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Sie trafen sich mit dem Wassergrafen im Gartensaal. Pakisch stutzte ein wenig, als er Diesberg sah, schien aber nicht ungehalten zu sein.
»I sieh, du bist hier«, sagte er und reichte ihm die Hand.
»Ja, Onkel Malte,« erwiderte Diesberg, »wir waren doch beide ein bißchen unruhig, Änneli und ich, und haben uns gegenseitig zu trösten versucht. Und bei dieser Gelegenheit haben wir uns verlobt. Eigentlich waren wir es ja schon, aber nun möchten wir dich auch um deine offizielle Anerkenntnis bitten.«
Annelene hielt es jetzt für richtig, ihren Vater zu umarmen, was bei ihrer Kleinheit und seiner Länge immer etwas schwierig war, wenn er sich nicht zu ihr herabbeugte. Und das tat er diesmal nicht. Er winkte mit beiden Händen ab und sagte in erzwungener Ruhe: »Kommt in mein Zimmer ...«
Da saßen sie nun, und Diesberg wagte auch nicht, die Fenster zu schließen, um den künftigen Schwiegervater in seiner Liebhaberei für den Pleinairismus nicht zu stören. Es war draußen windig geworden. Blätter von dem wilden Wein der Veranda und der großen Ulme unter den Fenstern flatterten in das Gemach und tanzten umher. Auf den Regalen rauschte es in den Aktenstücken. Der Graf hatte sich in den drehbaren Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch gesetzt, Annelene und Diesberg saßen wie Angeklagte vor ihm.
»Weißt du schon, wie die Versteigerung abgelaufen ist?« fragte Pakisch mit seiner kindlichen Quarrstimme.
»Ich habe vorhin mit Simmens telephoniert«, erwiderte Diesberg. »Geheimrat Lipsius hat Bärwalde gekauft.«
»So ist es. Ich ahne die Gründe nicht, die ihn dazu veranlaßt haben. Ich habe den Herrn auch nur einmal ziemlich flüchtig zu Lebzeiten deines Vaters kennengelernt. Du bist öfters mit ihm zusammen gewesen, nicht wahr? Was ist das für ein Mann?«
»Wenn ich ehrlich urteilen soll, muß ich sagen, daß er mir wenig gefällt. Er ist sehr schroff, aber er ist leidend und mag ein Hypochonder sein.«
»Und seine Tochter? Wie Simmens behauptet, hat er eine Tochter.«
»Jawohl, ein hübsches, etwas zurückhaltendes Mädchen. Ich war zwei-, dreimal mit ihr zusammen, im Hause ihres Vaters, bei einem Antrittsbesuch, zu einer Teestunde. Seit einem halben Jahr oder darüber habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Und du hast mit dem alten Herrn auch nie über deine pekuniären Verhältnisse gesprochen?«
»O doch. Eigentlich jedesmal, wenn ich mit ihm zusammen war. Und dann kam es gewöhnlich zu wenig erfreulichen Auseinandersetzungen.«
»Kann ich mir denken«, nölte der Graf und zog sein Taschentuch. Es war ein ungeheuer großes, rotseidenes Sacktuch. »Wahrscheinlich hast du ihn auch angepumpt. Bitte, du brauchst mir darüber keine Konfessionen zu machen. Was mich mehr interessiert, ist folgendes: Hast du einmal mit Lipsius über die Möglichkeit einer Versteigerung oder eines Verkaufs von Bärwalde gesprochen?«
»Andeutungsweise ja. Und ich hatte den Eindruck, als ob er so etwas erwartete.«
»Hm ... Die Tatsache liegt so, daß er nunmehr Besitzer von Bärwalde ist. Aber zwischen seinem Hause und deinem herrscht immerhin – immerhin eine alte Freundschaft. Mir schoß unwillkürlich durch den Kopf, daß es zwischen euch vielleicht zu einer Verabredung, einer Vereinbarung wegen des Ankaufs gekommen sein könne. Aber das ist nicht der Fall?«
»Nein, das ist nicht der Fall. Ich bin lange nicht bei dem Geheimrat gewesen.«
»Sehr dumm. Was will er mit Bärwalde?«
»Das frage ich mich auch.«
Pakisch nahm seine Nase zwischen zwei Finger. Das tat er gewöhnlich, wenn er nachdenklich wurde. »Ich bin kein Optimist,« fuhr er fort, »aber wie die Dinge liegen, dürfte es nicht völlig ausgeschlossen sein, daß er Bärwalde nur gekauft hat, weil ihm an der Erhaltung des alten Besitzes seines Jugendfreundes liegt.«
»Daran habe ich ebenfalls schon gedacht.«
»Er könnte dir beispielsweise unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen die weitere Verwaltung überlassen – was natürlich eine Torheit sein würde, wenn du ihm keine Garantien dafür gibst, daß eine grundlegende Änderung des bisherigen Systems eintritt. Das wäre deine Sache. Jedenfalls halte ich es für nötig, daß du dich schleunigst mit Lipsius in Verbindung setzest.«
Erni erhob sich. »Soll ich ihm telephonieren?« fragte er.
»Nein. So etwas macht man persönlich. Fahre zu ihm und sprich dich mit ihm aus.«
»Einverstanden. Es soll gleich morgen geschehen.«
Der Graf ließ seine Nase los und richtete den biegigen Oberkörper höher auf. »Und nun zu eurer sogenannten Verlobung«, sagte er. »Sie existiert für mich nicht. Bitte, nicht auffahren – bitte, keine Szene. Habe die Güte, dich in meine Lage zu versetzen. Als Vater habe ich die Pflicht, für meine Kinder zu sorgen. Du bist augenblicklich gar nichts. Dein Besitz ist durch deine Schuld, durch deine Schuld unter den Hammer gekommen. Dir droht sogar der völlige Bankerott. Wärst du der Vater Annelenes, was würdest du da tun? Als Ehrenmann.«
Annelene begann leise zu weinen. Diesberg stand kerzengrade vor dem Onkel. »Du hast das Recht, so zu fragen«, antwortete er. »Aber vielleicht weißt du auch, was ich vorhatte. Ich hatte die Absicht, gemeinsam mit Simmens –«
Pakisch unterbrach ihn. »Halte dich an das Tatsächliche«, rief er. »Simmens spricht nicht mehr mit.«
»Das Tatsächliche«, sagte Diesberg, »ist mir so überraschend gekommen, daß ich dir kaum Rede stehen kann. Meine Pläne mit Simmens wurden dadurch über den Haufen geworfen – vorläufig wenigstens. In andrer Form können sie immer noch aufgenommen werden, wir sind ja in gewisser Weise aufeinander angewiesen. Aber erst muß ich natürlich den Geheimrat Lipsius hören.«
»Du antwortest nicht auf meine Frage«, entgegnete Pakisch ungeduldig. Aber auch Diesberg verlor seine Ruhe.
»Was soll ich dir denn antworten, Onkel Malte«, rief er. »Was du hören möchtest, weiß ich: die Erklärung, daß ich verrückt sei, an eine Heirat mit Annelene zu denken. Schön, halte mich für so verrückt. Ich nehme auch Notiz davon, daß für dich unser Verlöbnis nicht existiert. Was nun weiter? Annelene deutete mir schon an, daß du meine Besuche nicht mehr wünschest. Soll ich mich als aus deinem Hause gewiesen betrachten?«
Annelene stellte sich tapfer neben ihn. »Ich bin deine Braut«, sagte sie. »Vater kann mir nicht verbieten, dich liebzuhaben.«
»Spiel' keine Komödie«, warf der alte Herr ärgerlich ein. Nun sprang auch er auf, der Wind fuhr durch sein ergrautes Haar, die Blätter von draußen fielen auf seine Flauschjoppe. »Herrgott, Kinder, so nehmt doch Vernunft an! Soll ich dich ins Unglück jagen sehen, Änneli? Ehe Ernst nicht in gesicherter Stellung ist, ehe seine verfahrenen Verhältnisse nicht in Ordnung gekommen sind, gebe ich dich ihm nicht. Das steht fest. Nenne dich seine Braut, für mich bist du es nicht ...« Er marschierte auf und ab, etwas schief, den linken Fuß vor den rechten schiebend, und fuchtelte mit den Armen ... »Ich habe dich immer gern gehabt, Ernst,« fuhr er fort, »trotz deines bodenlosen Leichtsinns. Es steckt auch ein guter Kern in dir. Du bist gar kein so schlechter Landwirt, das habe ich so aus diesem und jenem ersehen – du bist bloß verbummelt. Ich bin selber in meinen jungen Jahren ein eifriger Sportsmann gewesen und kenne die Gefahren der Rennplätze. Das verfluchte Spiel hat so manchen ruiniert.«
»Er spielt nicht mehr,« rief Annelene, »er rührt keine Karte mehr an! Das hat er mir versprochen.«
»Schön. Will's zu glauben versuchen. Aber wovon will er leben? Wie dich ernähren? Was ist er denn heute? Er hängt in der Luft, er schwebt zwischen Himmel und Erde. Ein letztes Wort, Ernst. Sprich mit Lipsius. Bei ihm ruht die Entscheidung. Einigst du dich mit ihm auf irgendeiner vernünftigen Basis, so lasse ich auch mein Geld auf Bärwalde stehen, obwohl ich seit zwei Jahren oder länger keine Zinsen gesehen habe. Von deiner Heirat kann, wenigstens vorläufig, keine Rede sein. Es eilt auch nicht. Eilt gar nicht. Ihr könnt beide noch warten. Nennt's eine Prüfungszeit, nennt's wie ihr wollt. Bist du erst auf dem Festen gelandet, Erni – und kein Mensch kann dir das herzlicher und ehrlicher wünschen als ich –, dann komme wieder her und halte von neuem um Annelene an. Abgemacht.«
»Abgemacht«, wiederholte Diesberg. Er warf einen Blick auf die kleine Uhr an seinem linken Arm. »Ich kann noch den Zweiuhrzug nach Berlin erreichen. Meine rote Rosa hat ein gutes Tempo. Dann bin ich um vier drüben, könnte gegen fünf bei Lipsius sein, da hat er noch Sprechstunde. Mit dem Neunuhrzug fahre ich zurück und werde dir, wenn du es erlaubst, telephonisch Bericht erstatten.«
»Soll mir recht sein«, antwortete Pakisch mürrisch. Diesberg zog hastig die Hände Annelenes an die Lippen und stürmte davon.
»So ist er,« sagte der Wassergraf, »eine kleine Hoffnung am Horizont, da vergißt er das Donnerwetter, das über seinem Kopfe hängt. Nun möchte ich noch ein Wörtchen mit dir reden, Annelene. Ich will diese alberne Verlobung als einen unüberlegten Streich auffassen. Vermutlich habt ihr mir damit imponieren wollen. Es ist aber nur überaus kindisch. Ich wäre ein schlechter Vater, wollte ich dich einem Menschen anvertrauen, der es mit dreißig Jahren noch nicht einmal fertiggebracht hat, sich einen Erwerb zu schaffen. Ich verkenne die mannigfachen guten Seiten Ernis keinen Augenblick. Er hat Herz, Gemüt und Verstand. Selbst in seinem Leichtsinn liegt eine gewisse Philosophie. Ihm gilt das Leben als Beute. Er rafft es mit vollen Händen auf und verschleudert es wieder. Das Heute ist ihm alles, an morgen und übermorgen denkt er nicht. Das hat etwas Bestechendes, es ist nur glücklichen Naturen beschieden, den Augenblick mit voller Intensität zu genießen. Solange er allein steht, mag er das halten, wie er will. An dem Tage aber, da er eine Familie gründen will, wird es zum Wahnsinn. Er hat gute Vorsätze, doch Versprechungen sind keine Taten. Deshalb erkläre ich dir: wie es auch kommen möge, ihr werdet noch zwei Jahre warten. Das ist das wenigste, was ich verlange, und ich bitte dich, richte dich danach.«
Er umschlang Annelene, zog die Kleine zu sich empor und küßte sie. Und sein hartes Vaterherz schmerzte, da ihre heißen Tränen auch seine Wangen netzten. –
*
Inzwischen trabte die schöne Rosa in weitausholendem Beinwurf nach der Station. Erni traf eine Minute vor Abgang des Zuges ein und stürzte in ein Coupé. Der Vorsteher brachte ihm das Billett, bezahlt konnte nach Rückkunft werden, hier kannte man ihn. Die Lokomotive pfiff, es ging weiter. Diesberg lehnte sich in die Polster und steckte sich eine frische Zigarre an. Es war ganz richtig, was Pakisch zu seiner Tochter gesagt hatte: eine kleine Hoffnung am Horizont war für ihn Morgenröte. Er lächelte über sich selbst. Eine geschichtliche Erinnerung fiel ihm ein. Als Alexander von Mazedonien nach Persien aufbrach, verschenkte er sein Eigentum an seine Feldherren, und als der nüchterne Parmenius ihn fragte, was ihm denn nun verbliebe, antwortete er: das Beste – die Hoffnung ...
Die Hoffnung zog wieder mit munterem Flügelschlage durch Ernis Seele. An einem war nicht zu zweifeln: der alte Geheimrat Lipsius nahm ein gewisses Interesse an ihm. Ein borstiger Mensch, der nichts Buntes und Glänzendes kannte. Ein kranker Mann, der das graue Elend seiner Tage auf die ganze Welt übertragen wollte. Ein Millionär, der von Milch und Hühnerbrühe lebte. Ein Ehrenmann der alten Schule, der keine Torheit verzieh. Erni rechnete nicht nach, was er ihm schuldete. Lipsius hatte ihn nie gemahnt, aber bei jedem neuen Besuch ihm eine neue Strafpredigt gehalten. Und dabei wählte er die Worte sorgsam, er wurde nicht grob, er war nur bitter, und diese höhnende, sarkastische Bitterkeit traf tiefer und aufwühlender als eine ehrliche Grobheit. Und da war Diesberg eines Tages empfindlich geworden und hatte auch seine Besuche bei Fräulein Regina nicht wiederholt.
Gewiß war das eine Dummheit gewesen, zumal gerade Regina ihn mit freundlichen Augen zu betrachten schien. Sie lebte sicher ziemlich vereinsamt in dem alten Patrizierhause ihres mürrischen Vaters und atmete jede Frische, die von der Welt draußen kam, mit Wohlbehagen ein. Erni war dann und wann zu einer Plauderstunde bei ihr gewesen: in einem großen Gemach voller altmodischer Möbel, an einem Teetisch mit schönem Porzellan und schwerem Silber, in einem Zuständlichen, in dem nur noch ein leichter Lavendelduft fehlte, um die Erinnerungen an jene Zeit zu vervollständigen, da die kurzen Taillen der Damen unmittelbar unter der Brust schlossen und die Herren den Frack sogar auf der Straße trugen. Die schöne Regina war freilich ganz Gegenwart, im Geschmack ihrer Toilette wie in ihrer geistigen Bewegung, in gelegentlichen Bemerkungen sogar von einer Vorgeschrittenheit, die förmlich lustig aus dem Rahmen der Umgebung sprang, und im nächsten Augenblick wieder von kühler Zurückhaltung. Sie ist kokett, sagte sich Diesberg und korrigierte bald darauf seine Meinung. Nein, sie war nicht kokett, das konnte man unmöglich behaupten, dazu fehlte ihr das anreizende Spiel der Augen und das Geklügelte der Geste, die gefällige Dialektik, das anscheinend unbeabsichtigte und doch klug berechnete Eingehen auf das Wunschgebiet der Männer. Sie war eher geradezu, doch auch das gewissermaßen nur aus Laune, aus einem raschen Einfall heraus, um sich im nächsten Augenblick wieder in eine verhaltene Stimmung zurückzuziehen, als suche sie Schutz vor sich selbst. Sie war ein eigentümliches Mädchen, vielleicht interessant, auch nicht ohne sinnliche Reize, aber ... Das Aber lag in der Geschmacksrichtung Diesbergs. Sie hatte ihm zuviel Ruhe, und, es war merkwürdig, sie war ihm auch zu schön. Alles an ihr war formalste Ausgeglichenheit, es war jenes »Klassische«, für das er nichts übrig hatte. Als Frau mußte sie langweilig sein. Er liebte quirliges Wesen und mehr die Unart der Natur als ihre Harmonie. Er liebte Annelene und zog vor Regina respektvoll den Hut. Übrigens sagte er sich, daß der alte Lipsius ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen haben würde, wenn er um seine Tochter hätte anhalten wollen.
Immerhin, Fräulein Regina gehörte ganz sicher nicht zu seinen Feinden. Er hatte sympathische Gegenwellen zu spüren vermeint. Es lag etwas in ihrem Lachen, wenn er einen raschen Scherz hingeworfen hatte, es lag etwas in ihrem Blick, wenn er ernster sprach, in ihren Antworten, in ihrem Sichgeben ihm gegenüber lag etwas, was den Eindruck eines gewissen Freundschaftsgefühls in ihm erweckte, beinahe einer wohlmeinend verstehenden Kameradschaft. Und da war es in der Tat schon möglich, daß sie sich in der Frage der Versteigerung von Bärwalde seiner angenommen haben konnte. Lipsius selbst war viel zu leidend, um sich mit der Bewirtschaftung des Gutes zu befassen. Spekulative Momente waren erst recht ausgeschlossen. Für Regina konnte er den Besitz nicht gekauft haben, die war ein Großstadtkind und vergrub sich nicht auf dem Lande. Und so wiederholte sich denn Diesberg zum fünfzigsten Male: was will Lipsius mit Bärwalde? –
Werden's ja hören, sagte er sich, als er am Alexanderplatz aus dem Coupé sprang. Er suchte den Waschraum auf, um sich flüchtig zu säubern, und ging dann zu Fuß nach dem Lipsiusschen Hause.
Es war nicht weit. Der Geheimrat wohnte mitten im lebhaftesten Geschäftsviertel, in einem noch aus der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts stammenden Hause, das schon seinem Großvater gehört hatte. Damals war die Speditionsfirma A. W. Lipsius gegründet worden, und hier in der engen Straße, dem alten Zentrum Berlins, hatten in langer Reihe die Frachtwagen mit ihren Viergespannen gehalten, und die Markthelfer hatten Kisten, Tonnen und Ballen herbeigeschleppt, die dann verladen wurden, um hinaus in die Provinz zu gehen und oft auch über die Grenzen des Landes. Als in späteren Jahren das Geschäft sich vergrößerte, mußte es verlegt werden; das alte Haus aber trotzte jeder Spekulation und dem Fieber der Bauwut, das blieb im Besitz der Familie, und man war stolz darauf, es äußerlich so erhalten zu können, wie es gewesen war, als der erste A. W. Lipsius von hier aus die ersten Gütersendungen durch seine Frachtführer nach allen Richtungen der Windrose schickte. Unter dem Vater des Geheimrats war dann das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft verwandelt worden, der Sohn hatte sich für den juristischen Beruf entschieden, es war niemand da, der es hätte weiterführen können, es hatte zudem so an Umfang gewonnen, daß die Übernahme durch ein Konsortium sich als zweckmäßiger erwies.
Der Geheimrat war als Anwalt eine Spezialität in fremden Rechten gewesen, hatte auch das deutsche Gesetzbuch in zahlreiche fremde Sprachen übersetzt oder durch seine Vermittlung übersetzen lassen und war dafür mit einer langen Reihe von Orden geschmückt worden, mit Sternen, Drachen, Elefanten, Adlern, Kronen, Blumen, Monden und Sonnen als Sinnbildern und den schönsten, kühnsten und lächerlichsten Devisen. Als ihm eines Tages auch noch durch den russischen Botschafter der Stern von Bochara überreicht wurde, hatte Regina sich den Spaß gemacht, durch ihren Juwelier die sämtlichen glitzernden Herrlichkeiten verkleinern und an eine Goldkette hängen zu lassen. Bei Gelegenheit irgendeiner großen wissenschaftlichen Festlichkeit sollte der Vater diese Kette tragen, aber als er sie angelegt hatte und sich im Spiegel betrachtete, weigerte er sich mit Entschiedenheit dieser Schaustellung der Eitelkeit, und da er ein praktischer Mann war, so gab er dem Juwelier das Ordensgeschmeide zum halben Anfertigungspreise zurück, und dieser hängte es nunmehr im Fenster seines Geschäfts zu allgemeiner Bewunderung auf.
Seit Lipsius sich mit dem Rechtsanwalt Detmold assoziiert hatte, beschränkte er die eigene juristische Tätigkeit nur noch auf besonders interessante Fälle. Sein altes Herzleiden hatte sich so verschlimmert, daß er sich große Schonung auferlegen mußte. Um sich in der Stille zu zerstreuen, beschäftigte er sich viel mit seinen graphischen Sammlungen, die er mit ideellem Sportssinn und seiner Kenntnis der Meister des Kupferstichs pflegte. Das war auch das einzige Gebiet, auf das Regina ihm folgte. Sie lernte durch ihn das Verständnis für die Schaffensart der alten Künstler und die Druckschönheit der Blätter, für die Kennzeichen der einzelnen Zustände und dadurch die Entstehungsweise des Werks, wenn auch alles das nur aus einem Unterhaltungsbedürfnis heraus und nicht mit der gründlichen Wissenschaftlichkeit des Vaters. –
Diesberg war dem Lipsiusschen Hause gegenüber einen Augenblick stehengeblieben. Dies alte Haus barg sein Schicksal. Die ersten Dämmerschatten rannen durch die schmale Straße, in den Schauläden flammten schon die elektrischen Lichter auf, über das Trottoir ergoß sich ein Strom geschäftiger Menschen, auf dem Fahrdamm schob sich langsam eine Kette von Wagen rechts und links einer statuenhaften Schutzmannsgestalt. Diesberg schlüpfte behende zwischen einem Omnibus und einer Autodroschke hindurch und mußte neben dem Schutzmann abermals stehenbleiben. Er sah nun, wie sich auch im Lipsiusschen Hause, das mit seinem sichtbaren Balkengefüge und dem leicht überbauten ersten Stockwerk sich merkwürdig unmodern von den benachbarten Geschäftspalästen abhob, ein paar Fenster erhellten, und wie hierauf die Gardinen vorgeschoben wurden. Nun sprang er rasch an den schnaufenden Gäulen eines Bierwagens vorüber auf die andere Seite der Straße und zog die Klingel neben der schwereichenen, mit schmiedeeisernem Bandwerk beschlagenen Haustür.
Eine alte Frau öffnete, Biene, die Wirtschafterin, und erkannte den Ankömmling. Sie lächelte freundlich mit ihrem leicht nach links verschobenen Munde.
»'n Abend, Frau Biene,« sagte Erni, »der Herr Geheimrat zu sprechen?«
»Er ist daheim, Herr Baron,« antwortete die Alte kopfnickend, »und wird wohl auch zu sprechen sein.«
»Sagen Sie ihm, daß ich ihn nur auf einige Minuten in Anspruch nehmen würde. Aber in wichtiger Angelegenheit.«
Frau Biene nickte wieder und ließ ihn voran. Aus der schmal geformten Eingangshalle stieg er eine teppichbelegte Treppe mit geschnitztem Holzgeländer hinauf und wurde in ein Vorzimmer gelassen, das er kannte. Es hieß im Hause das »Zimmer des alten Herrn« und war einmal das Privatkontor des Geschäftsbegründers gewesen. Nur die Ölampel über dem Stehpult war durch eine elektrische Birne ersetzt worden, sonst hatte man das Gemach in seiner ganzen Einrichtung durchaus so belassen, wie es vor hundert Jahren gewesen war.
Diesberg war wieder unruhig geworden. Er schritt auf und ab, betrachtete das Bildnis des »alten Herrn« und einige Berliner Ansichten, die an der Wand hingen, und blieb dann vor einer Karte Preußens stehen, auf der die damaligen Postwege mit roter Tusche nachgemalt waren. Und er zuckte nervös zusammen, als er hinter sich einen leisen Schritt hörte – diesmal war es David, der fast siebzigjährige Diener, der ihm meldete, daß der Herr Geheimrat bitten lasse. Diesberg rückte an Rock und Weste und folgte ihm.
Lipsius saß an dem langen Tische, auf dessen spiegelblanker Mahagoniplatte er seine Kunstblätter auszubreiten, zu betrachten und zu ordnen pflegte. Das ganze Zimmer war dieser Sammelpassion gewidmet, alle Wände deckten Schränke, in deren ausziehbaren Fächern die Holzschnitte, Radierungen und Steindrucke zwischen Seidenpapier lagen, und oberhalb der Schränke glänzten die vergoldeten Lederrücken einer sorgsam ausgewählten Handbibliothek.
Lipsius hatte sich erhoben, als Diesberg eintrat, legte nun seine Brille ab und schob dafür ein großes Monokel in die tiefliegende Höhlung des rechten Auges. Dies Einglas, an das er sich gewöhnt hatte, gab seinem ungewöhnlich kleinen, länglichen, nach dem Kinn sich zuspitzenden Gesicht einen Zug der Groteske. Es war ein Gesicht von Bedeutung, in der Jugend wohl auch einmal anziehend gewesen, jetzt in allen seinen Linien und Falten und in dem launenhaften Krakeele an den Schläfen und unter den Augen wie erstarrt. Es war gleichsam zu einer Larve geworden, immer noch ungemein charakteristisch in seinen feinen, roten, grauen, bläulichen, selbst grünlichen Tonübergängen, aber hart, stolz und abweisend wie das eines Menschen, der liebeleer und einsam das Leben durchwandert hat. Als er nun Diesberg gegenüberstand, sah man, daß er fast ebenso groß war, und diese Größe paßte wiederum nicht zu dem auffallend kleinen Kopfe, der, aus einem hohen Halskragen fremdartig hervorwachsend, auf scharfgeeckten Schultern saß.
Diesberg war kaum in das Zimmer getreten, als Lipsius sofort unter einer leichten Verneigung das Wort nahm.
»Guten Abend, Herr von Diesberg,« begann er, »ich kann mir denken, daß Sie wegen der Einlösung Ihrer Wechsel kommen, nicht wahr?«
Ernis Fuß stockte unwillkürlich. Er blieb in der Nähe der Tür stehen. Sein Gesicht beschattete sich, er spürte so etwas wie einen Griff nach dem Herzen und wie ein prickelndes Rieselgefühl über dem Rücken.
»Pardon,« entgegnete er fassungslos, »ich verstehe nicht – wegen welcher Wechsel?«
»Der beiden, die Sie den Herren Reinecke und Schiemann ausgestellt haben – ah, sind Sie denn nicht benachrichtigt worden, daß man mir die Akzepte zum Kauf angeboten hat?«
»Ich bin ahnungslos«, stammelte Erni. Ein niederschmetterndes Empfinden bedrückte ihn plötzlich. Den Reizton des Mannes kannte er ja und war dagegen gewappnet. Aber das Unerwartete der Begrüßung verwirrte ihn.
Der Geheimrat wies auf einen Sessel. »Bitte,« sagte er, »die Aufklärung ist schnell gegeben ...« Er ging an seinen Schreibtisch und entnahm ihm eine Ledermappe ... »Ich weiß nicht, was die beiden Leute veranlaßt hat, sich Ihrer Wechsel halber an mich zu wenden. Es ist auch gleichgültig. Jedenfalls habe ich sie übernommen ...« Seine wunderschön geformte und gepflegte Hand fuhr in die Mappe und zog ein paar Papiere hervor ... »Da sind sie. Zusammen achtzehntausend Mark. Außerdem habe ich – hier – noch ein paar ältere Schuldscheine von Ihnen ... lassen Sie mich einen Augenblick rechnen ... es würde alles in allem eine Summe von fünfunddreißigtausend Mark ergeben.«
Nun setzte auch er sich und schaute Diesberg an. Dieser eisige, unbarmherzige Blick aus den jettdunkeln harten Augen traf ihn wie eine Abrechnung auf Tod und Leben. Unwillkürlich senkte er ein wenig den Kopf.
»Ich werde schon in den nächsten Tagen die Angelegenheit ordnen können«, erwiderte er.
Lipsius nickte. »Lassen Sie sich Zeit, bis Ihnen der Überschuß für den Verkauf von Bärwalde ausbezahlt worden ist. Wir rechnen dann miteinander ab. Rechtsanwalt Detmold hat mir das Ergebnis der Versteigerung telephoniert. Ich freue mich, daß er Herrn Simmens überboten hat. Auf diese Weise bleibt Ihnen immer noch ein kleines Kapital zum Arrangement Ihrer persönlichen Schulden.«
Das klang ein wenig warmherziger. Diesberg hoffte wieder.
»Darf ich annehmen,« fragte er, »daß die Überbietung in meinem Interesse geschah, Herr Geheimrat?«
Lipsius schwieg einen Augenblick, die Härte seiner Züge löste sich, um den schmalen, scharfen Mund trat etwas wie ein versöhnliches Lächeln. Aber es ging sofort vorüber. Fast hastig schüttelte er den Kopf.
»Doch nicht,« erwiderte er, »wenigstens nicht so, wie Sie das auffassen dürften. Ich möchte Sie nicht täuschen. Ich wollte grade Herrn Simmens Bärwalde nicht lassen. Das war das Maßgebende.«
Diesberg rückte sich tiefer in seinen Sessel. Seine Stimme klang klarer und ruhiger, als er weiter fragte: »Sie beabsichtigen, Bärwalde in eigene Wirtschaft zu nehmen, Herr Geheimrat?«
»Nein. Das kann ich nicht. Aber ich habe eine außerordentlich tüchtige Kraft für die Verwaltung gewinnen können.«
»Schon vor dem Termin,« sagte Diesberg bitter, »so sicher waren Sie also Ihres Kaufs!«
»Ganz sicher. Ich hätte jeden Betrag bezahlt. Ich wollte den Besitz meines lieben seligen Freundes nicht in die Hände eines Spekulanten fallen lassen.«
»Aber den Sohn Ihres Freundes vertreiben Sie damit von der ererbten Scholle!«
»Das war nie meine Absicht. Das Wohnrecht im Schlosse verbleibt Ihnen. Ich bin bereit, dies Anrecht grundbuchamtlich eintragen zu lassen. Der Verwalter findet im Inspektorhause genügend Raum. Er ist unverheiratet. Ich könnte nötigenfalls anbauen lassen.«
Das wurde ganz sachlich gesprochen. Auch Diesberg bemühte sich nun, seiner Erbitterung Herr zu werden. Es wurde ihm nicht leicht.
»Herr Geheimrat,« erwiderte er, »ich erkenne dankend Ihr Entgegenkommen an. Aber ich muß es ebenso dankend ablehnen. Es widerstrebt mir, in Bärwalde gewissermaßen nur noch geduldet zu werden.«
Lipsius zuckte die Achseln. »Das ist eine Auslegung, die mir fernliegt«, sagte er.
»Es ist klar,« fuhr Diesberg fort, »daß es ein beschämendes, jedenfalls ein niederdrückendes Gefühl für mich sein muß, in Bärwalde zu bleiben und zuzusehen, wie die Bewirtschaftung durch eine fremde Hand und vielleicht ganz gegen meine Intentionen geleitet wird. Aber erlauben Sie mir einen Vorschlag: verpachten Sie mir das Gut.«
Er brach kurz ab und hob den Kopf. Die Augen beider trafen sich. Im Blick des Geheimrats lag keine Feindseligkeit, nur eine feste Entschlossenheit.
»Mir fehlt jede Gewähr,« erwiderte er, »daß ich in diesem Falle einigermaßen auf meine Kosten kommen würde.«
Eine Blutwelle stieg in das Gesicht Diesbergs. Doch wieder bezwang er sich. »Ich hatte gehofft,« sagte er, »Simmens' Angebot würde auf der Auktion den Ausschlag geben. Ich hatte auch mit ihm bereits Vereinbarungen getroffen, auf deren Grundlage ich zuversichtlich erwarten konnte, Bärwalde wieder in die Höhe zu bringen. Lassen Sie mich bitte in andrer Weise darauf zurückgreifen. Würden Sie geneigt sein, Bärwalde an Herrn Simmens zu verpachten? Sie kennen seine äußeren Verhältnisse und haben bei ihm die absolute Sicherheit pünktlicher Pachtzahlung.«
»Das genügt mir nicht, Herr von Diesberg. Sie sprachen vorhin von Ihren Intentionen in der Bewirtschaftung, die wohl auch die des Herrn Simmens sind. Aber es sind nicht die meinen. Bei allem Respekt vor Ihren sportlichen Fähigkeiten glaube ich nicht, daß Sie im Gestütswesen eine glückliche Hand haben.«
»Ich gebe zu, daß mir Fehlschläge nicht erspart wurden. Aber man lernt. Sie werden sich künftighin vermeiden lassen. Und die Chancen steigen wesentlich, wenn man die Pferde des eigenen Stalles auf die Rennbahn bringen kann. Auf dem grünen Plan hatte ich mehr Glück als in der Zucht.«
»Das mag wahr sein. Und daher klingt es vielleicht paradox, wenn ich hinzufüge, daß der grüne Plan auch Ihr Unglück wurde. Ich habe Ihr Leben seit dem Tode Ihres Vaters so ziemlich in allen seinen Phasen verfolgen können. Nicht Ihre sportlichen Neigungen haben Sie ruiniert, sondern das Drum und Dran des Rennplatzes. Anfänglich hatten Sie ein ausgesprochenes Interesse für Ihre Wirtschaft, aber das versickerte allgemach, je mehr Sie der Rennplatz mit seinen Nebenerscheinungen in Anspruch nahm, und es erlahmte vollends, als Sie das Gestüt anlegten. Nun kann sich ja auch ein Gestüt kapitalkräftig entwickeln – nur gehört dazu neben der fachmännischen Befähigung eine gewisse kaufmännische Routine, die Ihnen durchaus abgeht. Sie fingen in viel zu großem Stil an – das war der erste Fehler. Aber er ist bezeichnend für Ihre ganze Lebensauffassung. Wenn Geiz und Verschwendung gleich verurteilenswert sind, so ist die Verschwendung sicher das liebenswürdigere Laster. Doch sie bleibt ein Laster und pflegt sich gewöhnlich noch bitterer zu rächen als ihr Gegenteil.«
»Ich glaube, Sie urteilen zu hart, Herr Geheimrat«, sagte Diesberg. »Ist der immer schon ein Verschwender, der mehr ausgibt, als er besitzt?«
»Ganz gewiß, und meines Erachtens noch in erhöhterem Maße als jene großzügigen Verschwender, die über den Privatgenuß hinaus zum gemeinen Besten depensieren. Es gibt in der Tat auch eine gewisse noble Verschwendung – die aber besitzt der Schuldenmacher nicht. Man spricht von Ehrenschulden – ich bin der Ansicht, daß in jeder Schuld eine Ehrenverpflichtung liegt, nämlich die der zugesagten Abtragung. Bin demgemäß auch der Ansicht, daß der an seiner Ehre Schiffbruch leidet, der dieser Pflicht nicht genügt.«
Diesberg zuckte leicht zusammen. » Merci«, erwiderte er in einem Tone, dessen ironischer Beiklang seinen Ärger verbarg. »Der Pfeil saß, Herr Geheimrat.«
Lipsius rückte an seinem Einglas. »Ich bin ein Philister in Ihren Augen,« sagte er, »ein Prediger des Nützlichkeitsprinzips, ein Feind alles Lebensschönen, ein Mann striktester Ordnung, der lieber auf den Schlag der Uhr hört als auf die Stimme des guten Geschmacks. In Wahrheit bin ich das alles nicht. Ich bin nur ein ehrlicher Mensch. Ich kann eine Lebensanschauung aus der Kavalierperspektive begreiflich finden – wie jede andere. Aber dahinterstehen muß immer eine volle Persönlichkeit, ein Mann von Wert, nicht nur ein mit dem Dasein spielender Müßiggänger. Herr von Diesberg, wir verlieren uns in Dissertationen. Ich weiß noch immer nicht, was Sie zu mir führt.«
Er tupfte die Spitzen seiner Finger gegeneinander und schaute Diesberg wieder fragend an. Erni überlegte einen Augenblick, ob es nicht das richtigste sein würde, sich höflich zu empfehlen. Vorwürfe und gute Ratschläge hatte er nun genug gehört. Aber das letzte entscheidende Wort war immer noch nicht gesprochen worden.
»Sie hatten die Güte, mir das Wohnungsrecht im Bärwalder Schlosse anzubieten«, begann er von neuem. »Ich lehnte zunächst ab. Sie sprachen von mir auch als einem, habe ich Sie recht verstanden, mit dem Leben spielenden Müßiggänger – so oder so ähnlich. Nun gut. Wenn ich das Wohnrecht akzeptiere, will ich es nicht umsonst haben – und nicht als Müßiggänger. Der Verwalter, den Sie bereits engagiert haben, wird leicht eine andere Stelle finden. Verpachten wollen Sie mir Bärwalde nicht – setzen Sie mich als Oberinspektor ein! Es könnte mich freuen, Ihnen zu beweisen, daß ich doch nicht Idiot genug bin, um in der Kunst des Lebens nur dem Müßiggange zu huldigen.«
Als Diesberg so gesprochen hatte, erhob sich Geheimrat Lipsius und wandte sich ab. Erni glaubte, den alten Herrn packe wieder einer seiner Herzanfälle. Aber es schien nicht so. Er zog nur sein Taschentuch, wedelte damit durch die Luft, schnäuzte sich und wandte sich unter rascher Vorschiebung der linken Schulter zurück. Doch blieb er stehen, und da die Ampel über dem Mitteltisch grün beschirmt war und ziemlich niedrig hing, so spann sich über die hartfelsigen Züge seines rassigen Gesichts ein grünlicher Dämmer. Er antwortete, wie immer gleichsam aus dem Hochmut der nach oben gewölbten Mundwinkel:
»Das ist ein erfreuliches Zugeständnis, Baron Diesberg. Aber Sie werden begreifen, daß die Versprechung für mich auch eine feste Grundlage haben muß. Mir fehlt nicht der Glauben, doch die Sicherheit. Die künftige Bewirtschaftung Bärwaldes soll jedes Experiment ausschließen. Herr von Otten, der neue Verwalter, bietet mir dafür volle Gewähr. Er würde auch für Sie ein ausgezeichneter Lehrmeister sein. Wir wollen einen Vertrag schließen. Ich engagiere Sie – engagiere Sie sozusagen als Mitinspektor. Gegen ein Gehalt, mit dem Sie zufrieden sein werden. Sie bleiben im Schlosse, Otten kommt in das Amtshaus. Damit wird der Welt gegenüber die Fiktion aufrechterhalten, als seien Sie nach wie vor der regierende Herr – falls Ihnen am Urteil der Welt überhaupt etwas liegen sollte, was ich nicht weiß. Aber tatsächlich wünsche ich, daß Herr von Otten die Leitung aller Geschäfte übernimmt.«
»Somit würde ich der Untergebene des Verwalters sein«, sagte Diesberg in trocken aus der Kehle kommendem Tone. »Ein Beamter des Oberinspektors.«
»Ich würde das nicht so auffassen. Betrachten Sie sich als Volontär.«
»Oder als Lehrling.«
»Gut, als Lehrling ...« Unter dem Einglas blitzte das dunkle Auge, nicht böse, doch in knochigem Widerstand ... »Warum nicht als Lehrling? Haben Sie nicht noch viel zu lernen im Leben, wenn Sie wieder mit beiden Füßen auf Grund und Boden kommen wollen?«
Ein Wirbelschauer der Erregung durchsprühte Diesberg. Es war immer nur der Ton, der ihn so unsäglich reizte und abgrauende Schatten in die Farbe seiner Wangen mischte. Er hatte ruhig mit diesem ewig nervgespannten, kantigen, krankhaft aszetischen Manne verhandeln wollen. Er hatte an Annelene gedacht und sich ihr flügges Lenzgesicht in die Erinnerung gerufen, hatte sich bescheiden wollen – vielleicht war doch noch auf irgendeine Weise in irgendeiner Form eine Verständigung möglich. Aber nein, sie scheiterte an der Panzerung des anderen, an seinem verbissenen Eifertum, an der Überalterung seiner Instinkte. Das war es. Der Lipsius seiner Jugend hatte mit ausbalancierten Instinkten der Anpassung den aristokratischen schöngeistigen Vater geliebt. Nun waren die Jahre und die Krankheit über ihn gekommen, eine Verkalkung aller Gefühle, und was ihn einst dem Vater näher gebracht hatte, die Inbrunst des Lebensdrangs und das geschmeidige Moralempfinden, die glücklich-heitere Dekadenz, der Sinn für Farbenspiele und die wechselnden Prismen eines Daseins jenseits braver Bürgerlichkeit, das alles haßte er in der Abgetriebenheit seines Empfindens an dem Sohn.
Diesberg stand langsam auf, neben den Stuhl tretend, mit den Fingern der Linken sich in das Polster der Lehne krampfend. »Herr Geheimrat,« antwortete er, fast heiser im Aufsteigen seines Grolls, »Sie fragten mich vorhin, was mich zu Ihnen geführt hat. Eine Dummheit, nichts weiter, eine Illusion, eine alberne Hoffnung. Sie haben mich rasch kuriert. Sie hatten einen einzigen Grund, mir Vorwürfe zu machen: die Nichtbezahlung meiner Schuld. Doch Sie nützen dies Übergewicht aus zu einer Kraftprobe auf die Anständigkeit meiner Gesinnung, und das – das muß ich zurückweisen. Es steht Ihnen frei, an der Ehrlichkeit meiner Versprechungen zu zweifeln, aber den kalten Hohn und die – ja wahrhaftig, die grausame Mordlust, mit der Sie den Sohn Ihres Freundes behandeln, die verbitte ich mir!«
Er neigte den Kopf zu einer Grußbewegung und ging. Lipsius schaute ihm fast erschrocken nach. Seine Hand griff nach der Herzseite und zerknüllte den Rock. Ein kurzes Stöhnen kam, dann rief er:
»Baron Diesberg!«
Erni hatte die Türklinke in der Hand. Er kehrte den Kopf über die rechte Schulter und sah, daß im fahl gewordenen Gesicht des Geheimrats die Muskeln unter dem Druck eines inneren Schmerzes zuckten. Es war wie ein dramatisches Mienenspiel, aber auch nur wie ein verzerrtes Augenblicksbild, dann strammte sich wieder der Mund, Glättung kam in die Züge und etwas wie verdoppelte Ruhe nach dem Sturm eines Moments. Die Hand hob sich zu einer bittenden Geste.
»Baron Diesberg, was Sie Hohn und Mordlust nennen, ist eine mißverständliche Auffassung Ihrerseits. Ich bin allerdings keine konziliante Natur, war es nie und bin durch mein Leiden vielleicht noch schroffer geworden ...« Das klang fast entgegenkommend, doch sofort spitzte die Tonfärbung seiner Sprache sich wieder zu, als er fortfuhr: »Im übrigen, Herr von Diesberg, was wollen Sie? Ich glaube, Sie verkennen die Sachlage. Sie kommen als Bittsteller zu mir. Sie wollen Bärwalde in Pacht nehmen, nachdem Sie den Besitz in Subhasta getrieben haben. Das ist ein merkwürdiges Verlangen. Lächelte ich darüber? Es ist möglich. Aber ich machte Ihnen auch einen Gegenvorschlag.«
»Sie boten mir eine Lehrlingszeit an.«
»Jawohl, und nicht ohne Absicht. Sie sollten die Arbeit lernen. Etwas Ihnen ganz Fremdes, denn was Sie bisher so nannten, war nur Liebhaberei. Ich will nicht sagen Zeitvergeudung – aber sie kam dazu. Das ganze Leben wurde Ihnen zu einem Sportfeld. Von Müßiggang sprach ich, hatte ich unrecht? Hinter dem Rennplatz stand der Spieltisch, standen die Sektflaschen, lauerten die Weiber. Leichtsinn vernichtete den gezählten Erfolg, das achteten Sie gar nicht in Ihrer Ichberauschtheit ...«
Er holte Atem, er wollte weitersprechen in seiner scharfen Mentorart, Merkmale hinzusetzen und Menschenfehler hochschrauben mit dem Härtewillen seiner eigenen Natur. Aber Diesberg kam ihm zuvor. Das Blut stand ihm im Gesicht, die Lippen preßten sich gegen den Kiefer, der Grimm schwoll. Sollte er sich wie ein dummer Junge abkanzeln lassen? Er ging wortlos hinaus.
Lipsius hörte die Tür fallen. Er ließ sich müde nieder. Die eckigen Schultern zuckten wie in dem Empfinden großer Nutzlosigkeit. Nun hatte Regina ihren Willen gehabt. Sie hatte immer auf den alten Diesberg hingewiesen, auf den Freund im Grabe. Zur Ehre seines Andenkens durfte man den Sohn nicht untergehen lassen. Aber der Alte war ein anderer gewesen, mit Rhythmus im Blut, mit verfeinerten Wünschen und gesteigertem Edelmannstum. Lipsius ließ den Kopf tiefer fallen. Er selbst war damals jung gewesen, und die weiteren Lebensvorstellungen des Freundes hatten ihn angezogen. Jetzt war die Distanz gewaltig gewachsen, und ob er heute noch bei reiferer Erkenntnis und unter veränderten sozialpolitischen Bedingungen diesen aller Erdenschwere entrückten Aristokratismus so bewundernswert finden würde, war fraglich. Fest stand für ihn nur, daß der Sohn nichts von der geistig vornehmen Selbstdarstellung des Vaters ererbt hatte, und es war ihm in der Tat nicht recht begreiflich, warum Regina eine so warme Anteilnahme für ihn zeigte.
Da er dies dachte, zuckte wieder ein Stich durch sein Herz. Aber diesmal war es kein rein physischer Schmerz, es war nur ein erregender Gedanke, den er schnell zu verscheuchen sich mühte. Bah, die beiden kannten sich ja kaum, zwei-, dreimal hatte Herr von Diesberg einen pflichtschuldigen Besuch gemacht – das mußte er schon, der Weg zu des Vaters Kassenschrank führte über den Teetisch Reginas ... Freilich, Regina hatte ihre seltsamen Launen. Sie konnte herrisch und heischend sein, als stammte sie nicht aus ruhig fließendem Bürgerblut, sondern aus einer Kriegerkaste. Sie konnte einsam leben und in sich gekehrt, oft gelangweilt wie eine blutleere Königstochter, oft in emsiger Beschäftigung mit ihren Büchern und seinen Kunstblättern, und dann wieder Abend für Abend in den Gesellschaften, im Theater, in den Konzerten, auf Routs und Bällen Abwechslung suchen. Lipsius wußte, man hielt sie für ein wenig »überspannt« – überspannt sagte man. Herrgott nein, das war sie gar nicht! Ist es Überspanntheit, wenn ein junger, glücklich fesselloser Geist ohne Schulpedanterie, ohne die Kieselbrocken erlernter Weisheit allen neuen Regungen in der Kunst und Literatur mitfühlendes Verstehen entgegenbringt? Ihre »Modernität« bespöttelte man heimlich. Der Vater hütete sich vor einem spöttischen Wort, er ließ ihre Ansichten gelten, wenn sie auch nicht die seinen waren. Er sah durch den modernen Firnis tiefer in ihres Wesens Kern. Er vernahm zuweilen in den Stunden ihrer Einsamkeit etwas wie einen lautlosen Schrei, er verfolgte das Tieferpflügen ihrer Phantasie, wenn sie mit ihm über seinen Sammelmappen saß, er fühlte sehr wohl, wie ihre Seele ihm zuweilen entschlüpfte und Selbstisches suchte, fern von dem Faßbaren ihrer Umgebung in dem altwürdigen Patrizierhause. Es steckte Originales in ihr und in der Suche nach ungewohnten Spannungen sicher auch ein Teil Launenhaftigkeit, aber alles in allem war das doch nur ein geistiges Dehnen und Strecken, Freudigkeit am Neuen, Temperamentssache, sprunghaftes Üben erst halbgeweckter Fähigkeiten.
So überlegte Lipsius. Doch gerade zu dieser Stunde kam er zu keiner rechten Klärung des Empfindens. Dinge, an die er vorher kaum gedacht hatte, einten sich zu Zusammenhängen und dünkten ihn symbolisch. Nun ja, es war nur natürlich, daß man dem Sohne eines verstorbenen Freundes aus der Verlegenheit half. Aber war es nicht merkwürdig, daß sie so genau über ihn Bescheid wußte, als lese sie Blatt für Blatt in seinem Lebensbuche? Sie hatte darauf bestanden, Bärwalde zu kaufen. Schön, das war eine Kapitalsanlage, die später, später vielleicht einmal Zinsen tragen konnte. Und sie hatte gemeint, man müsse versuchen, irgendeine Grundlage zu finden, auf der es sich ermöglichen lasse, daß Herr von Diesberg in Bärwalde verbleiben könne. Wieder ein Schulterzucken. Der Versuch war mißlungen. Oder sollte Regina sich mit dem verschrobenen Gedanken getragen haben, den Besitz nur zu kaufen, um ihn dann wieder dem leichtsinnigen jungen Menschen in dankbarer Erinnerung an seinen Vater zu Füßen zu legen?
O nein, so verrückt war sie nicht. Lipsius schritt, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und nieder. Gab es Mißverständnisse zwischen ihm und der Tochter in bezug auf Herrn von Diesberg? Es war kaum möglich. Oder doch – es war möglich. Sie faßte seinen Leichtsinn harmloser auf. Es war das rasche Blut seines Vaters, nur ungezügelter und vegetativer brausend. Sie war duldsam, wo er herbe urteilte. Sie gestand zu, bei ihrem kaum anders als flüchtigen Begegnen mit ihm seinen Charakter noch keineswegs voll erkannt zu haben, aber sie sah doch unter der Krume seines marksteinlosen flüchtigen Seins fruchtbare Keime und sagte, man müsse ihn schonend behandeln.
Schonend behandeln, dieser Mahnung Reginas entsann sich Lipsius. Schulterzucken und ein aufblitzendes Lächeln aus dem Hochmut der Mundwinkel. Er rückte an seinem Augenglase. Schonung üben war nicht seine Art, wo er eine strengere Auffassung für richtig hielt. Aber auch er hatte es gut gemeint mit dem jungen Diesberg. Er wollte erzieherisch auf ihn einwirken, er wollte ihn zur Arbeit zwingen, er sollte seine Schulden abverdienen. Da war der Mensch einfach davongelaufen. Wie konnte man diesem unverbesserlichen Hartkopf gegenüber eine »Grundlage« finden, um ihm ein Verbleiben auf der alten Scholle zu ermöglichen? –
Ein Klopfton erklang an der Tür. Die Tür öffnete sich, Regina lugte in das Zimmer.
»Stör' ich den väterlichen Freund?« fragte sie. »Biene sagt, Baron Diesberg sei hier gewesen, da bin ich neugierig geworden ...«