Fedor von Zobeltitz
Drei Mädchen am Spinnrad
Fedor von Zobeltitz

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Man verblieb noch auf den Spuren Kleists. Der Wagen raste weiter, der Wald wurde lichter, ein kleiner Bach rieselte durch das Wiesengrün, dann tauchten niedrige Häuser auf: Kohlhasenbrück, und natürlich kam man nun auf Kleistens Erzählung. Der Kommerzienrat erwies sich als ein Kleistschwärmer, der auch die Literatur gut kannte; er zitierte ›Zoddelbär und Panthertier‹ und den Anfang der Germania-Ode und sprach mit Begeisterung von der schönen Totenklage Fouqués um den verlorenen Freund. Beate unterdrückte ein Lächeln: dieser realistische Milchhändler, der in der Romantik reizvolle Illusionen suchte, erschien ihr von drolliger Zwiespältigkeit. Aber sie wurde doch auch wieder ernster, da ihr das Begreifen kam, daß ein Mann von Bildung die völlige Ausdehnung seines Lebens nicht im Naturalismus seines geschäftlichen Berufes finden kann, sondern als Gegengewicht nach selbständiger Geistigkeit streben wird. Immerhin blieb ein schwankendes Empfinden zurück, das sich auf der weiten Kurve zwischen pasteurisierter Milch und Caseinpräparaten und dem Wert dichterischer Substanzen und idealer Erregungen noch nicht zurechtzufinden vermochte.

Auch im zweiten Automobil hatte man von Kleist und Michael Kohlhaas gesprochen, und Emmingen und Krempel waren dabei in Streit geraten, weil ersterer behauptete, der Junker, mit dessen Leuten der Kohlhaas bei der Schenke von Wellaune in Hader gekommen, habe Wenzel von Tronka geheißen, während Krempel ihn Günther von Zaschwitz benannte. Sie stritten heftig miteinander, bis Maxes gutes Gedächtnis die Fehde schlichtete: Emmingen hatte als Leser geurteilt und Krempel als Philologe; die Sache lag einfach so, daß Kleist den geschichtlichen Zaschwitz aus freier Phantasie in einen unhistorischen Tronka verwandelt hatte. Nun sahen die Streitenden ihr Unrecht ein und neigten ihre Häupter vor der klugen Vermittlerin, und der Legationssekretär sagte beschwichtigend:

»Was tut der Name! Wenn Kleist die Geschichte beugte, so meisterte er sie doch auch. Ewigkeitswert hat schließlich er erst der Episode gegeben. Die Märkische Chronik, der er den Stoff entnahm, liest kein Mensch mehr; aber seine Erzählung ist Gemeingut des Volkes geworden.«

»Oder auch nicht,« gab Krempel zurück; er war heute rauflustig. »Kleist hat den Wohnort seines Helden hierher verlegt, und so hat man denn den Flecken Kohlhaasenbrück getauft. Aber fragen Sie einmal die biederen Häusler, ob sie etwas von ihrem geräderten Heros wissen? Es wäre recht und billig gewesen, wenn sie ihm einen Denkstein gesetzt hätten. Statt dessen sehe ich nur Erinnerungstafeln mit dem sehnsuchtstillenden Friedenswort: ›Hier können Familien Kaffee kochen‹ ...«

Herr von Emmingen antwortete nicht. Dionys Krempel war nicht nach seinem Geschmack. Schon der Name störte seine ästhetische Korrektheit. Er empfand auch eine leichte Mißstimmung bei der Intimität, die zwischen diesem Manne und Maxe herrschte. Sie duzten und neckten sich, als seien sie urewige Freunde und dem gleichen Gesellschaftsboden entwachsen. Nun bildete Herr von Emmingen sich freilich etwas ein auf die stolzfreie Liberalität seiner Weltanschauung, die alle Enge des Kastengeistes im Handumdrehen überwand. Aber er knüpfte sie doch an gewisse unerläßliche Bedingungen, wenn es ihm gerade so paßte, und griff rasch nach der Kleinheit, wenn seine eigene Größe ihm unbequem wurde. Das war entschieden nicht schicklich, daß dies junge Mädchen und ihr früherer Lehrer auf so vertrautem Fuße miteinander standen. Es konnte zu Irrungen führen, wenn man alle Grenzlinien verwischen wollte, die sich in der Technik des Gesellschaftlichen gewissermaßen von selbst gebildet hatten; es zermorschte die Begriffe des sozialen Bestandes. Es war ganz entschieden nicht richtig ...

Auch Dionys witterte in dem Legationssekretär sofort den heimlichen Gegner. Gegen Leute, die ein Monokel trugen, hegte er stets Antipathien. Er hielt ein Monokel für eine künstliche Verkümmerung. Ein Einglas setzt ein Auge voraus, und alles Halbe war ihm fatal. Der odysseeische Polyphem hätte ein Einglas tragen können: es war allenfalls ein Urphänomen, paßte aber nicht zu unserem doppelt gegliederten Geschlecht. Es war albern. Der ganze Mann war albern mit der schönen Schweifung seiner rednerischen Perioden, seinem Gelegenheitsmeckern und seiner äußeren Aufmachung. Alle Lust am Augenblick verließ Dionys, wenn er die Weste Emmingens sah, die mostrichgelb war mit roten Wellenlinien und violetten Punkten dazwischen. Natürlich war diese Weste sehr modern und äußerst schick; aber bei Krempel wurde die vorgefaßte Meinung zum strikten Maß der Wirklichkeit und die mostrichfarbene Weste zum Zeichen für ein ganz irreguläres Innenleben ihres Trägers.

Maxe spürte die stillen Gegenwirkungen ihrer Begleiter und fühlte sich unbehaglich. Ihr weiblicher Instinkt deutete unklar auf das Wesentliche der rasch erwachten Männerfeindschaft: auf das Spiel eifersüchtiger Regungen, das in beiden eine Umbildung ihrer Beobachtungen in das Übertreibende vollzog. Dies Gefühl war nur dunkel, und doch ängstigte sie es ein wenig; und wäre es ein Selbstbekenntnis gewesen: sie hätte sich dagegen gewehrt. Denn ihr Herz empfand wirklich nur eine aufrichtige Freundschaft zu dem lustigen Krempelius, und es regte sich gar nicht für Emmingen. So war sie denn froh, als der Wald sich auftat und der Weg sich abwärts senkte und es nun durch einen Elsbruch ging und unten der blaue Spiegel des Schwielow sichtbar wurde.

»Zochin!« rief Maxe, und Dionys wiederholte in weichem Tone: »Mein liebes Zochin...« Die ersten Häuser huschten vorüber, der See verbreiterte sich. Über dem Wasser stand weißes Gewölk, eine ganze Flotille durchkreuzte die Flut. Der Wind war wach geworden, und die Wimpel flatterten; drei Fischer in schenkelhohen Stiefeln zogen einen Kahn an Land; in dem Vorgarten eines Häuschens grub eine alte Frau die Erde um und zählte dabei mit halblauter Stimme die Spatenstiche.

Das Dorf hatte eine hübsche Lage am See. Es umkränzte das Ufer und zog sich an der Berglehne empor; Kirsch- und Apfelbäume umbuschten es, Obstspaliere deckten auch hie und da die Wände der Häuser. Im Wasser spiegelten sich die bewaldeten Höhen, über den Türmen von Potsdam hing ein Streifen rauchigen Dunstes.

»Sieh, Maxe,« sagte Dionys und wies aus dem Fenster, »da drüben hinter der weißen Scheune hatte der Ortsschulze seine Kalkgrube. Weißt du noch, wie du in die geplumpst bist? ... Und jetzt kommt der Krämer, wo wir uns immer Raute und Zuckerpapier kauften, der hieß damals Dusedan und hatte eine große wackelnde Warze am Kinn, vor der du dich fürchterlich graultest ... Und paß auf – nun geht's um die Ecke, und da liegt unser Pfarrhaus, mit den dicken Efeutroddeln am Giebel – und gegenüber die Kirche, wo die vielen Rochows begraben sind – und unter den drei Trauerweiden auf dem Friedhof liegen die Gräber der Eltern ... Jetzt kommt der Krug, wo wir mal auf den Boden geklettert sind, um den Storch zu fangen und ihm ein Halsband umzubinden – und wo mir die Hosen zerrissen und die alte Pittelkon sie wieder mit Zwirn zugenäht hat ... und nun wird das Herrenhaus sichtbar ... Da – hinter den hohen Buchen ...«

Maxe nickte nur immer. Ihr war doch eigen zumute, als sich dies Fleckchen Kindheit wieder vor ihr auftat und die Erinnerungen sie überstürmten. Auch Herr von Emmingen sprach nicht. Er hatte Respekt vor dieser bloßmenschlichen Festhaltung einer kleinen Vergangenheit, aber in Wahrheit: das Herz tat ihm dabei weh. Es schmerzte ihn, daß die beiden so viel Gemeinsames verband und daß dieser schreckliche Krempel mit seiner Aufrüttelung weicher Stimmungen ihn zu einer gewissen Ohnmacht verurteilte. Bei seiner Klarheit über Begriff und Urteil verstand er sich schon recht: er wußte, daß ihn die Eifersucht packte. Aber hatte er für das herzige Mädelchen auch seit langem eine liebende Sympathie empfunden, so war er bisher doch nicht so ganz über seinen quälerischen Zweiseelenstand hinausgewachsen und hatte geschwankt, ob er es zu einer Erklärung kommen lassen sollte oder nicht. Das war ja sein Unglück: die logischen Grundfunktionen ließen ihn nie im Stich, aber dann kam das Subjekt mit seinen Fragen und Erwägungen. Immerhin tröstete er sich: hier hatte eine Kinderfreundschaft lockere Wurzel geschlagen, und das war nicht der Aufregung wert. Ein Fräulein von Göchhusen konnte nicht so schlankweg Madame Krempel werden. Alles, was recht ist – aber das ging nicht an ...

Die Wagen waren nunmehr in den Park eingebogen und hielten vor dem kleinen Schloß in Zopfstil, aber mit einem Rokokoportal, das von alten Buchen überragt wurde. Man mußte sie schon erwartet haben, denn ein Diener sprang herbei, und auch eine ältere Frau mit einer seltsam goldgestickten Haube auf dem Hinterkopf – wohl Haushälterin – nahte sich mit rhythmischen Knicksen.

»Guten Tag, Frau Risolin,« sagte Brökelmann, »wie ist's mit dem Frühstück?«

»Alles bereit, Herr Kommerzienrat,« antwortete die Frau mit der Stimme eines Bassisten, »und alles nach Befehl.«

»Na, schön... Meine Damen, eine Frage entsteht: wollen Sie erst das Milchreich besichtigen und sich bei dieser Gelegenheit nach der langen Fahrt ein bissel die Beine vertreten – um mich mehr berlinerisch als ästhetisch auszudrücken – oder wünschen Sie zunächst das Frühstück? Letzteres ist eine kalte Pracht und kann warten; nur die Bouillon ist warm, doch bürgt Frau Risolin dafür, daß sie in ihrem hitzigen Zustande verbleibt.«

Man entschied sich ohne weiteres für das »Beinevertreten« und schlängelte sich auf geschwungenen Pfaden durch den Park. Da begann zwischen den Mädchen und Krempel denn wieder der Austausch der Erinnerungen, während Brökelmann und Emmingen hinter ihnen herschritten. Die vier, die vorweg waren, sprangen zuweilen auf einen Rasenplatz, wo eine einsame Rottanne sie lockte, von der sie früher einmal ein Krähennest geholt hatten, oder glitten rechts und links in Boskettwege hinein, um nach Spuren der Vergangenheit zu suchen, und liefen schließlich Sturm, als sie in der Ferne den Denkstein für den getreuen Bernhardiner sahen, dessen Namen den Kommerzienrat zu allerhand gewagten Vermutungen veranlaßt hatte. Dadurch hatte sich ein ziemlich weiter Abstand zwischen den beiden Gruppen gebildet, den Herr von Emmingen durch kräftiges Ausschreiten verringern wollte. Aber Brökelmann war dagegen.

»Lassen Sie sie tollen,« sagte er. »Ich möchte sowieso gern ein Wort unter vier Augen mit Ihnen sprechen. Wie lange kennen wir uns lieber Emmingen?«

»Wie lange? Warten Sie: wann kam ich nach Berlin? Vor drei Jahren.«

»Richtig. Und kamen aus München, und im Kupee vetterten wir uns an. Ich hatte Simmentaler gekauft und war guter Laune, und Sie auch, weil Sie das Königlich bayrische statistische Landesamt mit einem angenehmeren Posten an der Berliner Gesandtschaft vertauschen durften. Wir spielten während der Fahrt unentwegt Sechsundsechzig miteinander.«

»Stimmt. Und Sie gewannen.«

»Mag sein. Jedenfalls bildete dies Sechsundsechzig das Fundament für einen freundschaftlich werdenden Verkehr. Ich konnte Ihnen gelegentlich einen großen Dienst erweisen.«

Herr von Emmingen brach einen trockenen Ast vom nächsten Strauche und warf ihn auf die Erde. »Kommerzienrat, sagen Sie, was Sie wollen und kürzen Sie die Einleitung ab. Ein Endziel muß doch da sein.«

»Ist da. Ich habe eine Bitte an Sie.«

»Also los. Sie wissen, daß ich Ihnen noch eine Revanche schuldig bin.«

»Die können Sie mir jetzt geben. Ich möchte, daß Sie für mich den Freiwerber spielen.«

Emmingen blieb einen Augenblick stehen und sah Brökelmann aufmerksam an. Dann nickte er lächelnd.

»Warum nicht?« erwiderte er. »Ganz ohne Kuppelpelz. Ich tue es aus Freundschaft. Haben Sie nur die Güte, mich mit dem Wesen, dem Ihre Neigung gilt, bekanntzumachen. Wobei ich gleich erkläre, daß dieses äußere Kennenlernen keinerlei innere Umwandlung in mir vollziehen soll, selbst wenn mir Ihre Zukünftige durchaus nicht gefällt.«

»Ich schätze. Sie hat Ihnen schon gefallen,« entgegnete Brökelmann. »Jedenfalls kennen Sie sie längst. Ich meine Fräulein von Göchhusen – Beate – die älteste.« Emmingen blieb abermals stehen: diesmal in der Haltung eines plötzlich Erstarrten.

»Wen?« rief er.

Der Kommerzienrat winkte mit her Hand. »Bitte, nicht so laut. Gehen wir weiter. Fräulein Beate, ich sagte es. Ich habe sie heut früh zum ersten Male gesehen. Grade darum. So habe ich es schon einmal gemacht. Ich war ein junger Bengel von dreiundzwanzig Jahren, als mir auf einer Schnitzeljagd ein Fräulein von Driesen vorgestellt wurde. Am Nachmittag hielt ich um sie an, und acht Wochen später waren wir Mann und Frau. Ich liebe ein rasches Handeln.«

»Kommerzienrat, das mag ja sein – und ich habe auch nichts dagegen. Rasches Handeln ist Wachstum des Seins. Aber – entschuldigen Sie, wenn ich das ausspreche: Sie sind heute nicht mehr ein junger Bengel von dreiundzwanzig Jahren.«

»Nein – ich bin ein gereifter Mann von dreiundvierzig. Aber gesund, und auch die inwendige Struktur ist in Ordnung. Wie sehe ich aus?«

Emmingen mußte abermals lächeln. »Nicht wie der Kommerzienrat in den Fliegenden Blättern. Beileibe nicht. Mehr transatlantischer Typus. Merkantilischer Einschlag gewiß, aber verfeinert durch intellektuellen Bestand. Kein Adonis – nein, Brökelmann –, ich habe auch etwas gegen die männlichen Beautés, die mich häufig an das Schaufenster eines Friseurs erinnern... immerhin, das kann ich beschwören: eine würdige Erscheinung – ja, eine würdige. Und wenn ich ein Mädchen wäre ... das heißt, wenn ich ein Mädchen über die Mitte Zwanzig wäre, dann würde ich zugreifen. Aber sehen Sie, das scheint mir doch ein Hindernis: Fräulein Beate ist zu jung für Sie.«

»Gibt's nicht mehr,« antwortete der Kommerzienrat unbeirrt. »Altersunterschiede spielten früher einmal eine Rolle, als noch die Marlitt groß war und die Braddon und die Flygare-Carleen, und man auch im Leben zwischen romantischen Sentiments hin und her pendelte, – aber nun sind wir realistischer geworden und tragen uns nicht mehr mit so kleinlichen Gefühlserwägungen. Das sorgt mich nicht, lieber Emmingen, und ich glaube, es würde die Entscheidung auch nicht beeinflussen. Aber andre Punkte könnten erwogen werden. Zum Exempel die Tatsache, daß ich Brökelmann heiße.«

»Es gibt schlimmere Namen.«

»Natürlich. Dionys Krempel klingt auch nicht hübsch. Und da hat das Widerspruchsvolle doch seine Humore. Brökelmann ist plebejisch, ist zum mindesten kleinbürgerlicher Urgrund. Diesem Umstande muß ich Rechnung tragen. Finden Sie Friedrich Wilhelm Freiherr von Brökelmann klangvoller?«

»Kommerzienrat!« rief Emmingen. »Sie wollen sich doch nicht etwa adeln lassen?!«

»Ich bin schon adlig, lieber Freund, bin veritabler Freiherr vulgo Baron, aber ich habe noch keinen Gebrauch davon gemacht. Ja – das ist eine sehr merkwürdige Sache. Ich habe nämlich einen Freund in der lippeschen Regierung – und da handelte es sich einmal um den Ankauf gewisser Besitzungen, die zu den Staatsdomänen geschlagen werden sollten, und man hatte kein Geld, und ich hatte grade ein paarmal Hunderttausend liegen, und da gab ich sie denn. Natürlich zu günstigen Bedingungen. Lippe hat ja wundervolles Schlachtvieh, und ich plante damals – aber das gehört nicht zur Sache. Dagegen gehört zur Sache, daß ich für meine außerordentlichen Verdienste meuchlings geadelt wurde. In Lippe. In Lippe bin ich Herr Baron; wenn ich aber irgendwo die Grenzen überschreite, sinke ich wieder in mein bürgerliches Nichts zurück. Natürlich läßt sich das ändern. Ich brauche nur die lippesche Staatsbürgerschaft zu erwerben und kann dann ungehindert überall meine Freiherrnkrone zur Schau tragen. Was meinen Sie: soll ich mich zu Lippe bekennen?«

Herr von Emmingen rieb sich schmunzelnd die Hände.

»Mein lieber Baron,« begann er, doch der Kommerzienrat fiel ihm ins Wort:

»Nein – bitte, nicht. Hier stehen wir auf preußischem Boden, und mir fehlt noch die Gerechtsame der sieben Zinken. Sie fassen die Sache spaßhaft auf, Emmingen, und sie hat ja auch ihre fröhliche Seite. Für mich ist sie lediglich eine Nützlichkeitsfrage. Meine erste Frau stammte auch aus altadligem Hause und stieß sich nicht an dem Untitulierten. Aber wie die Göchhusens darüber denken, weiß ich nicht.«

»Ich taxiere, vernünftig. Die Göchhusens sind Industrieadel, die Mutter ist bürgerlicher Geburt, die Kinder sind verständig erzogen. Aber Sie können für alle Fälle ja à deux mains spielen. Werden Sie lippescher Bürger nach aller Form Rechtens und halten Sie sich damit die Tür in die Nobelkaste offen. Ob Sie hineinspazieren wollen oder nicht, bleibt Ihnen dann immer noch überlassen ... Nun brechen wir das Thema ab, denn ich sehe, die Mädchen nähern sich wieder.«

Brökelmann nickte. »Gut. Aber nachher muß ich Sie doch noch einmal am Wickel nehmen. Von wegen der Freiwerbung. Da laß ich nicht locker. Ich bin nämlich der Ansicht ...«

Er schwieg mitten im Satze. Die jungen Damen kehrten mit Krempel zurück; Beate hatte auf einem buntgesprenkelten Wiesenfleck eine Handvoll Schneeglöckchen und Veilchen gepflückt und überreichte sie Brökelmann, ohne zu ahnen, welche große Schauer ihre Liebenswürdigkeit in seinem Herzen hervorrief.

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte er, »ich bin gerührt –«

»Wir sind es auch, Herr Kommerzienrat,« antwortete Beate, »und sind Ihnen aufrichtig dankbar, daß Sie uns erlaubt haben, unsre Heimat wiederzusehen. Denn wir betrachten Zochin nun einmal als unsre Heimat, weil wir hier die glücklichste Zeit unsrer Kindheit verlebt haben. Nicht wahr?«

»Ja!« riefen die Schwestern, und hierauf legte Brökelmann die rechte Hand auf seine Herzseite, verbeugte sich und sprach:

»Meine gnädigsten Damen, es würde mir eine besondere Freude sein, wenn Sie Zochin auch fürderhin Ihre Heimatsgefühle bewahren wollten.«

»Dürfen wir Mama einmal mitbringen?« fragte Maxe.

»Aber versteht sich, versteht sich. Wenn die Frau Mutter so reizend ist wie die Fräulein Töchter, dann kann ich mir zu der neuen Bekanntschaft nur gratulieren.«

Nun dachte Beate wieder an ihre Mission und sagte: »Sie ist viel netter als wir, Herr Kommerzienrat. Wenn Sie uns schon reizend finden – ach Gott, nun – dann werden Sie bei der Mama in Schwärmerei geraten ...« Sie überlegte einen Moment und sprach rasch eine forsche Lüge aus. ... »Und denken Sie,« fuhr sie fort, »für die Milchwirtschaft hat sie sich immer besonders interessiert!«

Brökelmann nickte vergnügt. »Charmant. Ein Annäherungspunkt mehr. Nun bin ich neugierig, wie Ihnen meine glattstirnige Gesellschaft gefallen wird. Wir sind nämlich da ...«

Eine Ahornallee führte zum rückwärtigen Parkausgang. Man trat auf den Wirtschaftshof, einen riesigen Raum, den zwölf Stallungen quadratisch umschlossen: gleichmäßige Backsteinbauten von ansprechendem Äußeren. Jetzt begannen wieder die Erklärungen des Kommerzienrats. Während in dem Berliner Geschäft alle eingelieferte Milch pasteurisiert wurde, ging die aus der Zochiner Molkerei frisch von der Kuh aus in plombierten Flaschen in die Welt. Aber es wurden nur solche Kühe, meist Simmentaler und Jeverländer Schlages, eingestellt, deren Gesundheitszustand durch eingehende klinische Untersuchung als tadelsfrei befunden wurde. Ein eigener Tierarzt kontrollierte täglich den Viehbestand; es gab auch ein besonderes Lazarett für krankgewordene Rinder.

Herr von Emmingen, der aus einer agrarischen Familie stammte, pries in lobenden Worten die hygienische Einrichtung der Ställe mit ihren Zementböden, ihren Wasserspülungen und Ventilatoren und den leicht zu reinigenden Wänden aus glasierten Tonplatten, und schlängelte sich dann an Maxe heran, um sie auf ein paar besondere Prachtkühe aufmerksam zu machen, die in behäbiger Ruhe ihr Heu zermalmten und die Fremdlinge dabei mit großen blanken Augen gutmütig anstarrten. Hierauf warf man noch einen Blick in das Maschinenhaus mit seinen riesigen elektrischen Kraftmotoren, besichtigte flüchtig das Kühlhaus, wo ungeheure Kompressoren mit flüchtiger Kohlensäure das erforderliche Eis und Kühlwasser erzeugten, und wandte sich schließlich einer kleineren Gruppe von Baulichkeiten zu, die seitlich des Wirtschaftshofes auf einer von Akazien gekrönten Anhöhe lagen.

Das war eine Neuschöpfung des großen Milchindustriellen, auf die er besonders stolz war: die bakteriologischen und chemisch-analytischen Laboratorien, die er hatte anlegen lassen, um einerseits eine ständige Kontrolle über die in den Handel gebrachte Milch ausüben zu können, andererseits aber auch, um alle in Betracht kommenden Fragen wissenschaftlich prüfen und praktisch bearbeiten zu lassen. Hier versagte nun das Erklärertalent des Herrn von Emmingen, und er mußte zu seinem Ärger fühlen, daß Krempel in der Chemie bedeutend besser Bescheid wußte als er. Wenigstens tat Krempel so, er zog Maxe bald an diesen und bald an jenen Apparat und prunkte mit seinem Wissen, ohne es mit den Einzelheiten allzu genau zu nehmen. Es machte ihm sichtliche Freude, den Nebenbuhler übertrumpfen zu können; er sprach mit gewichtiger Stimme von Kohlenhydraten, Eiweißkörpern, Wärmebildnern und Fettsubstanzen, während Maxe mit einem Gesicht zuhörte, auf dem sich die Empfindungen mischten: der Versuch reger Aufmerksamkeit und eine entschiedene Gleichgültigkeit gegen die Zusammensetzung der Milch und die in ihr lebenden Kleinwesen.

Inzwischen hatten sich der Direktor des Laboratoriums und sein erster Assistent eingefunden, ließen sich vorstellen und begannen auch ihrerseits mit belehrenden Erläuterungen. Der Assistent bemühte sich um Maxe, während Professor Beyfuß, der Direktor, Beate für Spaltpilze, Kokken, Saprophyten und prototrophe Bakterien zu interessieren versuchte. Der Biologie dieser Mikroorganismen brachte freilich auch Beate keine sonderliche Sympathie entgegen, dagegen machte es ihr Freude, von dem Professor etwas über die Entstehungsgeschichte der Laboratorien zu hören, weil sie charakteristisch für die Wesenheit des Kommerzienrats Brökelmann war. Sie bekam Respekt vor dem Unternehmungsgeist dieses Mannes, bei dem die materielle Seite seines Berufs zu der Grundlage umfassender geistiger Arbeit geworden war. Professor Beyfuß konnte nicht genug von der Opferwilligkeit des Kommerzienrats erzählen; die Einrichtung und Erhaltung des bakteriologischen Laboratoriums kostete riesige Summen, aber dafür nutzte es auch der Gesamtheit der Menschen und hatte der Forschung bereits große Dienste leisten können. Mit Stolz wies der Professor auf einige neue Entdeckungen, die sich dem Gesichtssinn Beates allerdings nur als blaßfarbige schleimige Substanzen zeigten, und trat dann mit ihr in ein Nebengemach, in dem hinter Käfiggittern Hunderte von niedlichen Meerschweinchen hin und her huschten. Sie dienten durch Übertragung der isolierten Keime zur Untersuchung auf pathogene Eigenschaften. In einem Sonderkäfig befand sich bereits eine Anzahl Meerschweinchen, denen bestimmte Bakterien eingeimpft worden waren; auch Mäuse, Kaninchen, Hühner und sogar auch ein ganzes Rudel fröhlich umhertobender Affen waren für die Experimente vorhanden. In Spiritus gelegte Tierteile, eine aufgeschnittene Maus, der Magen eines Meerschweinchens ließen den Weg erkennen, den das Gift des Bakteriums genommen hatte, und obwohl Beate sich sagte, daß dies alles eigentlich greulich sei und dem normalen Menschen den Appetit verderben könne, gab sie doch ohne weiteres zu, daß der Kommerzienrat sich in seinem Institut ein unvergängliches Denkmal geschaffen hatte. Sie bedauerte sehr, daß die Mama nicht hier sein und die Berühmtheit Brökelmanns gewissermaßen an der Quelle genießen konnte. Doch nahm sie sich von neuem vor, ihm gegenüber die ganze gefällige Art ihres Wesens auszuspielen, um so das Feld vorbereiten zu helfen. Denn, sagte sie sich, es ist klar: wenn er die Töchter fein und wohlerzogen findet, so ist das eine Förderung der Möglichkeit, daß er auch der Mutter geneigt sein dürfte. Und dann würde die Mama bereits eine Auswahl vorfinden: hie Hartwig, hie Brökelmann. Es waren eigentlich beides Menschen, die für sie paßten: sie hatten in der realistischen Zuständlichkeit ihrer Umwelt sich einen hübschen Idealismus bewahrt. Und für so etwas war die Mama immer zu haben.

Es gab noch allerlei zu sehen, wie beispielsweise die Milchzuckerfabrik, wo aus großen Kristallen ein feines Zuckerpulver entstand und die Abfälle sich in Melasse, milchsauren Kalk oder milchsaures Eisen für bleichsüchtige Kinder wandelten, oder auch in reine Milchsäure, die in den Färbereien verwendet wird. Aber die Schaulust schien doch schon befriedigt zu sein; jedenfalls machten die Damen erfreute Gesichter, als der Kommerzienrat vorschlug, Frau Risolin nunmehr nicht länger mit ihrer Bouillon warten zu lassen.

Man kehrte zum Schlößchen zurück, und da stürmten die Mädchen unter Anführung Krempels abermals voran, um rasch noch die altvertrauten Räume besichtigen zu können, ehe es zum Frühstück ging, und der Kommerzienrat folgte wieder mit Herrn von Emmingen, froh darüber, sein Zwiegespräch von vorhin bequem zu Ende führen zu können. Aber ehe er begann, nahm Emmingen das Wort.

»Hören Sie, lieber Brökelmann,« sagte er, »ich habe inzwischen Zeit gefunden, Ihre plötzlich eingetretene Herzensaffäre hin und her zu bedenken. Habe mir daraufhin auch Fräulein Beate noch einmal angesehen – mit vorsichtigen Augen natürlich, aber doch aus einem gewissen psycho-physiologischen Gesichtswinkel. Der Unterschied ist nicht so groß. Entweder ist Beate älter als wir annehmen, oder sie sieht so aus. Sie neigt ein wenig zu früher Üppigkeit – ich meine nicht im Überschuß ihrer gedanklichen Entwicklung, was ich nicht kontrollieren könnte, sondern in äußerlich formalem Sinne.«

»Jawohl,« entgegnete der Kommerzienrat, »und da Sie gerade vom Äußerlichen sprechen, gestehe ich Ihnen auch, daß ich das liebe. Eine Kurve ist immer angenehmer als eine Linie, und mein Leben lang habe ich das Runde dem Eckigen vorgezogen. Ich gehe daher, wenn ich in Italien bin, auch lieber in das Pantheon als in den Mailänder Dom. Natürlich weiß ich, daß der moderne Geschmack bei der Frau die ›Linie‹ vorzieht. Aber erstensmal kümmere ich mich nicht um den modernen Geschmack, und dann halte ich ihn auch für verderbt. Die Linie ist der Anfang, die Rundung Entwicklung ... Das nebenbei, denn natürlich ist das Äußere nicht allein maßgebend für mich.«

»Verstehe und beuge mich. Also ich fahre fort und gebe nochmals meiner Ansicht Ausdruck, daß der Altersunterschied keine gewichtige Rolle spielen dürfte. Wie denken Sie sich nun eigentlich meinen Anteil an Ihrer Freiwerbung? Wir müssen doch mit den Sitten von heute rechnen –«

»Natürlich,« fiel Brökelmann ein. »Ich denke so: mich kennen die Göchhusens kaum. Die Töchter wenig, und was die Mutter von mir kennt, knüpft sich wohl nur an die Sahne, Voll- und Magermilch, die sie von mir bezieht. Das gibt aber noch gar kein Gesamtbild meines Menschlichen. Ich möchte daher, daß Sie als Freund des Hauses ein wenig vorbauend und orientierend wirken. Kann Ihnen das schwer fallen?«

»Nein,« erwiderte Emmingen, »zumal nicht, wenn ich Glück habe. Nämlich, Kommerzienrat und Baron – Sie müssen schon gestatten, daß ich Sie in diesem Augenblick als Standesgenossen betrachte: ich habe die Absicht, morgen vormittag zwischen elf und zwölf bei Frau von Göchhusen um die Hand von Fräulein Maxe anzuhalten!«

»Oho!« rief Brökelmann und blieb mit starkem Rucke stehen.

»Warum oho? Bin ich heiratsunfähiger als Sie? Wo sind Grenzen des Alters oder der sozialen Schichtung, die bei mir berücksichtigt werden müßten? Ihr ›Oho‹ kränkt mich.«

»Das sollte es nicht. Es war ein Ausruf ohne Bedeutung. Ich kann mich ja nur freuen. Geben Sie mir die Hand, lieber Schwager,« – er schüttelte kräftig die Rechte Emmingens – »wir wollen treu zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen. Ist das schon eine alte Liebe bei Ihnen?«

»Meinerseits ja. Bei ihr weiß ich noch gar nichts. Aber ich halte den Zeitpunkt der Erklärung für gekommen.«

»Und gleich bei der Mutter?«

»Es ist das Korrektere.«

Der Kommerzienrat nickte. »Korrektheit muß sein. Nun liegt das Ganze anders und günstiger. Wenn Sie sich die Entscheidung holen, können Sie auch ohne weiteres von mir anfangen. Es ist ein Aufwaschen. Es läuft so mit unter ...« Er überlegte im Weiterschreiten einen Augenblick und hub hierauf wieder an: »Oder meinen Sie –«

Dann stockte er, aber Emmingen fuhr fort: »Ja, das meine ich. Ich kann Ihren Satz ergänzen. Ich meine, daß Sie selbst um Beate anhalten müssen. Die Sache mit der Brautwerbung fällt doch allzusehr, aus dem Modernen. Anders, wenn wir zusammen auftreten. Dann ist die gegenseitige Unterstützung von vornherein gegeben. Wir können nur Rühmliches von uns sagen. Ich werde Ihre Vorzüge in Rotfeuer erstrahlen lassen. Die liegen übrigens auf der Hand. Ihre Stellung im kaufmännischen Leben, das Laboratorium, Ihr Reichtum, die lippesche Freiherrnkrone – können Sie nicht auch bald Geheimrat werden?«

»Es bedürfte nur des Antippens.«

»Tippen Sie. Äußere Ehren sind immer etwas Greifbares. Was habe ich denn zu bieten?«

»Das lassen Sie meine Sorge sein. Eine Hand wäscht die andere. Fränkischer Uradel wird höher bewertet als die siebenperlige Krone von Lippe. Diplomatischer Dienst hat auch immer für feiner gegolten als der Milchhandel. Und dann Ihre Jugend. Und dann Ihr Exterieur. Und nicht einmal Witwer. Ja, Emmingen, noch eins sorgt mich: ich habe einen Sohn. Zwar einen prächtigen Bengel – trotzdem, er könnte ein Hindernis sein.«

»Halt' ich für ausgeschlossen. Im Gegenteil: besser als Kinderlosigkeit. Da könnten Verdächte wach werden. ... Also, Kommerzienrat, Sie sind einverstanden?«

»Ich habe ein bißchen Angst. Kenn' ich sonst nicht – aber in diesem Falle ... Wenn ich bloß die rechten Worte finde!«

»Das ergibt der Augenblick, Brökelmann. Ich bereite mich auch nicht vor. Ich spreche, wie mir zumute ist. Punkt elf bin ich bei Ihnen und hole Sie ab.«

»Schön. ... Noch eins, Emmingen: Frack oder was?«

»Überrock und Zylinder. Immer korrekt.«

»Immer korrekt. Na – hoffen wir das Beste ...« Sie gaben sich die Hände und lächelten beide. Aber dies Lächeln hatte ein tieferes Innenleben als das eines flüchtigen Augenblicks. Es war zaghaft und auch Hochstimmung dabei. Es fehlte bei dem einen die immer bereite Ironie und bei dem andern das ungehemmte Selbstbewußtsein. Das Herz sprach mit. –

Man frühstückte im Gartensalon, einem Raum mit Biedermeiermöbeln, Gitterfenstern und einem schmalbrüstigen Spiegel über dem Kamin, in dem ein Feuer flackerte. Zwei Diener servierten. Es gab weder Voll- noch Magermilch, sondern Schwarzhofberger und Léoville Lascazes und endlich Cliquot. Auch war der Kaviar frisch wie die Wachtelpastete, und die getrüffelte Pute verriet rühmliche Abstammung.

Fahrt und Spaziergang hatten die Gäste hungrig gemacht; auch die jungen Damen speisten mit gesundem Appetit. Die »bunte Reihe« war hergestellt, so gut es sich ermöglichen ließ: der Kommerzienrat hatte Beate zur Rechten und links Elfriede, Maxe saß zwischen Emmingen und Krempel. Der feindliche Sinn der beiden Nebenbuhler offenbarte sich nicht bei Tische; es schien, als habe die Wirkung des Materiellen sie sanfter gestimmt. Als die Diener den Champagner schenkten, wollte Emmingen das Wort ergreifen. Doch Beate gab ihm ein Zeichen, nahm selbst ihr Glas zur Hand, räusperte sich ein wenig unter hellem Erröten und begann:

»Als älteste der drei Göchhusens, die in diesem Hause ihre Kindheit verlebt haben, möchte ich dem Herrn Kommerzienrat unsern herzlichsten Dank sagen für die Gastlichkeit, mit der er uns aufgenommen hat. Als wir vorhin den Park durchwanderten und hier von Zimmer zu Zimmer gestreift sind, hatten wir den Eindruck, als sei die Spanne Zeit zwischen damals und heute eine unendlich kleine. Das war erklärlich, denn wir fanden alles so wieder, wie wir es verlassen hatten. Bäume und Sträucher sind natürlich größer geworden, aber sie stehen doch noch auf ihrem alten Fleck. In das Haus sind neue Möbel gekommen, doch der Charakter ist geblieben, und – ja, das möchte ich aussprechen – alles das hat etwas Rührendes für uns. Ein andrer hätte sich hier vielleicht einen Palazzo erbaut mit Marmortreppen und Lift und hätte den Park neuzeitlich ausbessern lassen, oder zum mindesten ein paar Statuen hineingesetzt oder einen künstlichen Wasserfall geschaffen oder derlei. Das tat unser Herr Kommerzienrat nicht, und deshalb erkannten wir die Heimat auch gleich wieder und fühlten uns schrecklich wohl und ergreifen begeistert die Gläser und rufen: Hoch lebe der Herr Kommerzienrat Brökelmann!«

»Hoch, hoch, hoch!« fielen die übrigen Gäste ein, nur Herr von Emmingen setzte ein dreifaches »Hurra« an die Vivatstelle. Schließlich erhob sich alles und stieß mit Brökelmann an, der während der schönen Rede Beates fast unbeweglich auf seinem Platz gesessen hatte; aber in seinen kleinen, etwas schlitzigen Augen lag dabei ein Ausdruck, der Emmingen in der mephistophelischen Schärfe seiner Beobachtung wie ein Fühltaster nach dem Glück erschien oder wie eine Durchleuchtung mit dem Radium einer seligen Erkenntnis. Verhaltene Ironie zuckte wieder einmal um die Mundwinkel des Legationssekretärs; er hatte einen netten Witz auf der Zunge und hätte ihn gern an den Mann gebracht. Aber er bezwang sich, zumal er sah, daß der Kommerzienrat sich anschickte, den Toast Beates zu erwidern.

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte Brökelmann, stehen bleibend und den Leib etwas einziehend, um sich eine bessere Figur zu geben, »meine gnädigen Damen, ich fühle mich geradezu beschämt durch Ihren Dank, den ich wirklich nicht verdiene. Denn was habe ich Großes getan? Draußen mußte ich notgedrungen eine Umwälzung vollziehen, wie mein milchernes Geschäft sie verlangte, aber innerhalb des Parkgatters konnte ich alles beim alten belassen und tat es mit Freude, weil mein Geschmack weniger zur Palazzohaftigkeit neigt als zur ruhigen Stimmung. Und die war hier gegeben. Das war ja von vornherein mein Gedanke, als ich Zochin kaufte: mir hier in der Umsäumung meines äußeren Lebenswerks, das durchaus nicht immer so sanft verläuft, wie man bei einer so beruhigenden Flüssigkeit annehmen sollte, das sogar zuweilen förmliche Wellen schlägt – war mein Gedanke, sage ich, mir hier im Mittelpunkt meines Zuständlichen ein Buen Retiro zu schaffen, in dem das Individuum Souverän sein konnte. Sie werden das begreifen, wenn ich Ihnen versichere, daß sich meine unsterbliche Seele häufig genug aus der Milch heraussehnt und gern einmal nach anderen Resonanzen sucht, als sie bei den Zentrifugen und in der Butterei und bei meinen hygienisch einwandsfreien Sahnepräparaten zu finden sind. Im Wechsel der Eindrücke liegt ja immer noch der Hauptreiz des Lebens. Ich bin also sehr glücklich, daß auch Sie sich hier wohlfühlen, und wiederhole mein Anliegen von vorhin: betrachten Sie Zochin nach wie vor als Heimat. Das, meine Damen, sagen Sie auch Ihrer verehrten Frau Mutter, auf deren Wohl ich mit mir anzustoßen bitte.«

Er zog den Kommerzienratsleib noch mehr ein, so daß er fast schlank erschien, und neigte sein Glas zunächst vor Beate, um es sodann auch an die Gläser der andern anklingen zu lassen. –

Beim Kaffee bat Krempel um die Erlaubnis, vor der Abfahrt noch einmal auf den Friedhof gehen zu dürfen, um die Gräber der Eltern zu besuchen. Die drei Mädchen wünschten ihn zu begleiten, denn auf dem Kirchhofe lagen auch ihre kleinen Schwestern begraben: das Göchhusensche Zwillingspärchen, das wenige Tage nach der Geburt die Welt des Lebens wieder verlassen hatte.

Gegen einen solchen Pietätsbesuch ließ sich nichts einwenden. Während der Kommerzienrat und Herr von Emmingen sich in das Rauchzimmer zurückzogen, dort ihre Zigarren ansteckten und nochmals über das ereignisvolle Morgen zu plaudern begannen, machten die vier anderen sich auf den Weg nach dem Kirchhof.

Kaum hatten sie das Parktor hinter sich, da vermochte Beate nicht mehr den Zusammenhang ihres Fühlens zu meistern. »Kinder,« rief sie, »hab' ich meine Sache nicht brav gemacht? Hab' ich meine Sendung erfüllt? Hab' ich unsern Brökelmann nicht förmlich in Liebenswürdigkeit eingewickelt?«

»Es war fast zu viel,« entgegnete Maxe, »es fehlte das Abgewogene. Deine Rede war ein Panegyrikus. Weniger wäre besser gewesen.«

Der Widerspruch ärgerte Beate. »Krempelius, bitte, entscheide du,« sagte sie. »Bin ich undiplomatisch gewesen?«

»Durchaus nicht,« erwiderte Krempel. »Im Gegenteil: du hast deine Sache prachtvoll gemacht. Maxe beurteilt den Kommerzienrat nicht richtig. Er hat ein gewisses Verlangen nach Anerkennung. Und dann neigt er zu Sentiments. Dem allem hast du in deinem Toast vortrefflich Ausdruck gegeben. Die Hauptsache war ja doch, ihn für die Göchhusens im allgemeinen zu interessieren, um so eine bequeme Annäherung zu ermöglichen. Und das hast du erreicht.«

»Zweifellos,« sagte Elfriede. »Er hängt an der Angelschnur. Und ich möchte fast glauben, daß er für die Mama noch besser geeignet ist als der Major von Hartwig. Ich habe diesen Brökelmann verkannt. Er imponiert mir wahrhaftig. Tugendreich, du kannst nicht bestreiten, daß auch du angenehm enttäuscht bist,«

»Bestreite ich gar nicht. Aber der Major ist mir doch lieber.«

Ein feiner rosiger Ton stieg in die Wangen Elfriedes. »Es kommt dabei nicht auf dich an, sondern auf die Mama,« entgegnete sie energisch. »Im übrigen bleibe ich auf meinem Standpunkt: Mama würde sich besser als Kommerzienrätin wie als Majorin ausnehmen. Ihrem Äußern und auch ihrem Wesen nach müßte sie mindestens schon zwei Sterne im Epaulette haben. Wenn Hartwig Oberst wäre oder General, würde ich nichts sagen. Aber so – ist sie nicht mehr jung genug für ihn. Meiner Ansicht nach.«

»Ich taxiere, der Kommerzienrat wird auch nicht viel älter sein als der Major.«

»Krempel, hier entscheidet der äußere Eindruck.«

»Nein,« warf Beate ein, »hier entscheidet die Mama! Warten wir ab. Wir haben auch noch den Superintendenten in petto. Der fällt auf Maxe. Wollen sehen, Tugendreich, ob du ihn so zu entzücken verstehst, wie ich meinen Brökelmann.«

Maxe ließ ihr gutturales Lachen erklingen und krauste die Oberlippe.

»Der ist mir sicher,« entgegnete sie zuversichtlich. »Er ist Orchideenzüchter. Die liebe ich auch, und bevor ich das nächstemal mit ihm zusammenkomme, lerne ich den entsprechenden Artikel im Konversationslexikon auswendig. Du entflammst dich für die Milch, Friedel für die Kunst, ich tu's mit der monokotyledonischen Planzenfamilie aus der Ordnung der Gynandren, eine der größten des Pflanzenreichs mit etwa sechstausend Arten, die über die ganze Erde verbreitet sind und selbst innerhalb der arktischen Zone nicht ganz fehlen. Vorbereitet bin ich schon, wie Ihr vernehmt.«

Krempel schüttelte lachend den Kopf. »Es ist fabelhaft,« sagte er, »mit welchem Eifer Ihr euch der Sache annehmt. Aber es ist auch eine Gefahr dabei. Nämlich die, daß Ihr selber den für die Mama in Aussicht genommenen Herren die Köpfe verdreht.«

»Wir?« rief Maxe. »Den Alten?«

»Alter schützt vor Torheit nicht. Eine Binsenweisheit, die immer noch zutrifft.«

»Glänzende Idee,« sagte Beate, »ich als Brökelfrau, ich als Milchkönigin. Glänzend.«

Maxe nickte mit wieder gekrauster Oberlippe, die ihrem hübschen Gesicht etwas Spitzbübisches gab. »Und ich Superintendentin? Warum nicht? Es ist etwas Höheres, das liegt schon im Namen. Es ist schon Hochwürden und besser als Propst. Frau Pröpstin klingt häßlich. Vielleicht wird Herr Warmuth auch einmal Generalsuperintendent. So etwas gibt es. Oder Hofprediger. Dann rangieren wir gleich nach den Exzellenzen, und Elfriede mit ihrem Major kommt erst ein ganzes Stück hinterher.«

»Kinder, seid Ihr albern,« antwortete Elfriede kurz. Das Hellrot ihrer Wangen hatte sich abgeschattet, aber zwischen den Augenbrauen, senkrecht zur Nasenwurzel, faltete sich eine kleine Linie in die Haut und blieb wie eine Drohung stehen.

»Du malst ja mit ihm,« begann Beate lächelnd und sah sie seitwärts an und schwieg plötzlich. Sie hatte das Fältchen bemerkt und wurde ein wenig verwirrt. »Lassen wir den Unsinn,« fuhr sie fort, »und halten wir uns an das große Ziel. Deine Vermutung, Krempelius, steht sowieso auf schwachen Füßen, da wir uns bei deinem Zauberfest feierlich zugeschworen haben, nur dann zu heiraten, wenn die Schwestern damit einverstanden sind.«

»Stimmt,« sagte Dionys, »ich meinte auch bloß so.«

Man trat auf den Friedhof und wurde stiller. Dieser Ort des Schweigens war so alt wie die Kirche, aber das Gotteshaus hatte man renoviert, den Friedhof nicht. Er war ein verwilderter Garten geworden, in dem Bäume und Strauchwerk sich frei angesämt hatten und das Gras wucherte. Es gab da viele zerfallene und vermorschte Holzkreuze auf eingesunkenen Gräbern, zwischen deren Efeugespinst sich Frühlingsblumen zur Sonne drängten. Aus zusammengeknäultem Wacholder und niedrigen Berberitzenbüschen streifte ein Schwarm Vögel auf, als die schweigenden Menschen nahten. An den großen Trauerweiden, auf deren feuchten Zweigen sich die Knospen schon zu kleinen Blättern geöffnet hatten, blieben die vier ein paar Minuten stehen. Dies gemeinsame Grab war besser gepflegt, der Efeu beschnitten, das Unkraut gerodet; das Kreuz aus Sandstein trug die Doppelnamen des Pastors August Krempel und seiner Ehefrau Dionysia, geborenen Madersteg. Aber es ruhten hier auch noch andre des gleichen Namens, so in einer Ecke des Friedhofs unter einem alten Maulbeerbaum mit klaffend gespaltenem Stamme der erste der Krempels, der aus Schlesien an die Ufer des Schwielow verschlagen worden und sich der Sitte der Zeit gemäß noch Krempelius genannt hatte, dieweil er ein sehr gelehrter Herr, mächtig der alten Sprachen und groß in den Wirnissen der Theologie gewesen war. Er hatte den Rochows gedient, die einstmals in dieser Gegend umfangreichen Besitz gehabt hatten, und deren Wappen: die langgehalsten Pferdeköpfe und der Steinbock auf dem gekrönten Helme, über dem Kirchenportal in Stein gehauen war.

Von den Trauerweiden ging es hinüber zu einer Gruppe zypressenähnlicher Lebensbäume, die wie große schwarze Flammen aus dem dunstigen Erdreich emporwuchsen. Hier lagen die Göchhusenschen Zwillinge begraben, die nur die Nottaufe empfangen hatten, denn der Tod war bei den kleinen Wesen schnell gekommen. Ihr Vater, immer eigenwillig in seinem Trotz gegen das Hergebrachte, hatte es vermieden, ein Kreuz auf das Grab setzen zu lassen. Dafür erhob sich an dieser Stelle ein kleines Kunstwerk aus hellem Marmor, das den Winter über durch einen Holzverschlag geschützt wurde: eine Urne, um die zwei Putten eine Rosengirlande schlingen.

Indes man weiterschritt, sprachen die Mädchen über das Monument. Es hatte etwas Störendes für Elfriede, und auch Beate stimmte dem zu: es passe nicht zu dem schlichten Charakter eines märkischen Dorfkirchhofs. Krempel war andrer Ansicht.

»Ihr dürft nicht vergessen,« sagte er, »daß diese Spielerei, wie Ihr es nennt, der Ausdruck einer bestimmten Empfindungsrichtung ist. Es widerstrebte eurem Vater, den beiden Kleinen, die doch nur ein paar Tage gelebt haben, ein Symbol wuchtigen Ernstes setzen zu lassen.«

»Kann ich begreifen,« erwiderte Maxe, »und auch verstehen, daß man die Umgebung vergessen und nur das Gewollte sehen kann: ein Kunstwerk, das für sich selber spricht.«

»Das aber,« warf Elfriede ein, »nicht im Einklang mit dem christlichen Gedanken unsrer Kirchhöfe steht.«

»Auch darüber wird man streiten können,« entgegnete Dionys. »Seht euch doch mal die Friedhöfe in Mailand und Genua an! Da mischen sich allerwärts Motive aus den Evangelien mit realistischer Gegenwart und einem fröhlichen Heidentum. Und wie ich mich eures Vaters entsinne, war auch er eine Natur, für die der Begriff der Überwelt viel mehr eine strahlende Feerie war als ein dunkles Tor. Die beiden spielenden Putten sind einfach eine künstlerische Verkörperung dieses Empfindens. Er dachte an einen Himmel der Kinder – und warum nicht?«

Maxe blieb stehen; man hatte den Friedhof wieder verlassen. Sie nickte mit gemessener Kopfbewegung und sagte:

»Ja, warum nicht? – Wißt ihr – es ist seltsam: ich kann mir den Papa nicht mehr vorstellen. Weiß mir kein Bild von ihm zu schaffen. Weiß nicht, wie er war und wie er jetzt ist. Jetzt vielleicht ganz anders als ehemals. Schade, daß ich ihn nie kennenlernen werde!«

Etwas Sinnendes trat in ihr Auge; es strich auch ein melancholisches Wehen darüber. Sie hob den Blick und ließ ihn über den Dorfplatz schweifen und fuhr mit eigentümlich sanftem Lächeln fort:

»Ich habe eine große Bitte, Dionys. Ich habe einen Herzenswunsch. Ich möchte beim Krugwirt noch einmal auf den Boden klettern, wo wir damals den Storch fangen wollten, um ihm ein Halsband umzulegen. Komm mit, ich bitte dich.«

Die Schwestern lachten. »Maxe, das ist ganz verdreht,« sagte Beate. »Außerdem können wir den Kommerzienrat nicht warten lassen.«

»Es dauert nur zehn Minuten, Beate.«

Elfriede schüttelte den Kopf. »Aber um Himmelswillen, was willst du denn auf dem Boden?!« rief sie.

»Es soll der Abschied von meiner Kindheit sein,« versetzte Maxe mit einer gewissen Feierlichkeit. »Aber Ihr versteht mich ja doch nicht.«

»Nein,« entgegnete Beate unwirsch, »das verstehen wir wirklich nicht. Es ist auch mehr kindisch als kindlich. Man klettert keinem Storch nach.«

Nun fühlte sie das Drollige dieser letzten Wendung und lachte wieder. »Mach' was du willst, Kleine, aber beeile dich, denn unsre Automobile warten.«

»Komm!« rief Maxe abermals, in einem so glücklichen Tone, als sei ihr etwas unermeßlich Schönes erlaubt worden, und nahm Dionys bei der Hand. Der zögerte noch einen Augenblick, nickte den beiden älteren Schwestern achselzuckend zu, als wollte er sagen: Was soll ich anderes machen?, und trabte dann mit Maxe quer über den Platz. Sie liefen wie ein paar Kinder, in kurzen Schritten und schlugen mit den Füßen hinten aus und unterbrachen ihren Trab zuweilen durch einen ausgelassenen Luftsprung. Erst an der Schmiede fielen sie in vernünftigere Gangart; da stand ein Bauer und ließ sein Pferd beschlagen. Den Schmied mit seinem braunroten, verwitterten Gesicht und den weißen Zoddeln am Kinn kannten sie noch von früher her und sagten ihm guten Tag. Aber er entsann sich nur des jungen Krempel und hatte für das schöne Fräulein nichts als eine verwunderte Augenstarre, bis Dionys ihm erzählte, wer das sei. Da schoben sich auf einmal alle Falten in dem närrischen alten Gesicht durcheinander und die wie vom Feuer gedörrten Lippen verzogen sich zu fröhlichem Grinsen. »Aber nee, so was,« sagte er, wischte seine große Tatze an der, Hose ab und nahm vorsichtig Maxes Hand, »unse Frölen – aber nee, so was...«

Er rief Muttern herbei und August, den Sohn, und auch den Großvater, ein uraltes, zwerghaftes Geschöpf, gekrümmt, gebückt und verbogen unter der Arbeit eines allzu langen Lebens, und alle sollten das Frölen sehen, und es nahm des Staunens kein Ende, daß das wilde Kind von früher nun groß, hübsch und fein geworden war. »Aber nee, so was,« sagte ein jeder: es war eine geläufige Phrase m Zochin. So sagte auch Pittelko, der Krugwirt, ein Mann, dürr wie eine Bohnenstange, mit ganz fahlem Gesicht und einer seltsamen Kartoffelnase, und auch er rief seine watschelnde Alte herbei und schenkte dann, um den Besuch zu ehren, einen süßen Rosenlikör in unförmliche Schnapsgläser. Er war arg verwundert, daß die beiden auf den Boden wollten, wie sie erklärten, um durch die Luke die Aussicht zu bewundern, hatte aber für sein Teil nichts dawider (und auch Mutter nicht) und gab den Schlüssel.

Nun klommen Maxe und der dionysische Krempel eine schmale Holztreppe empor, öffneten nicht ohne Mühe ein riesiges Hängeschloß und stießen die Falltüre auf, die zum Boden führte.

»Da wären wir,« sagte Krempel. »Maxe, dein Wunsch ist erfüllt. Aber in Respekt und Ehrfurcht: klar ist er auch mir nicht. Was willst du eigentlich in diesem Rattenloch?«

»Es war so eine Idee,« entgegnete das Mädchen. »Meinetwegen eine Laune. Herrgott, Krempel, wenn auch du mich nicht verstehst ... Weißt du nicht, was eine plötzliche Sehnsucht ist? Wir hatten von dem Papa gesprochen, und da kroch mein Ich auf einmal in seine Kindheit zurück. Hier in Zochin tappsen wir ja auf Schritt und Tritt in unsrer Kindheit herum. Die Sache liegt doch so einfach. Ich sah das schiefe Krugdach und das Wagenrad mit dem Storchnest auf dem First – und es lüstete mich nach der alten Märchenspur ... Das ist kein Rattenloch in meinen Augen. Das war unser Feenreich. Hier hörte die Wirklichkeit auf, und die Phantasie begann. Krempel, denk' doch ein bissel zurück! Unter der großen Luke haben wir nebeneinander gehockt, und du hast mir die Geschichte vom Zwerg Nase vorgelesen. Und was konntest du schön erzählen! Von Ali Baba und den Räubern und Aladins Wunderlampe und von dem Jungen, der das Fürchten lernen wollte. Wie kam da das köstliche Grauen – hurrjeh, und in allen Ecken regte sich Ungewisses und jeder Schatten nahm Gestaltung an! Auch ein Mäuschen huschte wohl mal vorüber, aber das war eine verzauberte Prinzessin und trug eine kleine Krone auf dem Kopf. Ach Gott, Krempel, dies Rattenloch ist ein Buch der Erinnerung und steckt so voller Poesie! ...«

Krempel stand still vor ihr und sah ein goldenes Glanzlicht in ihrem Auge und einen Ausdruck, der wie eine Rückdatierung des Lebens war. Gewiß ankerte sich in der Erinnerung ein Bild der Kindheit fest, die mit buntem Märchenspiel erfüllt war und dem Gleiß glücklicher Illusionen. Aber es kam noch etwas dazu, das zu einem Weiterwerden der Erinnerung wurde und auf eine Höhe freier Stimmung führte: der stürmende Flug einer jungen Dichterseele, die alles sichtbar Gewesene in Symbole und Ahnungen umschuf, und eine Sehnsucht aus der Enge des Endlichen in das Grenzenlose der Phantasie.

Das war die kleine Maxe, wie er sie kannte: mit den Träumeraugen, in denen auch der Schalk springen konnte, und dem heißen Herzchen voll unbewußt poetischer Impulse.

»Du hast recht,« sagte er, »ja, Maxerle, du hast tausendmal recht. Laß nur die Schwestern lachen! Wenn du auf den Boden kletterst, steigst du den Sternen entgegen, und an jedem Spinngewebe, das dein Arm streift, hängt Märchenduft. Und du bist du und sollst es bleiben.«

Er küßte sie, und sie ließ es sich ruhig gefallen. Sie errötete nicht einmal unter diesem Kusse, der ihr als etwas Natürliches erschien, ob es auch der erste war, den Dionys ihr gab. Ihr Blick vertiefte sich, ein wenig und stieg wie nach innen. Es war ein rasches Verdunkeln, aber ebenso rasch kam der Sonnenschein wieder und breitete in der Iris sich aus. Sie lachte.

»Was sind wir für komische Menschen!« rief sie. »Du, Krempel, und ich. Suchen wir hier nicht nach Verlorenem? Sind wir nicht Kinder?«

»Gut, daß wir's noch sein können,« antwortete er. »Nach Verlorenem? Nein. Wir haben in uns, was wir finden wollen. Aber etwas andres entscheidet. Wir haben keine Zeit. Hörst du den dumpfen Ruf vom Schlosse herüber? Das Geheul eines Fabelwesens. Schade, daß es nicht in unsre Traumwelt paßt. Die Hupe gibt uns ihr Zeichen. Die Wirklichkeit ruft: Herr von Emmingen.«

»Warum grade der?«

»Ich fühle es so. Ich höre ganz deutlich seine Stimme. Es ist die Stimme der Gegenwart und einer verfluchten Nüchternheit. Der Brunftschrei des Aktivismus, verstehst du.«

»Eins von deinen Fremdworten. Dann pflegst du ernsthaft zu werden. Du kannst den Mann nicht leiden. Weißt du, was ich glaube?...« Sie hatte die Hände auf den Rücken gelegt, stand dicht vor ihm und hielt den Kopf erhoben. In dem Halblicht dieser Bodenkammer sah er das neckische Glitzern ihrer Augen. Spöttischer Übermut züngelte um ihre Mundwinkel.

»Was glaubst du?«

»Daß du eifersüchtig bist, Dionysos. Die berühmte Natter knabbert an deinem Herzen.«

»Bah,« machte er. Es sollte nebensächlich klingen, aber der Ausruf stand im Widerspruch zum Tonfall. Das fühlte er selbst und fuhr achselzuckend fort: »Eifersüchtig? Ich weiß wirklich nicht ... Vielleicht. Jedenfalls ärgert mich der Herr ›Von‹.«

»Bloß, weil er ›von‹ ist?« »Ach wo. So albern bin ich nicht. Aber weil das ›Von‹ ihn noch mehr couragiert. Er meint, daß du ihm sicher seist. Er hält dich am Bändel, Maxe; er steckt voller Raffinement und wickelt dich ein. Und eh' du dich versiehst, bist du seine Braut.«

»So? Und das weißt du ganz genau?«

»Es liegt im Empfinden. Der Mann hat ja alles, was, locken kann: Namen, Stellung, Mammon, auch einen viven Geist. Ohne Schulung, voll Zerfahrenheit, einen Geist wie ein Blinkfeuer. Aber das ist ein Reiz mehr für euch naive Gemüter. Das Aphoristische zieht euch hinan: das Schwelgen in subjektiven Stimmungen, in ironischer Dekadenz – so das ganze Weltmannsgebaren ... Maxe, sei vorsichtig. Laß dich nicht überrumpeln. Er wartet nur darauf.«

Sie nickte. »Sehr schönen Dank. Er kann lange warten. Aber er wartet gar nicht. Er spielt mit dem Feuer, nur verbrennt er sich nie. Dazu ist er zu schlau. Du mißverkennst ihn – und mich erst recht. Das eine ist mir wurscht, das andre ärgert mich wütend. Wozu diese lange Predigt?«

»Weil –« sagte et und stockte. Draußen am Himmel mochte das Abendrot stehen. Durch die offene Luke quoll ein rosiger Glanz und umschmeichelte das Gesicht Maxes. Sie schaute wieder in einer Haltung kecker Neugier zu ihm auf, aber auch in willfähriger Erwartung. Eine lyrisch-sentimentale Regung überschlich ihn und stimmte ihn sehr weich. Es war gut, daß sich das Signal der Hupe von neuem hören ließ. Da fuhr er rasch fort: »Weil ich deine Unerfahrenheit schützen möchte, Maxe. Weil ich Angst habe. Weil ich dich liebe ...« Er zuckte zusammen und stand blaß da im Rosenlicht des Abends. »Warum soll ich das nicht sagen? Ich sage es ganz ruhig – ich weiß ja doch, daß wir uns nie gehören werden. Ich sage es ganz ruhig. Ich liebe dich seit unsrer Kinderzeit – das ist nur natürlich, es konnte gar nicht anders kommen. Ich bin auch eifersüchtig – aber kein kalter Egoist. Nein, das bin ich nicht. Ich möchte ...« er stockte wieder und seine Sprache wurde stammelnder, »möchte alles Glück der Welt – das möchte ich mit vollen Händen um dich aufhäufen. Aber der Mann, der Emmingen – dieser Mann wäre kein Glück für dich. Ihm fehlt die ausgleichende Ruhe, die frohe Grundstimmung. Er lebt unter beständiger Anfeuerung seiner selbst. Er steckt immer voller Konflikte. Sein ganzes Wesen ist Skepsis, Er ist nichts für dich – glaub' es mir. Nimm ihn nicht, Maxe ...«

Während er so sprach, hielt er mit seinen Händen die Arme Maxes umfaßt: mit einer zärtlichen Scheu, die mehr Hoffen als Wagen war, und auch in seinem Blick sprach eine ängstliche Unsicherheit des Wollens sich aus. Das fühlte sie wohl; sie spürte mit dem feinen Instinkt der Unberührtheit den tiefen Respekt, der seine Leidenschaft zügelt, und eine seltsame Verwirrung bemächtigte sich ihrer: ein Ahnen und Begreifen, eine Ausdehnung ihres Wesens, auch das Aufgehen einer neuen Welt der Empfindungen und endlich eine sanfte Rührung, die ihre Augen feucht werden ließ.

Aber der schreckliche Ruf der Hupe wollte nicht enden, und diesmal erklang es ganz nahe: die Automobile mußten schon vom Schlosse fortgefahren und in der Dorfstraße sein. Dionys ließ die Arme sinken; sein Gesicht wurde leer.

»Komm,« sagte er, »sie holen uns.«

»Ja,« entgegnete Maxe, »wir wollen gehen ... aber vorher will ich dir noch antworten – ganz rasch ... Du bist mir der liebste Freund, und ich danke dir für deinen guten Rat. Ich danke dir von ganzem Herzen. ... Freilich – es liegt ja alles anders, als du meinst. Der Emmingen – ach, er denkt nicht daran, um mich zu werben! Denkt nicht daran, Dionys – der redet nur und – und ... Trotzdem, das schwöre ich dir, wenn er Ernst machen sollte, weise ich ihn ab. Ja, das schwöre ich dir ... und nun gib mir noch einen Kuß, du lieber Mensch – einen Kuß in Freundschaft ...«

Ein eigentümlich vages Lächeln huschte um ihren Mund, als sie ihm ihre Lippen bot. Er küßte sie zum zweiten Male: einen Kuß in Freundschaft. Aber dabei wußten beide, daß sie ihre Gefühle mit Absicht verfälschten.

Nun wurden unten im Flur Stimmen lebendig. Beate rief: »Tugendreich, wo steckst du nur?!« ... Dann rief Elfriede: »Sohn der Semele, Dionys, dithyrambischer Knabe – ahoi!« ... Und schließlich Herr von Emmingen: »Fräulein Maxe, gnädigstes Fräulein, wir harren Ihrer mit Ungeduld!«

»Sind schon da!« rief Maxe lustig zurück. »Herrschaften, bleibt unten – die Treppe ist eine gefährliche Passage!«

Sie hob ein wenig ihren Rock und kletterte hinab. Krempel folgte und übte sich im Komödienspiel: er zeigte wieder sein fröhliches Jungengesicht.

Man überschüttete sie mit heiteren Vorwürfen. Nur der Blick Emmingens schien tiefer dringen zu wollen: er streifte Maxe in forschendem Zünden und wie die Frage eines unbarmherzigen Inquisitors. Da wandte sie sich rasch ab, denn sie fühlte, daß ihr das Blut in die Wangen schoß und zu törichtem Verräter zu werden drohte.

Draußen vor der Krugwirtschaft hielten die Automobile des Kommerzienrats. Brökelmann hatte eine Karte in den Händen und verhandelte mit seinem Chauffeur, indes sich die Dorfkinder um die leise schnaufenden Wagen zu sammeln begannen. Im Schwielow verglomm der Widerschein des Abendrots. Um die Waldhöhen strich grauer Nebel; es war frisch geworden.

Herr von Emmingen hing Maxe den Mantel über die Schultern.

»Also wie war's?« fragte er. »Hat sich die Expedition gelohnt? – Es ist nicht immer gut, den Spuren der Erinnerung nachzugehen. Die Gegenwart spottet zuweilen der Vergangenheit, und alle Hoffnung auf ein stilles Erneuern wird zu radikaler Verneinung. Ich leugne gar nicht den Reiz rückschauender Empfindsamkeit. Aber es muß unbewußtes Gefühl dabei sein; wer ihn sucht, wird leicht auf Leere stoßen, wo er Bewegung von innen heraus finden wollte ...«

Er ließ wieder sein Blinkfeuer leuchten, während er Maxe zum Wagen führte. Sie nickte stumm, ohne zu antworten. Sie hörte kaum auf ihn: eine müde Lässigkeit spann sich um ihr Hirn. Es war ihr sogar, als verschleire sich etwas im Anblick der Dinge: als breite der Nebel sich aus und verwische alle Konturen. Die lebendigen Wirkungen schienen versagen zu wollen, das Unmittelbare schwand: sie war wie in einem Traume. Sie fühlte wohl, daß sie neben Elfriede im Wagen saß und Emmingen und Krempel gegenüber hatte; sie hörte auch sprechen, aber es waren Töne, die klanglos aus weiter Ferne kommen konnten. Und dann heulten abermals die Hupen los, und der dumpfe Schrei riß an ihren Nerven. Sie zwinkerte mit den Augen wie bei plötzlichem Erwachen und hörte nun deutlich die Stimme Elfriedes.

»War's noch der Storch von damals?« hatte Elfriede lachend gefragt.

Die Göchhusens saßen am folgenden Morgen beim Frühstück auf dem Balkon: Frau Magda im Schlafrock, denn sie liebte die Bequemlichkeit, Maxe und Beate schon im Tageskostüm; Elfriede, die soeben erschien, hatte ihre Jacke über dem Arm und warf sie auf einen Stuhl.

»Elfriede,« sagte die Mama, »du hast noch Zeit. Rendezvous um elf Uhr in der Vorhalle des Wannseebahnhofs. Es geht nach Nicolassee und nicht nach Wusterhausen.«

»Woher weißt du das?«

»Weil Hartwig eben seinen Burschen mit der Bestellung geschickt hat. Außerdem mit einem großen Fliederstrauß. Aber der Bursche hat nicht gemeldet, ob der Flieder für dich oder für mich ist.«

Elfriede nahm Platz, und Maxe schenkte ihr Tee ein.

»Er wird für dich sein, Mama, aber ein bissel Duft kannst du mir abgeben. Also nach Nicolassee. Wieder mal Wasser- und Wolkenstudien. Birken werden auch dabei sein. Und erst um elf Uhr?«

»Ja, um elf Uhr. Du mußt dir Frühstück mitnehmen. Sag' mal, seit wann malt denn Herr von Hartwig bei Birkenmüller?«

»Oh, schon seit Ewigkeiten.«

»Und hat Talent?«

»Für den Hausgebrauch. Aber kritisches Verständnis und eine helle Passion für die Farben. Maxe, du bist blaß. Warum?«

Die Jüngste schrak leicht zusammen, und nun erblaßte sie wirklich.

»Dumme Frage. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht habe ich einen schweren Traum gehabt oder zuviel Wachtelpastete gefuttert. Des Traums erinnre ich mich nicht mehr, aber der Pastete mit Freude ...«

Man sprach von gestern, und Beate fand wieder Worte lobender Anerkennung für den Kommerzienrat. Das war auch schon gleich nach der Rückkehr von Zochin der Fall gewesen: da hatte sie förmlich geschwärmt für ihn.

»Ihr macht mich ordentlich neugierig auf den Mann,« sagte Frau von Göchhusen. »Ist er denn präsentabel?«

»Aber, Mama!« rief Beate. »Du wirst dich wundern, wenn du ihn kennengelernt hast. Wir müssen ihn dann mal einladen.«

»Versteht sich. Auch Hartwig,«

»Und den Superintendenten Warmuth,« fügte Maxe hinzu. »Der hat schon vor vierzehn Tagen seine Karte abgegeben.«

Frau Magda nickte. »Na ja. Merkwürdig, wie sich auf einmal die Menschen finden. Bloß...« sie stippte einen Zwieback in den Tee und ließ den Nachsatz fort.

»Bloß?« wiederholte Beate fragend.

»Ach – nichts,« entgegnete die Mama zerstreut. »Mir war da was eingefallen. ... Gleichgültiges. Ja, eine Gesellschaft werden wir wohl noch geben müssen. Vielleicht ein Gartenfest ... Vegesack!« rief sie dem die Wege harkenden Portier zu, »wie ist denn das mit den jungen Rosen? Ist keine erfroren?«

Der riesige Oberkörper Vegesacks wurde jenseits der Ballonbalustrade sichtbar, im gleichen Augenblick, da Genander erschien und ein paar Briefe auf den Frühstückstisch legte.

»Alles in Ordnung, gnädige Frau,« antwortete Vegesack. »Keine erfroren, auch kein Bohrwurm nicht. Die Pimpinellen bilden schon so eine kleine Hecke, aber die Eglantine werden wir im Herbst doch an ein Spalier bringen müssen. Die möchte gerne klettern.«

»Die Post, gnädige Frau,« sagte Genander, auf die Briefe tippend, und fuhr dann fort: »Es ist noch ein Rest Kalbskeule von gestern da, gnädige Frau – das gäbe ein ganz schönes Ragout für heute mittag. Vielleicht mit Prinzeßkartoffeln. Und was für ein Gemüse?«

Frau von Göchhusen antwortete nicht. Ihr Blick war auf die Adresse des obenauf liegenden Briefes gefallen, und plötzlich wurde sie kalkfarben im Gesicht.

»Vielleicht Artischocken?« fragte Genander. »Die haben wir lange nicht gehabt.«

Magda erhob sich und nahm die Briefe an sich. »Gut, Genander,« entgegnete sie, »Artischocken. Oder was Sie sonst wollen. ... Kinder, besprecht mit Genander das Mittagessen. Ich habe einen wichtigen Brief bekommen, den ich in Ruhe lesen möchte.«

Sie ging. Das Menü wurde schnell entworfen, dann zog sich auch Genander wieder in seine Küche zurück.

»Was war mit der Mama?« fragte Maxe ängstlich. »Saht ihr nicht, daß sie totenblaß wurde?«

»Freilich,« erwiderte Beate, »und ich weiß auch weshalb. Ich habe die Handschrift auf dem Briefe erkannt, der sie so erschreckt hat. Er kommt von Papa ...«

So war es, und nun saß Frau von Göchhusen im einsamsten der Zimmer neben dem alten Papagei, der mit zusammengekniffenen Augen lethargisch auf seiner Stange hockte, und las diesen Brief. Zuerst jagte ihr Blick über die Zeilen, aber sie wurde bald ruhiger und begann noch einmal von vorn:

»Pallanza, Villa Esperenza.

3. Mai.

Liebe Magda;

ich hatte zuversichtlich gehofft, nach meiner Rückkehr aus Mexiko ein paar Worte von Dir vorzufinden. Aber es waren überhaupt keine Briefe da; die eselhafte Post hat es vorgezogen, alle Eingänge für mich während meiner Abwesenheit zurückzuschicken, und nun weiß ich nicht einmal, ob Du meine flüchtigen Zeilen mit der Nachricht vom Tode Wandas erhalten hast. Das letzte Jahr war ein bitterschweres für sie; ich will Dir nicht schildern, wie diese schöne Menschlichkeit immer mehr verfiel und wie die Auflösung schon da war, während ihr Auge noch immer nach der Sonne suchte. Gut, daß die endliche Erlösung schmerzlos war.

Zur Erledigung der Erbschaftsfragen mußte ich persönlich nach Mexiko. Es war kein Vergnügen. Die Erbschaft ist unanfechtbar, da Wanda einzige Tochter war. Aber es gibt noch Vettern und Tanten des Namens Espinosa del Mercado, und die fielen allesamt wie die Schmeißfliegen über mich her, und einer, ein fettgemästeter, mit allen Hunden gehetzter Abgeordneter, strengte sogar einen Prozeß gegen mich an, weil er behauptete, ein Drittel der Hinterlassenschaft fiele zufolge unsrer Kinderlosigkeit an die Familie zurück. Der Prozeß hätte zehn Jahre dauern können, und da zog ich es denn vor, dem dicken Vetter mit einigen tausend Pesos den großen Mund zu stopfen. Mit ähnlichen Manövern operierte ich auch in der sonstigen Verwandtschaft, setzte ein Dutzend Advokaten in Nahrung, kargte nicht mit Bestechungsgeldern, und so gelang es mir denn allgemach, wenigstens den größten Teil der Liegenschaften zu kapitalisieren. Für die Minen bei Queretaro mit ihren reichen Einkünften habe ich einen außerordentlich tüchtigen Deutschen als Direktor gewonnen. Das Unternehmen soll in eine Aktiengesellschaft verwandelt werden, so daß ich mich langsam davon zurückziehen kann.

Ich erzähle Dir dies alles, weil nun abermals ein Umschwung in unsern materiellen Verhältnissen eingetreten ist, über den ich mit Dir notgedrungen verhandeln muß. Du brauchst darüber nicht zu erschrecken, denn es versteht sich von selbst, daß ich auf einer persönlichen Zusammenkunft nicht bestehen würde, wenn dies Deinem Empfinden widersprechen sollte. Unsre Mädel sind ja nun erwachsen und hoffentlich auch verständig genug geworden, um mit ihnen einmal etwas andres besprechen zu können als den nächsten Ball, die neueste Toilette oder den Wintersport in St. Moritz. Du kannst eine von ihnen also als Vertreterin wählen.

Und damit, liebe Magda, komme ich auch zu einer großen Bitte; Bitte sage ich, denn ich möchte geflissentlich vermeiden, mich auf den Boden gesetzlichen Verlangens zu stellen. Du kannst Dir denken, daß es nunmehr um mich völlig einsam geworden ist. Das ist ein Schicksal, das ich mir selber geschaffen habe, aber ich besitze nicht mehr den stolzen Übermut von einst, um es ohne die Gefahr, in klägliche Mißmut zu verfallen, ertragen zu können. Die letzten Jahre haben mich alt werden lassen: nicht nur äußerlich – das grau gewordene Haar und die Faltenknitterung lassen sich schließlich noch ertragen. Schlimmer ist, daß das Vertrauen auf die innere Kraft nachgelassen und die Schätzung des Ich sich bedenklich verringert hat. Kurzum, ich habe Sehnsucht nach unsern Kindern. Nach unserm Vertrage habe ich Anrecht auf Maxe; aber falls Du grade sie nicht entbehren möchtest, bin ich ebenso zufrieden, wenn Du mir Beate oder Elfriede überläßt. Mißverstehe den Ausdruck ›überlassen‹ nicht. Ich nehme Dir keins Deiner Mutterrechte, und würde keins der Kinder zwingen, bei mir auszuhalten, wenn ein unwiderstehliches Widerstreben käme. Aber ich bin gewiß, es kommt nicht, denn feindseliger gegen den Typus Menschen hat mich das Alter nicht gemacht, und zumal die eigene Brut wird mit mir zufrieden sein. Das beste dünkt mich, Du befragst einfach die Mädel, wer von ihnen sich für unbestimmte Zeit dem Vater widmen will: jede ist mir gleich willkommen. Ich bleibe vorläufig in Pallanza und will erst weitere Entschlüsse fassen, wenn ich jemand bei mir habe, der mir raten und helfen kann. Denn ich bin mit meinen Plänen und Absichten etwas ins Unsichere geraten, seitdem die Fäden gerissen sind, denen ich bis dahin folgte.

Benachrichtige mich gütigst auch über Dein und der Kinder Wohlergehen und sei bestens gegrüßt in alter Freundschaft

von Deinem ergebensten

Erich Göchhusen.« Als Frau Magda diesen Brief zu Ende gelesen hatte, ließ sie ihn mitsamt ihren Händen langsam in den Schoß sinken und starrte auf das blanke Messing des Papageikäfigs und auf das struppige Untier, das noch immer hinter den Stäben in stummer Bewegungslosigkeit hockte. Der Brief war nach Form und Fassung genau so wie alle andern Briefe, die Göchhusen ihr nach ihrer Scheidung geschrieben hatte: höflich, freundschaftlich, sogar mit einer gewissen, zärtlichen Unterströmung. Es lag nun einmal in der Natur dieses liebenswürdigen Egoisten, daß er alles abzuwehren sich mühte, was in die Ethik seiner Lebensphilosophie störend eingreifen konnte: er war ein Feind jeder Rauheit. Und deshalb hatte er auch jahrelang nie den Wunsch geäußert, eines seiner Kinder zu sehen. Es war ganz gewiß nicht Mangel an Liebe dabei im Spiel gewesen, sondern nur die Sorge, daß durch das Dazwischentreten einer Dritten, die auch Anteil an seinem Herzen haben wollte, eine Verschiebung in dem glücklichen Verhältnis zu seiner Frau und die Möglichkeit eines ihm unbequemen Kampfes eintreten könnte.

Nun aber war er wieder frei, und da verlangte ihn nach seinem guten Recht. Die Scheidung war nach der Form des »böswilligen Verlassens« seitens des Ehemanns geregelt worden. Über die Kinder hatte das Gericht überhaupt nicht befunden; es lag da nur eine freiwillige notarielle Abmachung vor, laut der die beiden ältesten Mädchen der Mutter, das jüngste dem Vater gehören sollte. Herr von Göchhusen hatte in der ganzen Scheidungsangelegenheit eine so große Vornehmheit gezeigt, daß auch Frau Magda es für recht und billig fand, ihm entgegenzukommen. Und auch jetzt wieder standen materielle Gesichtspunkte in Frage, die nicht übersehen werden durften. Magda dachte praktisch und zielbewußt. Das große Vermögen Göchhusens mußte einmal seinen Töchtern zufallen; aber es stand noch lange nicht fest, daß sie seine einzigen Kinder bleiben würden: er konnte sich auch noch, zum drittenmal verehelichen. ›Ich kenne ihn,‹ sagte sie sich, ›und auch das mit dem plötzlichen Altfühlen kenne ich bei ihm. Das ist ein Zustand, der schon in jüngeren Jahren bei ihm eintrat – wenn er einen moralischen Kater hatte oder wenn er sich langweilte. Es ist klar, daß der Zustand auch diesmal nicht lange anhalten wird. Er wird nach neuen freudigen Emotionen suchen, wird in seine alten Dummheiten verfallen: wird sich wieder verlieben. Er ist mir nicht sicher. Und dem will ich vorbauen. Er muß das Erbteil der Kinder festlegen. Am besten wäre es, die Beate ginge zu ihm. Aber wer es auch sei: ich werde meine Vertreterin gehörig instruieren ...‹

Sie war jetzt ruhig und seelenklar und konnte bei dem Gedanken lächeln, daß er eine persönliche Zusammenkunft mit ihr überhaupt in den Bereich der Möglichkeit gezogen hatte. Nein, wahrhaftig: dafür dankte sie. Sie hatte endlich ihren Herzensfrieden wiedergefunden, und den wollte sie sich von dem ruhelosen Menschen nicht rauben lassen. Mochte eine der Töchter bei ihm aushalten, solange das angängig war. Sie sah ja kommen, wie es beginnen und wie es enden würde. Zuerst würde er glückselig sein und das Mädel mit gänzlich unnützen Geschenken überhäufen; und dann würde sie ihm irgendwo – ja, sicher, irgendwo unbequem werden: eine helläugige Beobachterin bei seinem Verlangen nach Verjüngung und nach Überwindung der Krisis des »Altfühlens« – und endlich würde er sie wieder zurückschicken. –

Die drei Mädchen saßen noch auf dem Balkon, als die Mutter mit ruhig heiterem Gesicht unter ihnen erschien und den Brief auf den Tisch legte.

»Euer Vater hat geschrieben,« sagte sie; »er wünscht eine von euch bei sich zu haben. Ich kann das verstehen. Lest den Brief und besprecht euch untereinander. So, wie die Sache liegt, muß ich mich fügen. Ich überlasse euch aber, zu entscheiden, wer zu ihm will.«

Sie ging zu Genander in die Küche und ließ die Mädchen in großer Aufregung zurück. Drei Hände streckten sich gleichzeitig nach, dem Briefe aus; dann rief Beate: »Halt! Halt, Schwestern – das ist ein Dokument von Wichtigkeit. Papa verlangt nach uns. Damit könnte ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Kommt in meine Stube; da wollen wir überlegen.«

Beate hatte das Vorrecht der Ältesten. Man gehorchte ihr und setzte sich in ihrem Zimmer unter die Büste Gutenbergs. Dann riegelte Beate die Tür ab, um jede Störung zu vermeiden, und begann den Brief vorzulesen.

Die beiden andern hörten aufmerksam zu. Nur Elfriede wußte etwas vom Tode Wandas; aber der ihr dies gesagt und ihr unendlich viel von ihrem Vater erzählt, hatte im Vertrauen gesprochen. Das ehrte sie, und sie ließ sich nichts merken. Maxes Augen begannen zu tropfen, als die Stelle von dem »Altgeworden« kam; da rührte das Mitleid an ihrem Herzen. Als Beate geendet hatte, saßen alle drei wie stumm eine geraume Weile unter der Büste Gutensbergs; jede trug sich mit ihren eigenen Gedanken, aber der Gedankenkreis war dennoch ein zusammenhängender. Endlich sagte Beate:

»Wir müssen unsre Pflicht tun. Der Papa hat uns freigelassen, wer von uns zu ihm will. Sollen wir dem Zufall die Entscheidung geben? Wir könnten darum würfeln.«

»Es sind gar keine Würfel im Hause,« entgegnete Maxe ernst.

Beate riß von einer Zeitung einen Streifen des Randes ab, teilte ihn in drei Stücke und barg sie in der Hand, so daß nur die Enden des Papiers zwischen den Fingern hervorlugten.

»Zieht!« sagte sie. »Der kürzeste Streifen, soll das Los bedeuten.«

Aber Elfriede schüttelte den Kopf. »Dagegen wehre ich mich,« entgegnete sie kühl. »Ich erkläre rund heraus: ich will nicht zum Papa. Ich besitze nicht Resignation genug, mein eben erst neubegonnenes Studium aufzugeben, um dafür etwas Zweifelhaftes einzutauschen.«

Die Entschiedentheit des Tons ärgerte Beate. »Sage lieber,« erwiderte sie schroff, »du besitzest nicht Selbstzucht genug, die Trennung von Herrn von Hartwig aushalten zu können.«

»Ich verbitte mir solche Anspielungen!« fuhr Elfriede auf und wurde ganz weiß im Gesicht.

»Um Gotteswillen!« rief Maxe, »was zankt Ihr euch denn – was ist denn los?! Was ist ...« Sie starrte Elfriede an, die noch so weiß war wie vorher und über deren Nasenwurzel das Fältchen des Dräuens stand.

»Nichts,« sagte Beate einlenkend, »ich hab's nicht böse gemeint. ... Friedel, sei nicht albern. Es war ja nur ein Scherz, ein –«

Aber sie verstummte, denn plötzlich warf sich Elfriede auf das Bett, preßte den Kopf in die Kissen und begann ungestüm zu schluchzen.

Die Schwestern standen fassungslos. Die Augen Maxes rundeten sich groß und huschten in zagem Fragen zu Beate hinüber. »Ati, erklär' mir doch,« begann sie leise, und Beate fiel achselzuckend ein:

»Da ist nicht viel zu erklären. Sie ist verliebt.«

Die Mundwinkel Maxes stiegen tiefer. »In – in Hartwig?« stammelte sie.

»Ja!« schrie Elfriede. Sie sprang auf, die Wangen tränengenäßt und mit zuckenden Lippen, aber trotzige Selbstgewißheit im Ton. »In ihn! Da habt Ihr mein Bekenntnis. Und nun geht hin und verklatscht mich!«

Maxe hatte sich mit einem Ruck auf den Puff neben dem Bette gesetzt. Es war ihr, als hätte man den Boden unter ihren Füßen fortgezogen. Die Plötzlichkeit dieser widerspruchsvollen Erkenntnis beeinträchtigte ihr Vorstellungsvermögen. Sie war in kläglicher Verwirrung und konnte nur halblaut mit dünner Stimme stottern:

»Aber ich denke – ich denke... der Herr von Hartwig, denk' ich, war doch für die Mama bestimmt ...«

Beate schritt auf und nieder. Seit gestern ahnte ihr, daß zwischen dem Major und Elfriede ein Einverständnis bestand, ein heimliches Verstehen – vielleicht noch keine gegenseitige Regelung des Fühlens, aber doch eine Sicherheit. Es tat ihr aufrichtig leid, daß sie vorhin schroff gewesen war: die positive Wirkung bereute sie nicht; sie mußte zur Klarheit führen.

Maxe saß noch immer geknickt und mit zweifelnd ängstlicher Miene auf dem Puff, während Elfriede neben ihr stand, äußerlich ruhiger geworden und mit dem Handrücken über die nassen Wangen wischend. Sie war über den Affekt des Augenblicks hinaus und bemühte sich sichtlich, ihre Stimmung zu meistern. Doch klang ihre Sprache eigentümlich rauh und gepreßt, als sie sagte:

»Für die Mama ... Nun ja: so hatten wir es uns gedacht ... Aber es ist anders gekommen ...«

Beate blieb vor ihr stehen und nahm ihre Hand. »Elfriede, es ist nun mal heraus. Durch meine und auch deine Schuld. Aber du kannst uns Vertrauen schenken. Unser Schwur bei Krempel soll mehr als eine bloße Kinderei gewesen sein. Bist du mit Hartwig schon einig?«

»Nein ... Ist denn das nötig?«

»Ich denke: ja!«

»Wir verstehen uns – das ist die Hauptsache.«

»Aber ist noch nichts Positives. Weißt du, ob er deine Neigung erwidert?«

»Ich fühle es.«

»Friedelchen, hör' zu. Wir müssen uns ernsthaft verständigen, um dir helfen zu können. Mit der Mama ist eine Veränderung vorgegangen. Ich weiß nicht, ob ihr das auch bemerkt habt. Mir jedenfalls ist es aufgefallen. Es ist wie eine Verjüngung. Wenn sie von Hartwig spricht, bekommt sie ein ganz anderes Gesicht. Wenn er sich anmelden läßt, verbirgt sie nicht einmal ihre Freude. ... Wenn sie –«

Sie stockte unwillkürlich. Wer Elfriede nahm den Satz auf. »Sprich nur ruhig aus,« sagte sie. »Wenn sie ihn nun auch lieben gelernt hat, meinst du – zum zweitenmal, so wolltest du sagen... nicht wahr? ... Dann werde ich die Jüngere bleiben, Beate, und meine Jugend wird siegen!«

»Um Gotteswillen,« stöhnte Maxe leise, »– die arme Mama!«

Aber da empörte sich in Elfriede das Weib, und ihr Auge wurde finster. »Bin ich nicht auch noch da, Maxe?« erwiderte sie. »Wer kann es mir verargen, wenn ich mein Glück festhalten will? Ich habe nicht Größe genug zu freiwilliger Entsagung. Auch das gemeinste Glücksverlangen hat seine Berechtigung. Die will ich mir nicht nehmen lassen. ... Im übrigen beruhigt euch: ihr spürt schon Tragik, ehe sie da ist. Hartwig hat nie die Absicht gehabt, um unsre Mutter zu werben. Dem Drama fehlt also die Entwicklung.«

Maxe stand auf. Sie hatte ihre Empfindsamkeit überwunden, sah aber immer noch Probleme, die der Auseinandersetzung bedurften.

»Du verschiebst die Sachlage,« sagte sie. »Nicht darum handelt es sich, ob Hartwig um die Mama anhält oder nicht, sondern darum, ob sie den Mann liebt. Und ist dies der Fall, so ist natürlich auch das Unglück da ...« Jetzt schlug ihre Stimmung wieder um, und neue Eindrücke kamen ... »O Gottegott,« klagte sie, »warum sind wir nur auf die dumme Idee verfallen, unsre Mama verheiraten zu wollen!«

»Papperlapapp,« warf Beate ein, »die Idee war ausgezeichnet und ist es noch. Es konnte kein Mensch voraussehen, daß Woldemar mit dem ›o‹ uns das Spiel verderben würde. Ich habe meinen Humor wiedergefunden und schlage vor, den tragischen Gesichtswinkel zu verlassen. Brökelmann muß in die Bresche treten. Bisher galt er nur als Aushilfe; jetzt schieben wir ihn in den Vordergrund.«

»Wir haben auch noch den Superintendenten,« sagte Maxe.

»Der ist bis dato überhaupt nicht in die Erscheinung getreten. Halten wir uns an das Vorhandene. Hartwig muß ausscheiden. Kannst du nicht dafür sorgen, daß er längere Zeit auf Urlaub geht, Elfriede?«

»Aber, Beate, wie soll ich das denn anfangen?! Und dann hätte ich doch gar nichts mehr von ihm ...« Sie erschrak und zog ihre Uhr ... »Ich muß gehen, wenn ich mit den andern noch rechtzeitig zusammentreffen will,« fuhr sie fort. Und nun flammte auf einmal ein strahlender Schein über ihr ganzes Gesicht, und aus ihren Augen brach helle Sonne. Sie packte die Hände Beates mit festem Griff und flüsterte ihr zu: »Du ahnst ja nicht, wie ich, mich immer auf diese Stunden des Beisammenseins freue! Und wenn wir auch gar nicht miteinander sprechen – wenn wir ganz ruhig vor unsern Staffeleien sitzen: die Gedanken des einen beschäftigen sich unausgesetzt mit dem andern ... es ist ein gemeinsames Leben – ein bewußtes Fühlen, daß er in mir ist und ich in ihm bin ... Ich bin so glücklich, Beate!« Sie umarmte stürmisch die Schwester und ging. Aber nur bis zur Tür. Da machte sie nochmals kehrt, als hätte sie etwas vergessen. Sie küßte nun auch Maxe und raunte ihr in das Ohr: »Du siehst, daß ich nicht fort kann. Geh du zum Papa ...« Dann eilte sie mit roten Wangen davon.

Beate seufzte leise auf. »Was nun?« sagte sie.

»Ich weiß nicht,« entgegnete Maxe, setzte sich wieder und faltete die Hände. »Ich bin ganz wirr im Kopfe.«

»Was hat dir Elfriede noch zugeflüstert?«

»Ach – nichts weiter, als daß ich zu Papa sollte.«

»Es ist auch das Gescheiteste. Du ersiehst aus seinem Briefe, daß er sowieso ein Anrecht an dich hat. Und du wirst dich bei ihm schon amüsieren. Du bist vergnügter veranlagt als ich, und wirst ihm die Trübsal vertreiben. Ich bin überzeugt, daß ihr euch ohne weiteres verstehen werdet. Und hier verlierst du ja nichts. Gottseidank, daß du nicht auch Liebesdummheiten im Kopfe hast!«

Aber sie hatte kaum ausgesprochen, als eine Spannung raschen Erstaunens in ihre Züge trat. Maxe begann erst leise zu schluchzen, und dann machte sie es genau so wie vorher Elfriede: Sie warf sich auf das Bett und drückte das Gesicht in die Kissen und weinte immer lauter. Es war wie eine gute Kopie der andern: wie ein geschicktes Nachspielen.

»Maxe!« rief Beate. »Maxe, was ist? Bist du vielleicht ... bist du vielleicht auch verliebt?!«

»Ja,« jammerte Maxe in dumpfen Tönen aus den Kissen heraus, »ich sag' es ganz ruhig ... ich bin es ... und nun geh zur Mama und verklatsche mich!«

Unbewußt flossen in ihr die Erinnerungen an die hübschen Bekenntnisworte Krempels und an das Geständnis Elfriedes durcheinander und mischten sich. Aber für die Gefühlswelt der Jüngsten hatte Beate kein Verständnis. Was fiel dieser Kleinen ein!? Sie behandelte Maxe gern noch als Kind. Sie nahm sie bei der Hand und half ihr empor.

»Heule nicht,« sagte sie. »Ich geh nicht zur Mama – aber wenn du so jaulst, kann sie von selber kommen, und dann haben wir die Bescherung ... Hast du kein Taschentuch da? Es ist merkwürdig, daß du nie ein Taschentuch bei dir hast. Hier hast du meins, und nun trockne deine Tränen und sei verständig.«

Maxe blieb auf dem Bettrand sitzen und schluchzte nur noch von Zeit zu Zeit. Beate aber fühlte sich jetzt ganz als die verantwortungsvollste Älteste; sie verschränkte die Arme über die Brust und sah Maxe mit strengen Augen an.

»Nun bitte, Maxe: ich will die Wahrheit wissen. In wen bist du verliebt? Doch nicht etwa auch in den Major mit dem ›o‹!«

»Nein,« antwortete Maxe unter heftigem Kopfschütteln, »in den nicht ... Was denkst du denn ... Sondern in – – ich sag's nicht! ...« Und abermals schluchzend, wiederholte sie: »Ich sag's nicht! Ich sag's nicht!«

Beate änderte ihre Taktik. Sie setzte sich neben Maxe und umschlang sie liebevoll. Auch ihre Stimme wurde zärtlicher.

»Sei keine Närrin, Kleine! Es ist bei Gott nicht Neugierde von mir, mich in deine Herzensgeheimnisse drängen zu wollen. Ich möchte dich nur vor Torheiten bewahren. Warum sagst du mir nicht, wer es ist? ... Wer kann es denn sein? Etwa Emmingen?«

»I Gott bewahre!« rief Maxe. »Der am allerwenigsten! Den würde ich nie nehmen! Den hasse ich!«

»Das ist verrückt,« entgegnete Beate, »das ist wieder verdreht. Ein so netter, feiner und wohlerzogener Mensch. Warum hassest du den denn auf einmal?«

»Das weiß ich nicht. Oder doch. Weil ... weil er ein Skeptiker ist. Und ewig voller Konflikte. Und ohne ruhige Grundstimmung – verstehst du?«

»Nein. Jedenfalls ist mir dies Urteil neu. Früher dachtest du anders. Seltsam, daß du auf einmal so ein herber Kritikus geworden bist. ... Also der nicht. Wer kann es sonst sein? Ich kenne doch den Reigen unsrer ...«

Sie stockte und sann nach. Und plötzlich hob sie den Kopf, sah Maxe scharf und prüfend an und sagte:

»Das ist doch unmöglich, daß ... Unsinn! Krempelius kann es nicht sein.«

»Doch,« schluchzte Maxe in seinen Kehlkopftönen, »grade der! Warum soll er es denn nicht sein?!«

Nun stand Beate stracks auf. Sie wollte losdonnern: so war ihr zumute. Sie konnte handfest werden, wenn sie es für nötig hielt; sie war die energischste unter den dreien. Aber die Klugheit legte ihr verständigen Zwang auf. Man brauchte Maxe nur in die Augen zu schauen, um zu wissen: dieser Liebeshandel war für sie noch zu keinem tiefgreifenden Erlebnis geworden.

So hielt Beate denn an sich, und die Herbigkeit ihrer Züge wandelte sich zu freundlichem Lächeln.

»Du hast recht,« entgegnete sie, »warum soll er es denn nicht sein? Es kann jeder sein; wir sind alle nicht wählerisch, wenn der Glücksdrang kommt ...« Sie streichelte Maxe die Wangen. »Seid ihr schon einig?« fragte sie.

Das fragte sie gleichsam nebenbei. Und Maxe in ihrer naiven Harmlosigkeit spürte auch nicht, daß es ein geschicktes Aushorchen war.

»Nein,« antwortete sie, »so mußt du es nicht auffassen ... Wie wir auf Pittelkos Boden waren – Herrgott, da sprachen wir von allerlei, und auf einmal auch von Emmingen – und das ist gewiß, Beate: der Dionys ist eifersüchtig auf ihn ... habe ich, dazu Anlaß gegeben? – Zu dumm, nicht wahr?«

»Zu dumm. Nun weiter.«

»Also da warnt mich der Krempel plötzlich vor Emmingen – und plötzlich, ebenso plötzlich, Beate, gesteht er mir seine Liebe ... Er hätte mich schon immer geliebt, aber er wüßte ja, daß wir uns doch nie angehören würden – er wollte es mir bloß sagen – in aller Freundschaft, sagte er .,.« und da ...«

»Und da – ?«

Maxe wurde sehr rot. »Haben wir uns auch einen Kuß gegeben,« ergänzte sie. Aber sie sagte dies nicht etwa kleinlaut und senkte weder den Kopf noch war sie verschüchtert. Sie war tapfer dabei und schaute Beate freimütig an.

Die Schwester nickte verständnisvoll. »Das ist nicht weiter gefährlich,« erwiderte sie. »War's nur einer?«

Maxe überlegte in fliegender Hast, ob sie lügen sollte. Doch siegte ihre Wahrheitsliebe. »Nein – zweie,« gab sie zu. »Aber der erste zählte nicht. Und auch der zweite – es war wirklich nur ein Freundschaftskuß. ... Trotzdem – siehst du, das ist es eben, das ist es – da fühlte ich ganz genau, daß ich ihn wiederliebe ... Ach Gott, Beate, kannst du denn das verstehen? Du hast doch noch nie geliebt!«

»So? – Du mußt es ja wissen. Aber bleiben wir bei der Sache. Du hast ihm auch gesagt, daß du ihn wiederliebst?«

»Auf Ehrenwort nicht!« rief Maxe. »Ich habe ihm nur gesagt, daß das mit Emmingen Blödsinn ist ... weiter kam ich gar nicht, weil ihr unten an der Treppe schon nach uns zu brüllen anfingt ...«

»Und das war recht gut,« versetzte Beate. »Ich will dir keine Vorwürfe machen, Maxe. Aber das muß ich dir doch wohl sagen: daß Krempel sich sein Geständnis sehr wohl hätte verkneifen können. Er ist klug genug gewesen, sich zu salvieren, und hat als Philologe sozusagen nur theoretisch gesprochen. Doch auch das war unnötig. Man soll einem jungen Mädel keine Mucken in den Kopf setzen.«

»Er hat nicht erst lange überlegt, was er sprach. Es war auch wahrhaftig kein Verbrechen.«

»Ganz gewiß nicht: aber eine Zwecklosigkeit. Denn er wußte ganz genau, daß die Mama nie die Zustimmung zu seiner Heirat mit dir geben würde.«

»Weil er arm ist,« sagte Maxe bitter. »Oder weil er Krempel heißt. Oder weil er bürgerlich ist.«

»Nein. Weil Mama dasselbe Gefühl haben wird wie ich: daß du deinem Wesen, deinem Charakter, deiner Veranlagung nach durchaus nicht zu ihm paßt. Natürlich wirst du das Gegenteil behaupten, und ich verdenke dir das auch gar nicht. Aber recht hast du trotzdem nicht. ... Verzeihe, daß ich das offen ausspreche: du schwankst noch gewaltig in deinen Empfindungen und läßt dich vom Augenblicke leiten. Du warst bisher eigentlich immer ein Verteidiger Emmingens. Unter dem Einflusse Krempels aber bildest du dir plötzlich ein, ihn zu hassen. Der gleiche Einfluß erweckt in dir auch die Vorstellung, daß du Dionys liebest. Möglich, daß das Gefühl ganz echt ist – ich zweifle sogar nicht daran. Ich zweifle nur, daß die Echtheit von Dauer sein wird. Und ich sage dir, daß ich das auch bei Krempel bezweifle. Menschen von euerm Optimismus neigen nur allzu leicht zur Selbsttäuschung. Ihr steht immer unter der Einwirkung des Moments.«

»Das heißt: wir sind charakterlose Schwächlinge. Hast du noch sonst etwas in unsern Steckbrief zu schreiben?«

Beate zuckte wieder mit den Achseln. »Ich verzichte. Ich will auch nicht mit dir streiten. Ich habe die Pflicht, ehrlich zu sein, und weiß, daß das gut ist. Und deshalb preise ich es als einen glücklichen Zufall, daß der Papa nach dir verlangt. Da wirst du Zeit zu ruhiger Überlegung gewinnen.«

Maxe schwieg eine kleine Weile. Ihre Stirn war verfinstert, das Auge dunkel. Es lag im Blick auch etwas wie Lust am Widerstand und Aufrufung zum Kampf. Sie biß die Lippen zusammen und drängte das Schluchzen zurück, das von neuem in ihrer Brust aufsteigen wollte.

Dann hob sie mit rascher Bewegung den Kopf. »Gut,« sagte sie fest, »ich werde gehorchen – schon, weil mir nichts andres übrigbleibt. Ich muß nachgeben: Papa hat das Recht, mich zu fordern. Er kann mich polizeilich requirieren lassen. Daß ich nicht aus freiem Willen zu ihm gehe, soll er hören: ich werde immer nur gezwungen bei ihm bleiben. Aber auch der Zwang wird mich nicht einschüchtern. Denn das, Beate, schwöre ich dir –«

»Nicht schwören!« rief Beate einfallend und mit einem Lächeln fröhlicher Fürsorge. »Des Meineids der Verliebten hat schon der alte Zeus gespottet. Schwöre nicht – es kann die Reue kommen. Warte ab und prüfe dich selbst. Liebes Kind –«

Sie vernahm, daß die Tür ging, und verstummte. Die Mutter lugte in das Zimmer.

»Habt ihr euch geeinigt?« fragte sie. Sie trat ein und merkte sofort, daß ihre Jüngste geweint hatte. Da fiel ihr der Gedanke an die in Aussicht stehende Trennung schwer auf das Herz, und sie begann zu zwinkern. »Ich sehe schon,« fuhr sie fort, »also Maxe ist es...«

Mutter und Tochter standen sich einen Augenblick schweigend gegenüber. In der einen war die Rührung groß, in der andern kämpfte ein Herzeleid. Dann umarmten sie sich, und es kamen wieder die Tränen.

»Mein Liebling,« sagte Frau von Göchhusen, »weine nicht,« aber ihr selbst rann das Wasser über die frischen Wangen, »sei doch verständig! Mir wird ja der Abschied auch so schrecklich schwer ... mein Trost ist nur, daß du bald wieder heimkommen wirst ...«

Sie fand liebe Worte, küßte Maxe und streichelte ihr Haar. Dazwischen klingelte es im Entree, und Beate wurde ungeduldig.

»Nun hört einmal auf,« sagte sie. »Ihr tut wirklich, als ob es sich um Tod und Leben handle ... Mein Gott, was auch gewesen sein mag: es ist doch unser Vater!«

Johanna trat ein und brachte zwei Visitenkarten.

Beate war neugierig und äugte auf die Blätter. »I sieh – der Herr von Emmingen!« rief sie.

»Ja,« entgegnete die Mutter und fuhr mit dem Taschentuch über ihr Gesicht, »Emmingen und euer Kommerzienrat Brökelmann. Gott, hat der Mann es eilig.«

Die beiden Herren waren von der Zofe in den großen Salon gelassen worden.

Brökelmann blieb einen Augenblick unweit der Tür stehen, als wünsche er eine Übersicht zu gewinnen. Emmingen lachte dazu.

»Ja,« sagte er, »es ist nicht so leicht, sich hier zurechtzufinden. Die gnädigsten Kinder pflegen dies Interieur den ›Irrgarten der Mutter‹ zu nennen. ... Fassen Sie einmal den runden Tisch vor dem Sofa schärfer ins Auge, geliebter Kommerzienrat. Das ist bei der Vestaflamme der Teemaschine der Sammelplatz der häuslichen Geistigkeit – man kann sagen: der Espritkollekteur der Göchhusens. Was darum lagert, sind Hemmnisse. Ich rate Ihnen: schwenken Sie rechts an der Hürde der beiden Fauteuils vorbei, lassen Sie das Hindernis des Mitteldiwans linksseitig liegen und versuchen Sie dann tapfer zwischen der Scylla und Charybdis des kleinen Glasschranks und der Palmengruppe durchzukommen. Ich glaube, daß Sie auf diese Weise ohne größere Fährlichkeit das Ziel erreichen werden.«

»Nein,« antwortete Brökelmann, »ich bleibe, wo ich bin. Der Eintritt der Hausfrau kann die Situation von neuem verschieben, und hier spüre ich wenigstens festes Land unter den Füßen. ... Also, Emmingen, wir sind uns klar über das, was wir wollen. Alle Willkür ist aufgehoben; wir steuern gleich der Gewißheit entgegen.«

»Nicht gleich, Brökelmann: ein Präludium muß sein, eine kurze Ouvertüre. Lassen Sie mich nur machen. Ich werde die Gelegenheit genügend vorbereiten, und wenn ich dann mein Taschentuch ziehe, setzen Sie ein.«

»Geben Sie mir ein andres Zeichen, lieber Emmingen. Das Taschentuch erinnert mich an Haremsgebräuche. Sie könnten auch vorher niesen und das Tuch zur Benutzung ziehen wollen. Irrungen dürften sich einschleichen.«

»Also schön. Ich werde die Nelke aus meinem Knopfloch nehmen, wenn ich den Zeitpunkt für gekommen erachte. Und dann schießen Sie los. Ich unterstütze Sie durch Kleingewehrfeuer, und wenn Sie die Festung genügend zerniert haben, laufe ich selber Sturm. Herrjeh, unsre Blumen!« rief er plötzlich.

Die hatte man im Korridor liegen lassen. Emmingen holte sie. Er hatte einen Strauß Gloire de Dijon gewählt, Brökelmann Rotschildrosen.

Sie hatten noch einige Minuten zu warten. Frau Magda mußte sich erst die Tränenspuren vom Gesicht waschen und ihre Toilette vervollständigen. Inzwischen stellte der Kommerzienrat allerhand ängstliche Fragen an Emmingen. Ihm war beklommen zu Mut.

»Sie ist doch vielleicht zu jung für mich,« sagte er. »Ehrliche Antwort, Legationssekretär: ist's nicht ein Wagnis?«

»Das ist jedwede Ehe, kalkulier' ich. Man läuft Illusionen nach. Manchmal auch seiner Eitelkeit. Oder einer romantischen Schnurre. Oder einer unwiderstehlichen Macht, die allerhand Masken trägt. Kommerzienrat, gucken Sie nicht so viel in den Spiegel. Sie sind wunderschön.«

»Ich verglich uns beide. Der Freiherrntitel wird mich auch nicht embellieren. Etwas Rustikales bleibt immer.«

»Das ist sehr vornehm. Es ist sozusagen Erdgeruch.«

»Ach Gott, Emmingen, machen Sie doch keine Witze! Wie ein Junker sehe ich nicht ans. Es ist lächerlich, aber ich schwöre Ihnen: ich habe Herzklopfen. Ich möchte am liebsten wieder nach Hause gehen.«

Da trat Frau Magda ein. Sie strahlte vor Liebenswürdigkeit und schlug die Hände zusammen, als sie die Rosenbüsche sah.

»Aber, meine Herren,« rief sie, »das ist ja der ganze Frühling! Sie verwöhnen mich ... Tausend Dank...« Sie roch an den Rosen.

»Die meinen sind Dijon,« sagte Emmingen. »Der Kommerzienrat wählte die Rotschildart. Aber gnädigste Frau mögen kein Symbol darin sehen.«

Frau von Göchhusen lachte. »Der ewige Spötter. ... Lieber Herr Kommerzienrat – nehmen die Herren doch Platz – lieber Herr Kommerzienrat, meine Töchter sind entzückt von der Aufnahme, die Sie ihnen in Zochin bereitet haben –«

»Meine gnädige Frau –«

»Sind ganz begeistert...« Und nun flogen die einleitenden Redensarten hin und her. Es wurde viel von Zochin gesprochen, von der Molkerei, von dem Denkstein für den Bernhardiner Montez, vom Schwielowsee und auch von Kleists Grab. Herr von Emmingen führte die Unterhaltung mit gewohnter Gewandtheit. Der Kommerzienrat war anfänglich stiller, stockte zuweilen und schaute Frau Magda, sobald sie sich abwandte, forschend und gleichsam vergleichend an, wurde ein wenig verlegen, wenn sie ihn direkt anredete, kam dann aber auch ins Fahrwasser der Gesprächsstoffe und plauderte munter mit. Das Thema glitt auf die verflossene Saison hinüber und auf die Sommerpläne, und von ungefähr war man wieder bei Zochin angelangt.

»Das ist das Hübscheste,« sagte Frau von Göchhusen, »ein Landsitz in unmittelbarer Nähe Berlins. Ich habe Zochin sehr vermißt – und die Kinder waren ganz unglücklich, als es verkauft wurde. Darf ich Sie auch einmal besuchen, Herr Kommerzienrat?«

Brökelmann flammte förmlich auf. »Aber gnädigste Frau,« rief er, »das würde mir eine besondere Ehre sein! Quartieren Sie sich mit den Fräulein Töchtern bei mir ein: das Haus ist ja groß genug – viel zu groß für einen einsamen Menschen wie mich.« »Sehr liebenswürdig – aber eine ganze Invasion könnte doch unbequem werden. Nein, nein – ich will nur einmal wieder einen Blick in das liebe alte Nest werfen – meine Kinder haben mir erzählt, daß Herrenhaus und Park fast unverändert geblieben sind. ... Denen haben Sie wirklich eine große Freude bereitet, Herr Kommerzienrat – namentlich Beate kam förmlich aufgeregt zurück und schwärmte mir die Ohren voll...«

Nun begann Emmingen wie in gleichgültigem Spiel der Finger die weiße Nelke, die er im Knopfloch trug, herauszuziehen. Brökelmann wurde ein klein wenige unruhig, fuhr mit der rechten Hand durch die Luft und erwiderte:

»Gar zu gütig, gnädige Frau. Die jungen Damen nahmen so regen Anteil an meinem Unternehmen ... ja apropos, Fräulein Beate erzählte mir auch, daß Sie dem Molkereiwesen besonderes Interesse entgegenbrächten. Das ist ja nun meine Spezialität, und wenn Sie mir die Ehre Ihres Besuches schenken, kann ich Sie mit allen Neuerungen auf diesem Gebiete bekannt machen. Ich möchte mir dann aber vorzuschlagen erlauben, daß Sie zunächst einmal mein städtisches Geschäft besichtigen, das sich geschlossener und doch umfassender präsentiert als die Anlagen in Zochin.«

»Das tue ich sehr gern, Herr Kommerzienrat,« erwiderte Magda, »obwohl ... nun ja, Interesse nimmt man naturgemäß an allem Zeitgemäßen von Bedeutung. Aber Beate hat da wohl etwas übertrieben. Sie ist selber so aufnahmefähig allem Belehrenden gegenüber –«

»Ja, das ist sie,« fiel Emmingen lebhaft ein, »sie hat eine seltene Energie des Wesens und dringt allen Dingen gern bis auf den Urgrund, bis auf die Quelle. Ich bemerkte das gestern im Laboratorium – – es steckt eine unversiegbare Frische in ihr, ein Streben nach innerer Wirklichkeit...«

Er schwenkte die weiße Nelke hin und her.

Dem Kommerzienrat schien diese Bewegung unangenehm zu sein. Ein rascher Zug des Mißmuts ging über sein Gesicht, und während seine Hand wieder durch die Luft strich, näherte sich sein rechter Fuß dem linken Emmingens.

»Zweifellos,« entgegnete er dabei mit gefälligem Lächeln, »jawohl, so ist es ... Wissen Sie übrigens, gnädigste Frau, daß ich in letzter Zeit häufiger von Ihnen sprechen konnte? Ich habe einen alten Freund, den auch Sie gelegentlich kennengelernt haben: den langen Pastor Warmuth. Ich bin mit ihm in Insterburg auf der Schule gewesen – ein prächtiger Mensch, etwas Sonderling, aber von sympathischer Eigenart und doch auch eine Kapazität – das kann man wohl sagen ...« Und er erzählte, dann und wann durch Frage und Einwurf von Frau von Göchhusen unterbrochen, weiter von dem langen Warmuth und seinem immer zu kurzen Talar, von seiner Orchideenzucht und seiner hymnologischen Sammlung, indes Herr von Emmingen den Ausdruck verwunderter Enttäuschung kaum noch zu verbergen vermochte.

In der Tat: Herr von Emmingen war etwas konsterniert und verstand seinen Mitverschwörer bei dem geplanten Herzensüberfall nicht recht. Noch einmal wurde im Laufe des Gesprächs Beates erwähnt, und wieder hob der Legationssekretär die weiße Nelke, um sie hierauf mit rascher Gebärde an ihren alten Platz zu stecken.


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