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Der diesjährige sogenannte Kreisball in der Bezirksstadt fand erst kurz vor Ostern statt, er war immer wieder verschoben worden, weil Herr Martin, der Wirt vom ›Anker‹, krank war, und ein anderes Lokal hatte man nicht zur Verfügung.
Nun war es aber auch wunderschön geworden. Der dicke Herr von Brenkenhoff war wie gewöhnlich der Festordner und hatte dafür gesorgt, daß es auch ein anständiges Essen gab. Er hatte selbst das Menü entworfen, denn in dieser Beziehung war auf Herrn Martin kein Verlaß, dessen kulinarische Feinheit in Kalbsbraten mit Kartoffelsalat den Gipfel erreichte. Schwierigkeiten machte dem dicken Brenkenhoff diesmal nur die Tischordnung, und zwar lediglich deshalb, weil er nicht wußte, wo er den Bärwalder hinsetzen sollte.
Diesberg hatte auf Zureden Ottens noch im letzten Augenblick zugesagt. Das kam Herrn von Brenkenhoff unerwartet. Der Bärwalder lebte auf seiner Klitsche wie in einem Mauseloch. Natürlich hörte man überall, wie es da zuging: daß neu gebaut worden war, daß die Ernteaussichten glänzend standen, daß es mit dem Gestüt Ernst wurde, daß da kurzum ein neues Leben begonnen hatte. Doch in der Umgegend ließ Erni Diesberg sich nicht sehen. Warum nicht? Wer ihn einmal traf, dem sagte er, er habe zu viel zu tun. Aber vielleicht genierte er sich bloß wegen der närrischen Geschichte mit seiner Frau. Darüber redete man natürlich in jedem Herrenhause. Merkwürdig war es ja auch. Er hatte die reiche Lipsius geheiratet, und die saß nun in irgendeinem Sanatorium in der Schweiz, und Diesberg war als Strohwitwer von seiner Hochzeitsreise heimgekehrt.
Was fehlte denn eigentlich der jungen Frau? Durch die Luft ging ein Staunen, kein Mensch wußte, woher es kam. Ein schweres Herzleiden, sagte man. Aber der Wassergraf verneinte das. Er hatte mit Diesberg gesprochen. Kein Gedanke von einem schweren Leiden, die Baronin war einfach ein sehr nervöses Persönchen und sollte den Winter über im Süden bleiben, und nachher, im Sommer, da würde sie sich schon zeigen ... Nun also gut. Brenkenhoff kratzte sich den Kopf und schob seinen schwarzen Zigarrenstummel aus dem rechten in den linken Mundwinkel. Er wußte, man erzählte sich blödsinnige Geschichten über den Erni. Er hätte seine junge Frau auf der Hochzeitsreise geprügelt, weiß Gott, und nun sei schon wieder die Scheidung eingeleitet. Herr von Protzen wollte das von Edward Simmens gehört haben. Aber Simmens bestritt es. Ganz gleich, man klatschte über den Bärwalder, und es war schwer, ihm einen geeigneten Tischplatz zu geben. Der Wassergraf aus Freilehningen wollte seine drei ältesten Mädel mitbringen. Doch zwischen die konnte man ihn nicht setzen, erstens mal nicht wegen der Annelene, da wäre das Getratsch von neuem losgegangen, und dann war der Diesberg ja unbestreitbar verheiratet, er mußte also auch eine verheiratete Dame zu Tische führen. Brenkenhoff entschloß sich endgültig, ihm rechts Frau von Protzen und links Frau Strammin, die Gattin des Apothekers, als Nachbarinnen zu geben. Frau von Protzen war schwerhörig, und Frau Strammin war asthmatisch – mit denen konnte er sich ganz gut unterhalten.
Aber Diesberg erschien gar nicht zu der Eröffnungstafel, Herr von Otten trat pünktlich an, der hatte sich auch rasch den Kreis erobert, er fuhr überall herum und kaufte Pferde, Ochsen und Zuchtschweine und schonte das Geld nicht, und sein Wesen, eine Mischung von Gentleman und Knickerbocker, gefiel namentlich bei den aristokratischen Hinterwäldlern. Er entschuldigte Diesberg. Ein Telegramm habe ihn nach Berlin berufen, es handelte sich um die Frühjahrsrennen, aber er käme mit dem Abendzuge und dann sofort hierher. Natürlich fragte man auch mit gespitzten Ohren nach seiner Gattin. Danke, danke, danke, erwiderte Otten lebhaft, die schreibe viel, es gehe ihr gottlob ausgezeichnet, und im Mai oder Juni werde sie wohl in Bärwalde sein ...
Nun war der Platz zwischen Frau von Protzen und Frau Strammin leer, aber sonst war hübsch für bunte Reihe gesorgt. Es war selbstverständlich alles da, was im Kreise Ansehen genoß, die alten Krautjunker in vertragenen Fräcken, die jüngeren Herren gebügelter, die älteren Damen in vollem Zubehör der Toiletten des Vorjahrs, die jungen Mädchen in Weiß, Blau und Rosa, vorsichtig ausgeschnitten, lachend, kichernd, wedelnd. Otten hatte die Annelene neben sich, unverändert pausbäckig, ein liebes strammes Landengelchen, quellend in den Gliedern und immer einen Sommerregen kecken Geplauders auf dem Kirschrot der Lippen. Die Schwestern Annemie, Mieze genannt, und Annelotte, die Lotti, waren diesmal auch mitgenommen worden und plätscherten in Seligkeit. Es war schon eine Himmelsfreude, einmal nicht in Sandalen umherklappern zu brauchen, sondern zartrosa Strümpfe und niedliche Schuhchen tragen zu dürfen und dazu die neuen Kleider, weder Pariser noch Berliner Konfektion, nur ländliches Fabrikat, aber duftig und rüschig und wolkenhaft, ein Geflatter um kernfeste Reize. Die Mieze hatte den jungen Protzen als Tischherrn, der ein Vorwerksgut seines Vaters verwaltete, einen hübsch gewachsenen Burschen, dessen wasserblaue Augen vielfach verwegenen Anschluß an dem Halsausschnitt der Nachbarin suchten – und Lotti wurde von Herrn Wolfram von Gaedechens umworben, dem Sohne des Landrats, eben Assessor geworden, doch auf dem Sprunge, den Dienst zu quittieren, um seinem alten Herrn in der Wirtschaft zu helfen.
Herr von Brenkenhoff konnte zufrieden sein, es klappte alles, und man amüsierte sich ausgezeichnet. Es gab auch gut zu essen, es fing mit Gänseleberpastete an und endete mit einer Eisspeise, die freilich etwas zu fest geraten war, so daß man sie mit dem Löffel kaum zerteilen konnte. Annelene versuchte es mit der Kraft der Amazone und stieß dabei ihren Glasteller entzwei, das Eis hüpfte auf das Tischtuch, man quiekte und lachte; Otten wollte es mit der Gabel fangen, doch es wanderte, glitschig werdend, weiter und erregte Entsetzen und Heiterkeit. Der dicke Brenkenhoff freute sich, der Abend fing lustig an, der billige Schaumwein spukte schon in den Köpfen. Nur Mister Simmens ärgerte sich. Brenkenhoff hatte ihn neben Fräulein von Zierow gesetzt, das häßlichste Mädchen im Kreise und eine eingebildete Pute, für die nur der nachweisbare Uradel menschlichen Zusammenhang hatte und die den Burgesrodaer infolgedessen wie eine fremdartige Substanz behandelte. Aber Brenkenhoff hatte sich in einem Anflug von Bosheit das so ausgedacht, er konnte Simmens nicht ausstehen. Merkwürdig, daß seit der Zwangsversteigerung von Bärwalde kein Mensch ihn so recht leiden mochte.
Nach der Tafel ging es in die sogenannte Scheune, so wurde der Ballsaal im ›Anker‹ genannt, aber man hatte die Wände heute mit Tannengrün und Girlanden geschmückt und kleine Kinderfähnchen dazwischen gesteckt. Es sah mehr beruhigend als festlich aus, doch es störte nicht, und als nun die Stadtmusik auf der Estrade in der Ecke den Eröffnungswalzer spielte, wirbelten auch gleich die Paare los. Otten und Annelene waren die ersten, ein Riese und ein Pygmäenweibchen, der Gigant schwenkte seine Kleine mit Anmut, und wenn sein Blick in die Tiefe fiel, über ihren Blondschopf und das Atlasschleifchen, das auf dem weizenhellen Haar auf- und niederwippte wie ein Vögelchen am Nestrand, dann glitt ein wohliger Ausdruck über sein Gesicht, ein schmunzelndes Behagen.
Der Wassergraf und der Ritterschaftsrat von Protzen standen neben der Tür an der Wand und schauten dem Tanze zu.
»Seh mal einer den Otten an,« sagte Protzen und schlenkerte mit dem rechten Arm, »das hüpft wie der Jüngste. Wär' das nicht was für deine Änneli, Pakisch? Aber er hat wohl keine Bimse.«
»O doch,« antwortete der Wassergraf, der in seinem zu weiten Frack wie eine große Heuschrecke aussah, »er ist in recht guten Verhältnissen, er hat sich viel sparen können und möchte sich wohl auch ankaufen. Aber Diesberg läßt ihn ja nicht los, und er hängt an Erni, es ist eine dicke Freundschaft.«
»Na, wenn die Baronin nun endlich kommt,« meinte Protzen, »wenn sie überhaupt mal kommt, dann denke ich mir, wird der Otten sich sowieso verabschieden. Sie können nicht zu dreien mitsammen leben, und den Inspektor wird Otten auch nicht spielen wollen. Es ist doch eine komische Geschichte, das mit der Heirat Diesbergs.«
Der Wassergraf zog an seiner Nase. »Gott, wie man es nimmt, Protzen. Es war das Vernünftigste, was der Erni tun konnte. Nun ist er aus allen Schwulitäten. Daß die arme Frau an nervösen oder hysterischen Anfällen leidet oder was weiß ich, dafür kann er schließlich nichts. Übrigens spricht er immer mit großer Liebe und Verehrung von ihr und will sie aus Clarens abholen, sobald es hier ein bißchen wärmer geworden ist. Sie kann unser Klima nicht vertragen, sagt er.«
»Ach herjeh, das ist freilich übel! Da werden sie sich wohl öfters trennen müssen.«
»Will ich nicht sagen. Vielleicht geht er im nächsten Winter mit ihr nach Ägypten. Er kann sich's ja leisten. Vorläufig hat er Bärwalde wieder in Ordnung bringen wollen. Und das gelingt ihm auch mit Ottens Hilfe. Alles, was wahr ist. Protzen, der Diesberg hat sich gewaltig rausgemausert. Ist das nun der Einfluß der Frau, sozusagen eine Fernwirkung, oder ist es eigene Initiative, jedenfalls hat der Erni sich gründlich geändert. Man muß bloß Otten über ihn urteilen hören. Natürlich, die nötigen Gelder sprechen ja auch mit, denn ohne acht Groschen Kurant wäre aus Bärwalde nichts zu machen gewesen – immerhin, der Diesberg ist fabelhaft hinterher, er ist wie verwandelt, wie verwandelt, seit er die Frau hat –«
»Eine Frau für die Hochzeitsreise«, ergänzte der Ritterschaftsrat. Dann erhielt er einen kräftigen Schubs von der Seite. Ein Pärchen hatte ihn angetanzt, der eigene Sohn mit der Mieze Pakisch. Protzen grinste über das ganze Gesicht.
»Der ist auch verliebt wie ein Stint mit Sirup«, raunte er dem Nachbar zu.
»Wer?« fragte der Wassergraf.
»Mein Bengel, der Hanskarle.«
»In wen? Wieso verliebt?«
»Jösses, Pakisch, du bist eine alte Schlummerrolle! In deine Annemie, in wen denn sonst! Kriegt er 'n Korb, wenn er um die mal anhalten sollte? Es braucht ja nicht gleich morgen zu sein.«
Pakisch zog wieder seine Nase durch die Finger. »Jede meiner Göhren kriegt sechstausend Mark Rente«, begann er in einem Tonfall, als wenn er predigen wollte, doch der Ritterschaftsrat ließ ihn nicht erst weiter sprechen.
»Weiß ich ja,« sagte er, »weiß ja, daß du ein Geizhals bist. Aber ich rechne darauf, daß du dich einmal bei deiner blödsinnigen Baderei im Winter gehörig erkältest und dann abschnappst. Und in die Gefilde der Seligen oder in die Hölle – du kommst ganz sicher in die Hölle – kannst du deinen Mammon nicht mitnehmen. Hanskarl braucht ihn übrigens gar nicht. Der kann seine Frau alleine ernähren ... sieh mal, da schlängelt der ekelhafte Kerl, der Simmens, sich wieder an deine Annelene heran – und wie süß er lächelt, nu macht er ein Kompliment wie 'ne Gliederpuppe, er möchte mit ihr tanzen, aber sie bedauert – das gönne ich dem Beefsteakkauer – ich kann den Menschen nu mal nicht verknusen ...«
»Guten Abend, Onkel Malte,« sagte eine helle Stimme hinter dem Wassergrafen, »grüß Gott, Herr von Protzen.«
Diesberg war eingetreten. Verschiedene im Saale sahen ihn in der Tür, dann sahen ihn alle. Die Köpfe wandten sich ihm zu und wandten sich wieder ab. Da war er wahrhaftig! War er nicht schlanker geworden? Ja sicher, gestreckter, mit verlängertem Gesicht, noch besser in Form als früher, vielleicht trainierte er sich schon für die neuen Rennen. Aber er sah gut aus. Auf den wetterbraunen Zügen lag ein Ausdruck von Beharrlichkeit, etwas Hartes und Geschlossenes, um den Mund kräuselte sich ein reizbares Lächeln, das zu sagen schien: Fangt nicht mit mir an, ich bin stachlig geworden! –
Sonst war er der elegante Mann von einst. Der junge Herr Wolfram von Gaedechens, der seinen schönen Eigenwuchs von dem ersten Schneider Berlins umkleiden ließ, bewunderte den Sitz des Fracks, zumal im Anschluß der Taillengegend, vertiefte sich gedankenvoll in den glatten Fall der Hose und wurde fast neidisch beim Anblick der schmalen lackierten Stiefel. Übrigens schien Diesberg die allgemeine Aufmerksamkeit ziemlich gleichgültig zu sein. Nachdem er mit Pakisch und Protzen ein paar Worte gewechselt hatte, die wenig besagten, ließ er das Auge, ein wenig zusammengekniffen, in flüchtigem Kreisen durch den Saal schweifen und schlängelte sich dann zwischen die Tanzenden hindurch zu den an der Wand sitzenden Damen. Den älteren küßte er die Hand, die jüngeren begrüßte er freundlich, doch mit feinen Unterschieden, beabsichtigten oder ungewollten, teils höflich kühl, teils kameradschaftlich, teils mit derber Lustigkeit, und stieß endlich auch auf Annelene, die soeben von ihrem Tänzer zum Stuhle geführt wurde. Er hatte sie seit der letzten heftigen Aussprache in Freilehningen mit der lamahaften Abschiedsszene nicht wieder gesehen, streckte ihr nun aber, auf alle Fälle Widerstand erwartend und darauf vorbereitet, die Hand entgegen und sagte lässig:
»Guten Abend, Annelene.«
Sie wurde rot, es war wie eine fliegende Hitze, die auch ihren Hals färbte und die Stirn bis zu den weißlichen Haarwurzeln, aber sie lächelte dabei mit vollgewölbten Lippen, nahm seine Hand und erwiderte:
»Guten Abend, Erni. Wie geht es dir?«
»Danke gehorsamst, recht gut. Und dir?«
»Ausgezeichnet.«
Damit war die Begrüßung erledigt. Diesberg schritt weiter, tauschte ein lachendes Wort mit Annemarie, schlug Otten auf die Schulter und ging dann in das Nebenzimmer, wo die nicht tanzlustigen Herren bei Bier und Zigarren saßen und ihn in ihrer Festlaune mit fröhlichem Hallo empfingen. Edward Simmens war auch dabei, erhob sich nun in sichtlicher Verlegenheit und wußte anscheinend nicht recht, sich sein Benehmen dem Freunde von vorgestern gegenüber zurechtzulegen. Diesberg schaute anfänglich über ihn fort, griff in die Hände der anderen, ein paar derbe Redensarten flogen herüber und hinüber, und dann stand er vor dem Burgersrodaer.
»Auf ein Wort, Simmens«, sagte er und zog ihn in die ziemlich weit vom runden Stammtisch entfernte Fensternische.
Aller Augen folgten den beiden. »Zackri,« sagte der Landgerichtsrat Stauber halblaut, »da wird's doch nicht etwa Krakeel geben? ...« »Geht uns nichts an«, erwiderte Herr von Brenkenhoff und hob sein Bierglas.
Simmens stand blaß am Fenster, auf alles gefaßt, kalte Fremdheit im Gesicht. Diesberg dämpfte seine Stimme.
»Ich halte dich nicht lange auf«, sagte er. »Wollte dich nur fragen: ist es richtig, was man sich erzählt, daß du über mich und meine Frau unpassende, ich will bei dem Ausdruck bleiben – unpassende Äußerungen verbreitet hast?«
»Verrückt«, antwortete Simmens sofort. »Wie kommst du darauf? Gott, was klatscht man alles zusammen!«
»Also dein Ehrenwort, daß es nicht wahr ist?«
Simmens zuckte mit den Achseln. »Verlangst du eines Blödsinns halber mein Ehrenwort?«
»Ja.«
»Ehrenwort, daß es nicht wahr ist«, erwiderte Simmens kurz.
Diesberg nickte. »Erledigt«, sagte er. Sie traten wieder an den Tisch und ließen sich nieder. Einer erzählte gerade eine schlüpfrige Geschichte. Das war so Sitte im Rauchzimmer, Mikoschwitze und pikante Historien jagten sich, Brenkenhoff war darin groß, und Stauber veredelte sie literarisch. Er hatte auch immer Zitate guter Autoren zur Hand.
Diesberg trank durstig ein Glas Bier und kehrte in den Ballsaal zurück. Sofort lenkte am runden Tische sich das Gespräch auf ihn. Doch war man des Lobes voll, fand ihn vortrefflich aussehend und sang Hymnen auf seine Tüchtigkeit.
»Ich bin neugierig auf seine Frau«, sagte Brenkenhoff.
»Sie soll epileptisch sein, die Ärmste«, fügte Stauber hinzu.
»Simmens,« rief Herr von Gaedechens, »Sie sind ja der Allwissende. Wie ist das mit der Baronin Diesberg?«
»Ich weiß nichts,« erwiderte Simmens ruhig, »und wüßte ich etwas, so würde ich es nicht sagen. Man verdreht leicht jede Äußerung. Und Diesberg ist mein alter Freund.«
Das betonte er. Im Ballsaal war soeben eine Damentour angesagt worden. Mieze und Lotte Pakisch hatten sich ihre Anbeter geholt, Annelene wirbelte mit Otten umher. Ihr rundes Gesichtchen glühte wie eine Päonie. Sie nickte Diesberg zu, hielt plötzlich inne im Tanze und trat am Arm Ottens an ihn heran.
»Wollen wir auch mal walzen?« fragte sie.
»Gern,« antwortete er, »aber ich bin nicht mehr in der Übung.«
»Immer nur rechts herum,« riet Otten, »links herum drückt sie auf den Zügel.«
Diesberg war schon im Schwunge. Es kam ihm gar nicht sonderbar vor, daß er das warme Mädelchen wieder einmal in den Armen hielt. Hatte sie nicht noch gestern auf seinen Knien gesessen und ihn geküßt? – Dies Gestern lag lange Wochen zurück, aber das Empfinden des Augenblicks überbrückte die Zeitspanne. Annelene war wirklich noch das Kind von damals. Ein Schmerz konnte sie wütend durchschütteln, und war er vorüber, so lachte sie wieder.
Er führte sie zum Platz. »So,« sagte er, » ex est.«
»Hab' auch genug«, erwiderte sie und setzte sich neben ihn. »Wie geht es denn deiner Frau?«
»Danke. Wechselnd. Aber im ganzen erheblich besser.«
»Was ist es denn eigentlich?«
»Nervengeschichte«, sagte er.
Sie schwieg einen Augenblick, zupfte aus alter Gewohnheit das Kleid tiefer über die Knie und hub von neuem an: »Du tust mir leid, Erni. Nun hast du eine Frau, und sie soll ja sehr reizend sein, und hast doch keine.«
»Ja, Änneli, Pech ist dabei, aber es sah keiner voraus.«
Ihre Gedanken sprangen weiter. »Ich habe noch deinen Armreif,« sagte sie, »den du mir mal aus Berlin mitgebracht hast. Vater hat ihn in Verwahrung genommen und wollte ihn mir eigentlich erst zur Verlobung geben. Soll ich ihn dir zurückschicken?«
»Gott bewahre. Lege ihn nur an deinem Verlobungstage zum ersten Male an.«
»Mich nimmt ja keiner, Erni. Sie spielen bloß alle mit mir. Auch dein Freund Otten – aber sag' ihm das nicht wieder.«
»Kannst du ihn leiden?«
»Ach ja, ich hab' ihn recht gern. Er hat so etwas Sauberes – und Anständiges; und was mir am meisten an ihm gefällt, ist der Ernst seines Humors. Das klingt, wie sagt man, klingt paradox, ist aber richtig. Er kann das Blödsinnigste ganz ernsthaft erzählen.«
»Das ist nur witzige Begabung. Aber er kann mehr. Er bändigt auch das Tragische durch seinen Humor. Er hat eine Kraftauffassung des Lebens, um die ich ihn beneide. Und er ist ein guter Freund.«
»Ja, das glaub' ich. Er schwärmt für dich. Und nun will ich dir gestehn: er kommt ja öfters nach Freilehningen, er hat alle Augenblick sein Geschäftchen bei uns – und da hat er mir einmal eine gehörige Standpauke gehalten. Wegen meines Wutanfalls damals, du weißt schon. Es ist gewiß, ich habe mich sehr ungezogen benommen –«
»Kann keiner bestreiten.«
»Nun ja, aber du mußt auch überlegen ... Es kam mir doch alles so plötzlich. Otten hat mich nachdenken gelehrt. Wenn er spricht, klingt es wie ein lustiges Ritornell, aber es sind immer Choraltöne dazwischen. Er meinte – ach, ich will es lieber nicht wiederholen! Du mokierst dich vielleicht.«
»Ich denke nicht dran. Sprich nur.«
»Er meinte, was du und ich für Liebe hielten, sei gar keine Anziehungskraft der Seelen, verstehst du, sondern bloß ein aus häufigem Beisammensein sich ergebendes, gewissermaßen gewohnheitsmäßiges Tändeln. Sagte er. Küssen, knutschen und dalbern, es sei sehr hübsch – ja, das ist es schon –, aber es reiche für die Ehe nicht aus. Und siehst du, das glaube ich auch.«
»So,« sagte Diesberg, »also das glaubst du nun auch – weil Otten es dir gepredigt hat? ...« Ein wippendes Lächeln zuckte um seinen Mund.
»Er predigte gar nicht,« entgegnete Annelene voll Eifer, »nein, Erni, er sprach ohne Salbaderei, aber meinetwegen nenne es Predigt, dann war es wenigstens eine, die in die Herzrinnen ging. Und noch etwas Nachdenkliches sagte er. Er sagte, anders sei es zwischen dir und deiner Frau gewesen. Da habe im Nu der Seelenkontakt eingesetzt, das habe er sofort aus deinen Worten gemerkt – und was du da von einer Vernunftehe gefabelt, sei bloß eine Verkleidung der Gefühle gewesen. Das war's ja aber grade, was mich so geärgert hat, Erni! Du hast sogar von der Möglichkeit einer baldigen Scheidung gesprochen, denke bloß! Ein Ehrenmann wie du!«
»Ja,« sagte Diesberg in einem Ton, als stehe er hinter einem Vorhang, »ich war verrückt. Du hast schon recht.«
»Und Otten hat auch recht. Darum freue ich mich, daß ich mich mal mit dir aussprechen kann. Nun mußt du auch meine Unart von damals vergessen. Nun sind wir wieder die besten Freunde. Ohne Knutscherei – geknutscht wird nicht mehr. Jetzt bist du verheiratet. Bist du denn glücklich?«
»Gewiß – soweit ich das sein kann.«
»Deine Frau wird ja bald wieder ganz gesund sein. Dann bringst du sie zu uns. Ich will sie auch recht lieb haben, das verspreche ich dir.«
Er drückte heimlich ihre Hand. Sein Herz hämmerte gegen die Brust.
»Buh,« sagte sie, »da kommt Mister Simmens. Einen Tanz bin ich ihm schuldig. Du, der kriecht um mich herum! Aber ich danke für Obst ...«
Diesberg erhob sich, als Simmens nahte. Eine Unterflut der Überraschung war durch den Saal gegangen, da man Diesberg und Annelene in emsigem Plaudern nebeneinander sah. Auch der Wassergraf reckte den knochigen Hals, und Verwundern regte sich hinter den runden Brillengläsern. I sieh, sieh mal an, da hat die Änneli sich doch in das Unvermeidliche gefunden! Sie muckscht nicht mehr, sie tut wieder ganz betulich mit dem Erni – na ja, das ist ja auch das Verständigste. Arme Kleine – selbst die Wartezeit besteht nicht mehr zu recht. Worauf noch warten? Wenn's Mailüfterl weht, tritt die schöne Baronin ihre Herrschaft in Bärwalde an – kerngesund an der Seite ihres verliebten Mannes. Worauf noch warten ... Der lange Pakisch saß in dem Winkel des Saals, wo ein primitives Gestell aus Blech den eisernen Ofen verdeckte, hatte die Beine geknotet und simulierte. Eigentlich war ihm alles recht verquer gegangen. Zuerst hatte er den Diesberg vor die Tür gesetzt. Natürlich, das hätte jeder Vater so gemacht. Dann war die Verlobung gekommen. Eine herzleidende Frau, eine Ehe auf Kündigung. So hieß es doch. Das hatte der Diesberg ihm gar nicht verhehlt, er war von brutaler Offenheit gewesen. Die Annelene saß ihm noch im Kopf – und andererseits zog die Hoffnung auf den Wiederbesitz von Bärwalde wie ein krachendes Wetter durch seine Hirnspulen. Alles blitzte in ihm – damals, bei jener Aussprache in Freilehningen, war der ganze Mensch wie ein lodernder Vulkan gewesen. Aber dann – ja, dann war er allein von seiner Hochzeitsreise heimgekehrt, und alles hatte sich plötzlich gedreht und gewendet. Nun schwärmte er von seiner Frau – weder Herzleiden noch sonst was – abgebrochene Flitterwochen, die man im Mai wieder aufnehmen wollte – – da konnte Annelene lange warten ...
Der Wassergraf schaute nachdenklich auf seine riesigen Stiefel, die an ledernen Schäften aus den Hosen drängten. Also der Diesberg schied aus, da war nichts mehr zu machen. Jetzt schien dieser Herr von Otten sich für die Annelene zu interessieren – und der junge Protzen für die Annemarie. Mal mußten die ältesten Göhren ja doch aus dem Hause – natürlich, sie wollten in die Welt, sie hatten das ewige Kaltwasser und das unbeschuhte Dasein satt, der Lebensdrang wurde stürmischer, gesunder Instinkt kam zum Durchbruch ... Pakisch strich mit zwei Fingern über seinen Nasenrücken. Er sah das ein – man konnte die Mädel nicht anbinden, sonst machten sie Dummheiten. Aber der Geiz krammte sich in ihm fest. Es gab keine Mitgift, bloß Rente. Der alte Protzen zählte auf sein baldiges Abschnappen. Holla, da war er schief gewickelt! Pakisch rechnete noch auf ein Vierteljahrhundert Leben, und so lange wollte er Herr sein auf Freilehningen ...
»Antreten zur Quadrille!« schrie die schneidige Stimme des Herrn Wolfram von Gaedechens. Er war jetzt der Maître und stand gestriegelt und gebügelt, den rechten Arm erhoben und den Zeigefinger gekrümmt, in der Mitte des Saals. Die jungen Tänzer schwirrten umher und suchten sich ihre Damen. Es war wie ein großes Flügelschlagen.
»Na, Otten,« sagte Diesberg gelangweilt, »wie denkst du? Wollen wir dem Lämmerhüpfen bis zu Ende beiwohnen?«
»Das versteht sich«, versetzte Otten eifrig. »Ich habe die Annelene engagiert, nimm du dir die Annelotte, da quirlt sie herum; wir tanzen in einem Karree.«
Er war wie ein Fähnrich, der auf seinem ersten Ball die gesammelte Lebenslust ausströmen läßt. Er war auf einmal um zehn Jahre jünger geworden.
Gegen zwei Uhr mahnte der Wassergraf zum Aufbruch. Donnerwetter, nun hatte er genug! In dem verqualmten Rauchzimmer konnte er nicht sitzen. Bier trank er nicht, da hatte er sich in Ecken und Winkeln herumgedrückt und sich an der Wand die Beine in den Leib gestanden. Er suchte sich sein Dreiblatt zusammen. »Anziehen«, befahl er. Die Mädel maulten und wollten erst adieu sagen. Das dauerte geraume Zeit. Die Mieze hatte noch mancherlei mit Hanskarl von Protzen zu bereden, Lotti tuschelte mit Wolfram von Gaedechens. Verabredungen wurden getroffen, man sah sich in die Augen, die Blicke sangen Lieder.
»Wiedersehn, Komtessel«, sagte Otten und drückte die Hand Annelenes, als sei er der alte Blücher und sie ein Grenadier. »Also nun, also Gott Lob ist ja Bärwalde kein verschlossenes Gebiet mehr für Sie. Da müssen Sie uns mal besuchen, wir führen Sie durch das Gestüt und zeigen Ihnen unsre neuen Herrlichkeiten, Sie werden staunen.«
»Es gibt Kaffee und Kuchen und Schlagsahne,« fügte Diesberg hinzu, »und auch einen süßen Schnabus. Adieu, Annelene«
Er nickte flüchtig mit dem Kopf. Abspannung lag auf seinen Zügen und etwas Unausgeglichenes, ein nervöses Flackern im Auge, eine müde Linie um den Mund.
»Schlaf aus,« antwortete Annelene, »man merkt, daß du in Berlin warst ...«
*
Vor dem »Anker« hielt schon die Reihe der Wagen, der Damen wegen meist geschlossene Karossen, ein paar elegantere Landauer, unförmige Viktoriachaisen, vorsündflutliche Vehikel. Der Winterwagen aus Freilehningen wurde spöttisch die »Kartaune« genannt, es war ein Riesending mit einem zerknitterten Verdeck und gewaltigen Rädern und sicher schon fünfzig Jahre alt oder darüber. Es krachte, quietschte, sang, seufzte und schrie beim Fahren, doch es hielt immer noch aus. Nur die Polster litten an unheilbarer Verhärtung, und wenn es über die Zerwühlung gefrorener Straßen ging, hüpften die Insassen auf und nieder und stießen sich gegenseitig. Aber der Wassergraf sagte, das sei gut für die Verdauung, und damit basta.
Die Gäule wieherten, die Hufe scharrten das Pflaster. Gelblicher Laternenschein fiel durch das Nebelgrau nach rechts und links. Über der Ankertür brannte das Elektrische im Frohmut der neuen Zeit. Da sammelten sich nun vermummte Gestalten, die Damen waren dick verpackt, auch die Herren trugen noch ihre Pelze oder zottige Wettermäntel. Es stand zwar schon Frühlingsanfang im Kalender, und überall knospete es, aber der Wind fuhr scharf, und in den Waldschluchten wollte der Schnee nicht weichen.
Der Wassergraf, sehnig und abgehärtet, nur in seinem dünnen, schäbigen Havelock, kroch in die Kartaune, und Diesberg und Otten schoben seine drei Mädel hinterdrein. Sie kicherten und gackerten, und als plötzlich auch noch die beiden jungen Herren von Protzen und von Gaedechens mit abgezogenen Mützen am Wagen erschienen, hub ein rasches Geschnatter an, bis Pakisch borstig rief:
»Nu aber los, potzkotz! Erni, der Zademack soll machen, daß er fortkommt!«
»Zademack, fahren!« schrie Diesberg. Zademack spuckte erst linksseitig aus und schnalzte mit der Zunge, dann polterte, quietschte und orgelte die Kartaune langsam davon, die Mädel winkten noch einmal aus dem Fenster, und die jungen Herren schwenkten die Mützen.
Es ratterte nun schon nach allen Seiten über den Marktplatz. »Hast du deinen Wagen hierbehalten?« fragte Otten.
»Nee,« antwortete Diesberg, »ich habe Strygowski gleich nach Hause geschickt, ich wollte mit dir fahren.«
»Ist mir recht ...« Otten steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Jemand pfiff ebenso zurück. Dann dröhnte Hufschlag auf der Pflasterung, es sauste etwas durch den Morgennebel, man hörte Stampfen und Prusten.
»Tuleweit hält an der Straßenecke«, sagte Otten. »Ich habe die Rappen einspannen lassen, die sind noch unruhig zwischen fremdem Getier.«
Otten hatte einen offenen Jagdwagen, aber die Herren trugen dicke Reitermäntel über den Frackanzügen. Sie setzten sich in die Ecken und zogen das Schurzleder über die Beine.
»Vorwärts«, rief Otten. Die Rappen donnerten durch die Gasse.
»Hast du dich amüsiert?« fragte Otten.
»Gott bewahre«, antwortete Diesberg. »Es war zum Auswachsen.
»Alter Junge, du hast deine Laune verloren. Es ist Zeit, daß deine Regina kommt. Dir fehlt das Weibliche.«
»Bist du nicht auch zum Aszeten geworden? Dein rotblusiges Tippfräulein ist plötzlich verschwunden.«
»Intermezzo«, sagte Otten. »Ja, Erni, da wir gerade von deiner Frau sprechen. In vier, fünf Wochen wirst du sie holen können.«
»Es kommt auf die Witterung an. Ich will noch wärmere Tage abwarten.«
»Schön. Aber mal wird es so weit sein. Dann möcht' ich verduften.«
»Du hast mir neulich schon einmal so was angedeutet. Glaubst du, daß Regina dich stören wird?«
»Das nicht. Aber die Karre in Bärwalde ist ja nun im Gange, und ich möchte mich selbständig machen. Man wird älter und sehnt sich nach Eigenem.«
»Und nach Häuslichkeit und Frau und Kindern, du Cowboy.«
»Auf der Farm muß auch ein Weib am Herde stehn.«
»Willst du um die Annelene freien?«
»Sie wäre das, was ich mir wünschte. Ich bin das Massive, der Erdenkloß. Sie ist das Schwerelose. Ich bin dickblütig, in ihren Adern plätschert es. Wir sind eigentlich Gegensätze. Ich denke, da könnten wir uns gut ergänzen.«
Diesberg hatte die Zigarre im Munde und paffte stark in den Nebel hinein. »Und wie steht's mit dem Kontakt eurer Seelen?« fragte er.
Otten stutzte. »Was heißt das?«
»Nun, mein Gott, die Sache liegt doch vorläufig so, daß du einen niedlichen Flirt angesponnen hast. Das ist das erste Stadium. Das zweite beginnt mit Küssen und Knutschen. Sehr hübsch, aber genügt das für die Ehe?«
So recht verstand Otten immer noch nicht. Doch es dämmerte in ihm.
»Aha,« sagte er, »du spielst auf unsre Unterhaltung an – ich weiß schon, damals, als du mir von dem entscheidenden Besuch bei Regina erzähltest ... Ja, Erni, ich entsinne mich, wir sprachen da auch von einer elementaren physischen Kraft – und der möchtest du nun in spitzbübischer Ironie den Kontakt der Seelen entgegenstellen. Du, wenn man selber verliebt ist, zergliedert man seine Gefühle nicht nach philosophischen Systemen.«
»Sehr richtig.«
»Seelischer Kontakt, schön gesagt – ist er schon da? – Ich weiß nicht. Wie ist's mit Annelenes Seelchen? Ist es ein Rosenknöspchen oder eine Lotosblume? Soll ich mir Mühe geben, diese weißrosa Kinderseele nach Aristoteles oder Descartes oder Leibniz auszustudieren? Da halt ich's schon lieber mit Heine und renommiere: Hab selber Seele genug! Dennoch – ich will dir etwas sagen: ich warte auf den sogenannten Kontakt. Bist du zufrieden, Philosoph? Ich warte, bis ich im Auge der Kleinen sehen kann, was ich zu sehen mir wünsche. Einen Funken, ein Flämmchen, einen Strahl des Begehrens. Ich warte, bis ich fühle, daß auch in ihr so etwas von Liebe sich regt. So etwas, das würde mir schon genügen. Du hast recht: vorläufig flirtet sie mit mir. Erni, hörst du auf mich?«
»Ja doch, ich höre.«
»Und ich flirte auch, aber in tieferer Absicht. Ich kindsche mit ihr, ich bin manchmal ein alberner Tropf, ich habe seit zehn Jahren nicht getanzt und bewegte mich heute wie ein Planet um die Sonne. Erstes Stadium sagst du. Schön. Man muß einmal anfangen. Erni, ich glaube, du schnarchst.«
»Noch nicht«, antwortete Diesberg. »Aber es ist bald so weit. Ich höre aus deinen Deduktionen, daß auch der vernünftigste Mensch aus dem Gefüge gerät, wenn er unheilbar verliebt ist. Das ist keine Neuigkeit. Also laß mich ein bißchen schlafen.«
Otten entrüstete sich. »So bist du«, sagte er. »Erst fragst du mich nach dem Kontakt der Seelen und verlangst tiefgründige Aufklärung von mir, und dann willst du schlafen. Das kommt davon, wenn man im Union-Klub soupiert. Übrigens, Erni, untersteh dich und necke die Annelene mit mir! Das will ich nicht. Ich will sie mir alleine heranziehen, ganz sacht und zart und auf meine Weise, es soll mir keiner dazwischenkommen. Also ich bitte dich dringend: keine Uzerei, keine verschleierten Anspielungen oder so was – verdirb mir nicht die Geschichte. Ich habe Zeit, ich warte ... Ich glaube, weiß Gott, du schläfst schon, du Murmeltier. Schläfst du?«
Diesberg antwortete nicht, und Otten wühlte sich brummend tiefer in seine Wagenecke.
Aber Diesberg schlief nicht. Er war wach mit geschlossenen Augen und hatte das Gefühl, als zerrten heiße Hände an seinem Herzen. Es war nicht etwa Eifersucht auf den verliebten Freund, es war noch etwas Herberes, vielleicht ein Empfinden bitteren Neids auf den Glücklicheren, Denn er war glücklos und wußte nicht einmal, warum das so war.