht viele reiche Leute, die so denken. Noch ein Engel des lieben Gottes mehr ... Oh! da, da – 's ist, als ob ich ein ganzes Haus im Leibe hätt' ...«
Jetzt schien auch der Doktor verlegen. Er erhob sich und wollte Helene den Stuhl abtreten, auf dem er saß. Diese aber lehnte ab, obgleich sie in der Absicht, ein Viertelstündchen zu bleiben, gekommen war.
»Danke sehr, Herr Doktor, ich habe gar keine Zeit. Auf Wiedersehen, Mutter Fetu. Ich glaube nicht, daß ich morgen vorbeikommen kann ...«
Dennoch ging sie am andern Tage wieder hinauf. Die alte Frau schlief. Als sie aufwachte und Helene in ihrem schwarzen Kleide auf dem Stuhle sitzen sah, rief sie:
»Er ist dagewesen. Wirklich! Ich weiß nicht, was er mir gegeben hat ... Ich bin jetzt steif wie ein Stock. Ach! wir haben von Ihnen geplaudert. Er hat mich allerhand gefragt: ob Sie immer so traurig wären, ob Sie immer solches Gesicht machten – er ist ein so guter, guter Mensch!«
Sie sprach langsamer, schien auf Helenes Gesicht die Wirkung ihrer Worte abzulesen, mit jener schmeichelnden, ängstlichen Miene armer Leute, die ihren Mitmenschen eine Freude machen wollen. Wahrscheinlich glaubte sie auf der Stirn ihrer lieben Dame eine Falte des Unmuts zu bemerken. Unsicher fuhr sie fort:
»Ich schlafe immer. Ich bin vielleicht gar vergiftet. Eine Frau in der Rue de l'Annonciation ist vom Apotheker vergiftet worden. Er hatte ihr eine falsche Arznei gegeben.«
Helene blieb heute fast eine halbe Stunde bei Mutter Fetu. Sie hörte ihr zu, wie sie von der Normandie erzählte, wo sie herstammte und wo man so gute Milch tränke. Nach einigem Stillschweigen fragte Helene beiläufig:
»Kennen Sie den Doktor schon länger?«
Die Alte, die jetzt auf dem Rücken lag, hob die Lider und senkte sie wieder.
»Das will ich meinen!« antwortete sie leise. »Sein Vater hat mich vor achtundvierzig behandelt, und er kam in seiner Begleitung.«
»Man hat mir gesagt, der Vater sei ein heiliger Mann gewesen.«
»O ja, o ja ... ein bißchen Sausewind. – Der Herr Sohn, sehen Sie, ist mehr wert. Wenn der Sie anfaßt, so glauben Sie, er hat Samtfinger.«
Neues Stillschweigen.
»Ich rate Ihnen, alles zu tun, was er Ihnen sagt,« nahm Helene wieder das Wort. »Er ist ein sehr gelehrter Herr, er hat meine Tochter gerettet.«
»Ganz gewiß,« rief die Mutter Fetu, warm werdend. »Man kann Vertrauen haben, er hat einen Knaben zum Leben erweckt, den man schon begraben wollte. Oh! Ich darf's schon sagen, liebe Dame: es gibt keinen zweiten Mann, wie er ist – ach! Ich danke dem lieben Gott auch alle Abende; ich vergesse weder ihn noch Sie, wenn ich zu ihm bete – möge der liebe Gott Sie beschützen und Ihnen jeden Wunsch erfüllen!«
Die Alte hatte sich aufgerichtet und schien mit Inbrunst zum Himmel zu flehen.
Helene ließ sie gewähren – sie mußte fast lächeln. Die geschwätzige Unterwürfigkeit des alten Weibes schläferte sie ein und betäubte sie. Als sie fortging, versprach sie ihr eine Haube und ein Kleid für den Tag, da sie das Bett würde verlassen können.
Die Alte erholte sich sehr langsam. Der Doktor war verwundert und nannte sie einen Faulpelz, wenn sie ihm erzählte, daß es ihr jetzt wie Blei in den Füßen läge. Endlich mußte sie aufstehen. Am andern Morgen brachte ihr Helene das versprochene Kleid und die Haube. Der Doktor war ebenfalls zugegen. Plötzlich rief die Alte:
»Ach Gott! ich hab's ja ganz vergessen. Die Nachbarin hat mich gebeten, mal nach dem Feuer zu sehen.«
Damit lief sie hinaus und warf die Tür hinter sich zu, den Doktor mit Helene allein lassend. Sie setzten ihre Unterhaltung fort, ohne zu merken, daß sie eingeschlossen waren. Der Doktor bat Helene, des öfteren einmal nachmittags in seinen Garten in der Rue Vineuse zu kommen.
»Meine Frau,« sagte er, »soll Ihren Besuch erwidern und wird auch meine Einladung wiederholen. Ihrem Kinde würde das gewiß vorzüglich bekommen.«
»Ich sage durchaus nicht nein. Ich verlange gar nicht, daß man so viel Höflichkeit an mich verschwendet,« sagte sie lachend. »Bloß fürchte ich, unbescheiden zu sein. Übrigens, wir werden ja sehen ...«
So plauderten sie noch. Dann wunderte sich der Doktor:
»Wo ist denn das Weib hingelaufen? Sie ist ja schon eine Viertelstunde weg, um nach ihrem Feuer zu sehen.«
Helene sah nun, ohne sich etwas dabei zu denken, daß die Tür verschlossen war. Sie sprach von Frau Deberle, die sie tüchtig lobte. Als aber der Doktor ständig den Kopf zur Türe wandte, fühlte sie sich endlich peinlich berührt.
»Eigentlich recht sonderbar, daß sie nicht zurückkommt.«
Die Unterhaltung stockte. Helene, die nicht wußte, was beginnen, öffnete die Dachluke; und als sie sich umwandte, vermieden sie, einander mit den Blicken zu begegnen.
»Ich habe sehr viel Besuche zu machen,« sagte der Arzt. »Wenn sie nicht bald kommt, gehe ich.«
Und dann ging er. Helene hatte sich gesetzt. Mutter Fetu trat, sobald der Doktor die Stube verlassen hatte, mit riesigem Wortschwall herein.
»Ach! Ich habe nicht laufen können. Mich überfiel solche Schwäche. Er ist also gegangen, der liebe gute Herr? Freilich, hier gibt's keine Bequemlichkeit. Sie sind alle beide Engel vom Himmel, daß Sie Ihre Zeit einem unglücklichen Weibe widmen. Aber der liebe Gott wird's Ihnen vergelten! Es ist mir heut in die Beine gefahren. Ich hab mich auf eine Stufe setzen müssen. Und ich wußte auch gar nicht, woran ich war ... weil Sie so gar still waren ... Ach, wenn ich doch nur Stühle hätte! Wenigstens einen Lehnsessel! Meine Matratze ist sehr schlecht. Ich schäme mich, wenn Sie kommen ... Ach! Wenn es doch der liebe Gott fügte, daß der liebe Herr und die liebe gute Dame alle ihre Wünsche befriedigen könnten.«
Helene hörte ihr zu, aber sie empfand eine sonderbare Beklemmung. Das fette Gesicht der Mutter Fetu beunruhigte sie. Nie vorher hatte sie eine solche Übelkeit in diesem engen Räume empfunden. Sie sah erst jetzt die schmutzige Armut und litt unter dem Mangel an Luft. Rasch eilte sie hinaus, von den Segenswünschen peinlich berührt, mit denen die Alte sie verfolgte.
Es war gerade am Dienstag. Abends um sieben Uhr, als Helene soeben eine kleine Stickerei vollendet, ertönten die gewohnten Glockenschläge, und Rosalie öffnete:
»Ah! Heute kommt der Herr Abbé zuerst – nun! da ist ja auch der Herr Rambaud.«
Das Essen war sehr heiter. Die kleine Jeanne war noch munterer als am letzten Abend. Die beiden Brüder, die sie verhätschelten, erreichten, daß das Kind trotz des ausdrücklichen Verbots des Doktors Bodin ein wenig Salat essen durfte. Als man dann ins Zimmer hinüber ging, hängte sich das Kind an den Hals der Mutter und flüsterte:
»Ach, Mütterchen! Ich bitte dich, nimm mich doch morgen mit zu der alten Frau.«
Aber der Priester und Herr Rambaud waren die ersten, die schalten. Zu unglücklichen Menschen könnte man sie nicht führen, da sie sich dort nicht zu benehmen wüßte. Das letztemal hätte sie zwei Ohnmachten gehabt. Drei Tage lang seien ihr, selbst im Schlaf, die Tränen nicht aus den Augen gekommen.
»Nein, nein! ich werde nicht weinen – ich verspreche es euch!« rief das Kind.
Da gab ihr die Mutter einen Kuß und sagte:
»Es ist unnütz, daß wir weiter darüber reden, mein Süßes! Die alte Frau ist wieder gesund. Ich werde nicht mehr ausgehen, werde den ganzen Tag bei dir bleiben.«